In der neuen Boris-Becker-Doku wird wenig ausgelassen. Sie ist sehenswert – und entlarvend.
Frauen, Sucht, Geld-ProblemeSo entlarvend ist die neue Doku über Boris Becker
Vielleicht beschreiben Günther Bosch und Lilian de Carvalho Monteiro Boris Becker am treffendsten. Am Ende, sagt Ex-Trainer Bosch, sei es nie um den Gegner gegangen, Boris Beckers härtester Gegner sei immer Boris Becker selbst gewesen. Und Beckers aktuelle Freundin sagt: Um ein Champion zu sein, müsse man fest daran glauben, dass man unbesiegbar sei. „Und das bringt einen wohl auf eine Ebene, auf der man denkt, man sei auch im wirklichen Leben unantastbar. Aber so ist es nicht.“
Boris Becker löste Tennis-Hype in Deutschland aus
Beide, Bosch und de Carvalho Monteiro, Beckers Vergangenheit und seine Gegenwart, sind Teil von „Boom! Boom! The World vs. Boris Becker“. Die Doku von Filmemacher Alex Gibney, ab Karfreitag bei Apple TV+ zu sehen, ist ein 224 Minuten langer Versuch, sich dem Mann zu nähern, der als 17-Jähriger Wimbledon gewann und Geschichte schrieb, der zur Legende wurde und in Deutschland einen Tennis-Hype ausgelöst hat, wie es ihn davor und danach nicht gab. Es ist die Geschichte eines Mannes, der sportlich irrsinnig erfolgreich war, aber auch die Geschichte von Größenwahn, einem XXL-Ego, von falschen Entscheidungen und schlechten Beratern. Und es ist die Geschichte des tiefen Falls von Boris Becker.
Dabei wollte Regisseur Alex Gibney, der schon Dokumentationen über James Brown, Steve Jobs, über Scientology und über Julian Assange gedreht hat, eigentlich ein ausgelassenes Porträt des sportlichen Giganten Becker drehen. Doch die Wirklichkeit – Insolvenz, Anklage wegen Insolvenzvergehen, Verurteilung zu zweieinhalb Jahren Haft – änderte alles. Ein purer Lobgesang auf den großen Sportler wäre unglaubwürdig gewesen.
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So hat Gibney den Tennisstar also 2019 interviewt und 2022, wenige Tage vor dessen Verurteilung in London zu zweieinhalb Jahren Haft. Das bedeutet aber auch, dass Becker nicht zu seinen Haft-Erfahrungen befragt wurde – schräg, aber wahr. Doch Becker sprach an anderer Stelle darüber. Uraufgeführt wurde die Doku bei der Berlinale in diesem Jahr.
Doku für Tennis-Freunde, aber auch für Klatsch-Liebhaber
So viel vorab: „Boom! Boom! The World vs. Boris Becker“ ist für jeden, der sich jemals auch nur einen Hauch für Tennis und/oder den ganzen Zirkus drumherum interessiert hat, sehenswert. Der erste Teil der Doku, der mit „Triumph“ überschrieben ist, ist eine einzige große Tennis-Zeitreise. Gibney zeigt Becker als Kind auf dem Tennisplatz, als Jugendlicher, zeigt viele Spielszenen der ganz Großen dieser Zeit, Ausschnitte aus alten Interviews.
Björn Borg, John McEnroe, Mats Wilander, Michael Stich, sie alle sind Teil der Doku geworden, und es ist rührend zu sehen, wie gut sie sich kennen und mit wie viel Respekt sie voneinander bzw. von der Leistung des anderen sprechen. Gibney inszeniert die großen sportlichen Duelle, auch musikalisch, wie einen Western, und selbst, wer sich um kritische Distanz bemüht, wird hineingesogen in die Spannung dieser Partien und in das Gefühl dieser Zeit, als Tennis DAS Ding war.
„Boom! Boom! The World vs. Boris Becker“ ist übrigens aber auch etwas für alle, die weniger Beckers sportliche Leistungen verfolgt haben und dafür öfter seine privaten Ausreißer.
Adolf Hitler, Wiedervereinigung, Boris Becker – diese Themen gingen immer
Gibney zeichnet mithilfe alter Interviews, Zeitungsausschnitte, TV-Berichte nach, wie Becker in Deutschland als Rockstar gefeiert wurde, zeigt, wie aus wenigen an der Person Becker interessierten Journalisten praktisch über Nacht sehr viele wurden. Über Boulevardjournalismus habe er in dieser Zeit gelernt, sagt Becker, dass drei Themen immer gingen: Adolf Hitler, die Wiedervereinigung und Boris Becker.
Das Publikum liebte das emotionale Spiel von Becker, der wie ein Gegenentwurf des sehr kühlen Ivan Lendl daherkam. „Computer-like“, so nennt Becker in der Doku Lendls Verhalten auf dem Platz – er habe nicht mit dem Publikum gespielt, keine Emotionen gezeigt. Ganz anders Becker, der oftmals sein Innerstes nach außen kehrte, der die Menschen an sich heranzulassen schien.
Becker wurde frenetisch für seine Erfolge gefeiert, jeder seiner Schritte wurde genau beobachtet und kommentiert – beruflich wie privat. Deutsche Zeitungen thematisierten ausgiebig, von ekelhaft bis kitschig, die Romanze zwischen Boris Becker und Barbara Feltus, und es war, als hätte in Deutschland jeder das Recht auf ein Stückchen Becker, nur weil man da einem jungen Mann mit einem sehr publikumswirksamen Job beim Erwachsenwerden zusehen konnte.
Und das war gleichzeitig das Problem. Wenn Becker Matches verlor und mit sich haderte, konnte es ebenfalls jeder sehen. Wenn er Stress mit seinem Trainer oder Manager hatte, konnte es jeder sehen. Gleiches galt für Frauengeschichten, für Wohnortwechsel, oft auch für Investments. Becker liebte die große Bühne und hasste sie gleichzeitig. Das ist eine der Becker-Ambivalenzen.
Boris Becker erzählt von Schlaftabletten, Seitensprung, Ehe-Aus
Teil zwei zeigt noch mehr dieser Ambivalenzen. Er befasst sich mit dem Abstieg des Tennis-Gotts. Becker erzählt in der Doku von schmerzhaften Niederlagen wie die 1991 im Wimbledon-Finale gegen Michael Stich, vom Ende seiner aktiven Karriere und warum er nach einem Sieg aufhören wollte. Er erzählt vom Scheitern seiner Ehe mit Barbara Becker und dem Rosenkrieg, den die beiden in Miami ausgefochten haben, vom Seitensprung mit Angela Ermakova, davon, dass er süchtig nach Schlaftabletten gewesen sei. Er erzählt von Lilly Kerssenberg und davon, wie auch diese Beziehung auseinandergebrochen ist. Er berichtet von üblen Business-Entscheidungen, davon, den falschen Leuten vertraut zu haben, gutgläubig gewesen, aber auch von dem Gefühl, falsch verstanden worden zu sein.
Es ist merkwürdig: Becker sagt immer wieder, er übernehme – privat wie wirtschaftlich - Verantwortung, er sagt, er sehe seinen Anteil in allem und stelle sich. Und doch macht er in diesen 224 Minuten sehr oft den Anschein, als sei ihm alles nur geschehen, als wäre ihm das Leben so passiert, als hätte er die Hände nicht am Steuer gehabt. Beckers Habitus ist über weite Strecken: Ich habe doch immer alles versucht, um die Dinge klar zu ziehen, um alles richtigzumachen. „Why me again?“ und „What did I do?“, fragt er, die Hände erhoben, die Augen rotverweint. Ratlos. Verzweifelt.
Erwachsen ist Boris Becker nie geworden
Dabei ist, wenn man es mal runterbricht, einigermaßen klar, was passiert ist: Becker hat nie gelernt, vernünftig mit Geld und Ruhm umzugehen. Er hat sich bequatschen lassen von windigen Geschäftsmännern, er hat auf die falschen Leute gehört. Becker hat sich davontragen lassen vom Rausch des Ruhms; er hat sich auf eine Affäre eingelassen, die ihn seine Ehe kostete, und indem er Barbara jetzt vorwirft, immer wieder den Joker „Seitensprung“ in Streits zu spielen, gibt er ihr sogar indirekt die Schuld dafür. Becker hat Unmengen von Geld ausgegeben, das er längst nicht mehr verdient hat. Und zum Schluss: Becker war unehrlich über seine finanziellen Verhältnisse, was ihn ins Gefängnis gebracht hat.
„Boom! Boom! The World vs. Boris Becker“ ist unterhaltsam, spannend, gut gemacht, inhaltlich leicht löchrig, weil Details über eine wichtige Episode fehlen, und bisweilen etwas überdreht – fliegende Federn oder leuchtende Kerzen hätte es nicht gebraucht. Doch sie fesselt.
Und sie zeigt, wie verführerisch und ungesund es für einen Menschen sein kann, so früh derartigen Ruhm zu erreichen, der Held eines ganzen Landes zu werden. Sie zeigt aber auch: Zum Erwachsensein gehört es, sich selbst zu konfrontieren, sich seine Schwächen und Fehler einzugestehen, keine Lebensgeschichte zusammenzubasteln, weil sie schöner klingt, keine Ausreden zu erfinden, wenn man Mist gebaut hat.
Boris Becker ist wohl doch nie erwachsen geworden.
„Boom! Boom! The World vs. Boris Becker“, ab 7. April beim Streamingdienst Apple TV+ abrufbar