Ein riesiger Vorsprung für Reker, ein spannendes Rennen im Stadtrat – und Verkehr als eines der großen Probleme der Stadt: Zu diesen Ergebnissen kommt eine aktuelle Umfrage in Köln.
Jörg Schönenborn ist Wahlexperte der ARD und analysiert und interpretiert regelmäßig Umfragen und Wahlergebnisse.
Er ordnet die Ergebnisse der Umfrage in Köln ein. Welche Rolle spielt Corona? Und warum liegt Henriette Reker so weit vorne?
Herr Schönenborn, mitten in der Corona-Krise und angesichts anhaltender Debatten über die schulische Bildung oder die Sicherheit landet das Thema Verkehr auf der Problemliste der Kölnerinnen und Kölner ganz oben. Wundert Sie das?Jörg Schönenborn: Der landesweite Blick hilft einem hier auf die Sprünge: In pulsierenden Großstädten wie Köln, Düsseldorf, Aachen oder Bonn sind die Verkehrsprobleme am drängendsten. Wo es Wirtschaft und Gesellschaft nicht so gut geht, drängt anderes als die Verkehrspolitik in den Vordergrund. Man könnte es auch so sagen: Wenn der Verkehr das Problem ist, das die Bewohnerinnen und Bewohner einer Stadt oder Region am meisten umtreibt, spricht viel dafür, dass es ihnen vergleichsweise gut geht.
Und Corona?
Die Ausschläge in den Kurven wären im März oder April sicher anders gewesen. Inzwischen gibt es einen Gewöhnungseffekt im Alltag. Wir haben uns auf die Krise eingestellt und unser Verhalten eingeübt. Zum anderen findet auf der kommunalen Ebene ja kein politischer Wettbewerb etwa um den besten Impfstoff statt. Corona ist – anders gesagt – kein Thema für den Kommunalwahlkampf und beeinflusst die Wahlentscheidung kaum.
Spannend finde ich, wie starke Persönlichkeiten ihre Partei in der Wählergunst mitziehen können. Besonders erstaunlich ist das in Essen. Dort hat es die CDU von OB Thomas Kufen an die Spitze des Bewerberfelds geschafft – und Essen ist strukturell sicher keine CDU-Stadt. In Köln wird dieser Effekt natürlich weitgehend dadurch neutralisiert, dass OB Henriette Reker parteilos ist und von einem parteiübergreifenden Bündnis aus CDU und Grünen unterstützt wird. Aus SPD-Sicht wiederum ist es ernüchternd, dass die Aufstellung des Kanzlerkandidaten Olaf Scholz keinerlei Auswirkung auf die politische Stimmung zeitigt. Das schlägt auch auf die Behauptungskraft der SPD-Oberbürgermeister in ihren Kommunen durch. Und das in einem Land, das früher einmal – idealtypisch gesprochen – glatt zwischen der SPD an Rhein und Ruhr und der CDU in den anderen Regionen aufgeteilt war.
Wie beurteilen Sie den 61-Prozent-Stimmenanteil, den die Umfrage für Henriette Reker vorhersagt?
Der Wert ist erstaunlich. Politische Arbeit und persönliche Sympathie spielen auf der kommunalen Ebene eine große Rolle. Da hat Frau Reker bei den Kölnerinnen und Kölnern einen Bonus. Sie ist zudem eine von nur zwei Frauen an der Spitze einer Großstadt oder eines Landkreises in NRW. Dieser Frauenmangel – aufseiten der Amtsträger, wie auch auf allen Kandidatenlisten - im Land ist im Übrigen etwas, was nicht nur den Parteien, sondern der ganzen Gesellschaft sehr zu denken geben sollte.
Welche Folgen hat der hohe Anteil der Briefwahl?
Die Quote der Briefwählerinnen und -wähler steigt seit Jahren. Aber die Kommunalwahl steht wegen Corona noch stärker unter dem Vorzeichen dieses veränderten Wahlverhaltens. Jetzt kommen Wählerinnen und Wähler hinzu, die ihre Kreuzchen noch nie zu Hause gemacht haben. Ich bin sicher, dieser Trend hält an. Wem das nützt, ist schwer zu sagen.
35 Prozent der Wahlberechtigten in Köln sagen, Sie blieben der Stadtratswahl fern oder seien unentschlossen. 32 Prozent geben das für die OB-Wahl an. Im Umkehrschluss bedeutete das eine Wahlbeteiligung von fast zwei Dritteln – zu hoch, um wahr zu sein?
Das wäre zu hoch gegriffen. Die Wahlbeteiligung vorab zuverlässig zu erfragen, ist unmöglich. Die bekannten Werte sind eher ein Indiz dafür, dass es bei Kommunalwahlen in der Regel mehr Desinteressierte gibt als bei einer Bundestags- oder Landtagswahl. Ich bin aber generell nicht sehr pessimistisch. Die Bürgerinnen und Bürger haben am 13. September wieder die Gelegenheit, ihre Stadtoberhäupter zusammen mit den Kommunalparlamenten zu wählen. Gerade die letzten Monate haben den Menschen gezeigt, dass es da um etwas geht. Denken Sie an die Ausstattung der Schulen, der Kitas, Regulierung des Verkehrs, Vorgaben für Wochenmärkte und ähnliches! Ein Faktor ist sicher auch die Frage, wie offen der Wahlausgang ist. Das muss man zum Beispiel in Köln berücksichtigen. Für die OB-Wahl sieht es nach einer klaren Sache für Henriette Reker aus.
Bei der Stadtratswahl liegen drei SPD, Grüne und CDU gleichauf.
Mindestens so interessant wie der Zieleinlauf wird die Frage werden, welche Mehrheiten möglich sind und wer mit wem koaliert. Insgesamt glaube ich: Eine Kommunalwahl ist die größte Chance, die Wählerinnen und Wähler haben. Nirgends sonst können sie so konkret das politische Spitzenpersonal mitbestimmen und Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, die ihr Leben unmittelbar betreffen.
Wie bewerten Sie den prognostizierten Stimmenanteil der AfD?
Bei einer Kommunalwahl hat man eine größere Zahl von Ventilen, weil es die Fünf-Prozent-Hürde nicht gibt und somit auch die kleinen Parteien in den kommunalen Räten vertreten sind. Trotzdem bestätigt sich die Erkenntnis vergangener Wahlen: Die AfD wird nicht für ein Programm gewählt, sondern als Ausdruck des Unmuts und des Protests.
Die Frage nach Zufriedenheit mit den Lebensbedingungen vor Ort führt dann aber zu Traumergebnissen von weit mehr als 80 Prozent in vielen Großstädten. Geht es den Menschen gefühlt besser, als manch hitzige Diskussion es vermuten lässt?
Bei genauem Hinschauen zeigen sich schon gravierende Unterschiede. Befragte äußern sich ganz gern mal „zufrieden“. Das bewegt sich so schön im Bereich eines allgemein-unverbindlichen Wohlbehagens. Deshalb ist die Aussage „sehr zufrieden“ manchmal der bessere Indikator, wie es tatsächlich um die Stimmung bestellt ist. Und hier ist die Streuung in den NRW-Städten sehr groß: In Münster sind 45 Prozent sehr zufrieden, in Duisburg nur acht. Köln liegt mit einem 18-Prozent-Anteil im Mittelfeld.