Die Aktionen der „Letzten Generation“ sind in der Geschichte des Protests nichts Neues. Die englischen Suffragetten waren radikaler. Ein Gastbeitrag von Karl-Heinz Göttert.
Die historischen Vorbilder der „Letzten Generation“Kann gewaltfreier Protest Erfolg haben?
Vor kurzem haben sie es angekündigt: Die Aktivisten der „Letzten Generation“ wollen heute ihre „Störungen“ ausweiten. Darüber gibt es eine hitzige Debatte politischer, moralischer, juristischer Art. Vielleicht dient ein Blick in die Vergangenheit der Besinnung. Muss Störung sein? Ist sie etwas Neues? Waren Vorgänger erfolgreich?
Um es zunächst in einen größeren Rahmen einzuordnen: Seit es in Europa und der Welt Nationalstaaten mit monarchischen, demokratischen oder diktatorischen Regierungen gibt, gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten des Aufbegehrens jenseits von Parlamenten oder Kabinetten. Die eine liegt in der gewaltsamen Revolution, die andere in der friedlichen Demonstration. Für beides existieren lupenreine Beispiele.
Die SPD ging im 19. Jahrhundert auf „Spaziergänge“ mit Regenschirmen
Klarheit herrscht etwa bei den Ereignissen in Frankreich 1789. Weniger bekannt sind die endlosen Demonstrationszüge, die die „Sozialisten“ im 19. Jahrhundert bei uns veranstalteten, um Mitbeteiligung an der Politik zu erreichen. Die damalige SPD hat alles dafür getan, den friedlichen Charakter zu wahren, um eben nicht als Revolutionäre zu gelten. Straßenbahnschienen wurden freigehalten, sogar das Betreten des Rasens war verboten. Auf verweigerte Erlaubnis reagierte man mit „Spaziergängen“ und empfahl, Zigarren zu rauchen und Regenschirme (Hongkong lässt grüßen) mitzuführen.
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Aber es blieb nicht bei lupenreinen Beispielen. Immer wieder bemerkten Akteure das Vergebliche ihres Tuns und drängten auf wirkungsvollere Methoden. Damit war gemeint: Anwendung von Gewalt. In Deutschland führte das 1918 zu einer (relativ gemäßigten) Revolution. Aber es führte auch zu Differenzierung von Gewalt, Unterscheidung von Gewalt gegen Menschen und gegen Sachen, sozusagen die Erfindung schwacher, „friedlicher“ Gewalt.
Kampf der Frauen um Gleichberechtigung ähnelt den Aktionen der „Letzten Generation“
Ein Beispiel, das den Aktivitäten der „Letzten Generation“ besonders nahekommt, ist der Kampf der Frauen um Gleichstellung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Er wurde in Europa und den USA ausgetragen und führte auch zum Erfolg: in Finnland 1906, in Deutschland 1918, in den USA 1920, in Großbritannien 1928 (1918 die Frauen über 30), in Frankreich 1944, in der Schweiz 1971. Es kam dabei zu unterschiedlichen Protestformen, auch schon zu Experimenten mit erheblicher Gewalt. Dafür stehen besonders die englischen Frauenrechtlerinnen, die sogenannten Suffragetten (wörtlich: „Zerbrecherinnen“).
Eine der Wortführerinnen war Emmeline Pankhurst, die – zusammen mit ihren Töchtern Christabel und Sylvia – 1903 die Women’s Social and Political Union gegründet hatte. Der Erfolg blieb jedoch aus. Als die Polizei 1912 eine Protestkundgebung im Londoner Hyde Park mit über 100.000 Teilnehmerinnen gewaltsam auflöste, zog man zur Downing Street Nr. 10, wo Emmeline Pankhurst mit einem gezielten Steinwurf eine Fensterscheibe einschlug.
Emmeline Pankhurst beschrieb mäßige Gewalt als wirkungsvoller
Es war die Wende hin zu neuen, gewalttätigeren Aktionen. 1912 zertrümmerten Frauen nach einer Kundgebung mit Hämmern Schaufensterscheiben, verätzten Rasenflächen mit Säure und zündeten leerstehende Sommerhäuser in Brand. Auch Kunstvandalismus kam vor, wie beim Zerschneiden von Velásquez Gemälde „Die Venus vor dem Spiegel“ in der Londoner Nationalgalerie, um gegen die körperliche „Zerstörung“ von Emmeline Pankhurst im Gefängnis zu protestieren.
Eine Eskalation also, die Pankhurst selbst verurteilte und in ihrem Aufruf „Seid bereit!“ zu kanalisieren versuchte: Gewalt ja, aber keine „unnötig starke“. Dann liest man: „Wenn das Argument des Steinewerfens, dieses historisch ehrwürdige, offizielle politische Argument genügt, dann werden wir niemals stärkere Argumente anwenden...“ Weiter: „Wir haben es lange (gemeint: anders, friedlicher) versucht“ – aber Steinewerfen und Fenstereinschlagen „brachten eben größere Fortschritte“.
Auf dieser radikalen Linie agierten andere anders. Emily Wilding Davison drang 1909 ins Unterhaus ein, um den Premierminister zu sprechen, erhielt einen Monat Gefängnis, später weitere Arreste, weil sie die Rede von Politikern störte. Mit dem Wahlspruch „Rebellion gegen Tyrannen ist Gehorsam gegenüber Gott“ zündete sie Briefkästen an, was auf der Stelle Nachfolgerinnen fand.
Friedliche Formen des Protests und Revolutionen
Es gab jedoch weiterhin friedliche Formen des Protests. Am 3. März 1913 organisierten in Washington Frauenrechtlerinnen die Woman's Suffrage Procession, mit Beteiligten aus aller Welt, die in ihren jeweiligen Abteilungen vom Kapitol zum Finanzministerium zogen. Nur der Tag war nicht ohne Hinterlist gewählt: die Amtseinführung des neu gewählten US-Präsidenten Woodrow Wilson, bei dem Vertreterinnen der Frauenbewegung mit ihrem Anliegen auf taube Ohren gestoßen waren (woraufhin Wilson bei seiner Paradefahrt auf leere Straßen stieß). Nicht der Zug führte zum Skandal, sondern die Anpöbelungen des männlichen Publikums, wogegen angesichts der überforderten Polizei Militär herbeigerufen werden musste.
Es gab also beides: lupenreine Revolutionen und lupenreine Demonstrationen, daneben aber auch etwas Neues, nämlich die Diskussion um Formen von Gewalt, Formen unterhalb der undiskutablen körperlichen, aber oberhalb der rein pazifistischen. Letztlich beruht diese Art der „Dehnung“ von Gewalt darauf, dass gegen große Gefahren Widerstand nötig (besser: verhältnismäßig) erscheint, um Aufmerksamkeit zu erregen. Bei Demonstrationen ist es der Körper allein, den die Mitziehenden als Argument einsetzen. Bei Aktionen wie im Falle des Wahlrechts und heute beim Kampf ums Klima kommen Attacken hinzu, die von den Ausführenden als symbolisch, von Beobachtern und vor allem Betroffenen als gewalttätig empfunden werden.
Es ist sehr die Frage, was wirklich zum Erfolg führt oder was diesen Erfolg womöglich schwächt. Beim Wahlrecht könnten es mehr als die Attacken Erfahrungen wie die gewesen sein, dass die Frauen im Ersten Weltkrieg zuhause ihre Gleichberechtigung unter Beweis stellten. Jedenfalls ist der Sekundenkleber nichts prinzipiell Neues. Er ersetzt lediglich zerstörte Fenster durch Störung dessen, was das Problem mitverursacht: den Autoverkehr. Aber bewirkt es das erhoffte Umdenken wirklich eher als friedliches Demonstrieren?
Zu Autor und Buch
Karl-Heinz Göttert, Jahrgang 1943, ist emeritierter Professor für Ältere Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Köln und unter anderem als Kirchenmusiker und Orgelexperte tätig. Er ist Autor zahlreicher erfolgreicher Sachbücher, „Mythos Redemacht“ war 2015 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Zuletzt erschienen von ihm „Der Rhein“ (2021) „Als die Natur noch sprach“ (2019), „Deutsche Sprache. 100 Seiten“ (2017, allesamt bei Reclam).
Am 22. Februar erscheint Götterts neues Buch: „Massen in Bewegung. Über Menschenzüge“, Die Andere Bibliothek, 436 Seiten, 44 Euro.