- Das Musikleben ist komplett zum Erliegen gekommen, keine Proben, Konzerte, kein Publikum mehr.
- Das Versammlungsverbot trifft Theater- und Konzertveranstaltungen besonders hart, weil es hier essenziell ist, dass Aufführende und Publikum gemeinsam etwas teilen.
- Wir haben mit Generalmusikdirektor François-Xavier Roth gesprochen, der trotzdem zuversichtlich die nächste Saison geplant hat.
Köln – Mit Zuversicht hat das Kölner Gürzenich-Orchester seine nächste Spielzeit geplant. Generalmusikdirektor François-Xavier Roth gab darüber per Video-Interview Auskunft: „Was wir heute erleben ist eine Katastrophe. Ich hätte mir nicht vorstellen können, so etwas auch nur einen Tag lang zu erleben. Das ist das Diktat des Virus.“
Doch für die Zeit nach Corona sieht der Dirigent auch Chancen: „Danach wird es nicht mehr so wie bisher weitergehen. Für den Kulturaustausch sind Reisen zwar wichtig, aber extreme Mobilität müssen wir hinterfragen. Ich selber spüre, dass ich zum Musizieren Menschen aus meiner Nähe brauche. Auch was und wie wir etwas machen, wird vielleicht noch fokussierter sein, besonders mit Sinn und Intensität geladen.“
Béla Bartók als Leitfigur
Seit Beginn seiner Amtszeit geht es Roth auch um die Geschichte des Orchesters, das in der Vergangenheit Werke von Mendelssohn, Schumann, Brahms, Mahler und Richard Strauss uraufführte und stets Teil der Stadtgesellschaft war. Mit Orchester und Oper Köln verbunden ist auch Béla Bartók, der die kommende, im September 2020 beginnende Spielzeit mit acht Werken prägen wird.
Seine Pantomime „Der wunderbare Mandarin“ wurde 1926 uraufgeführt und rief im hillije Kölle als „grässliches Huren- und Gaunerstück“ einen Skandal hervor: „Die dortige Verbindung aus Musik, Tanz, Kostümen und einer Geschichte ist eine Hymne auf das Unsaubere, Erotische, Subversive“, so Roth. „Das war damals schockierend und muss heute schockierend bleiben. Wenn wir nur den kräftigen symphonischen Apparat und die körperlich gesunde Musik hören, reicht das nicht. Es muss schmutzig und wild klingen und in den Bauch fahren.“
Neue Konzertreihe „Offbeat“ an neuen Spielstätten
Mehr als die Historie interessiert Roth die heutige Strahlkraft Bartóks als Europäer: „Dieser Komponist hat eine sehr breite Kultur, er kennt keine Hierarchie zwischen Volks- und Kunstmusik, auch verbindet er ethnographische Recherche und Avantgarde. Das ist unglaublich inspirierend.“ Dieser Impuls soll auch verschiedene Szenen der Stadt zusammenbringen: „Wir spielen etwas von Bernhard Gander, einer der interessantesten Komponisten unserer Zeit, ein Wiener und Europäer.
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In seinem Stück »Melting Pot« treffen verschiedene Genres und Künstlerprofile zusammen, Punk und Hardrock, Rapper, Discjockey, Poetry-Slam, Breakdance: Dieses Konzept kennt auch keine Hierarchie, es ist wie Bartók!“ Ganders Stück eröffnet die neue Konzertreihe „Offbeat“, bei der sich Orchestermusiker auch an Spielstätten außerhalb der Philharmonie mit anderen Szenen verbinden, etwa mit Jazz und Improvisation.
Sämtliche Bruckner-Symphonien bis 2024
Neben Bartók stehen zwei weitere ungarische Komponisten auf dem Programm. Peter Eötvös wird erstmals das Orchester dirigieren, neben Werken von Varése und Xenakis auch sein eigenes Violinkonzert „Alhambra“, gespielt von Isabelle Faust, sowie die deutsche Erstaufführung seines „Sirenʼs Song“. Hinzu kommt ein neues Werk des 1975 geborenen Martón Illés.
Erstmalig wird ein Residenzkünstler eingeladen: Der 1949 geborene polnisch-amerikanische Pianist Emanuel Ax soll von Mozart und Brahms Klavierkonzerte sowie Kammermusik spielen. „Auch er ist eine Bartók-Figur“, so Roth. „Er hat viele verschiedene Kulturen in seinem Spiel. Bartók prägt die neue Spielzeit also nicht nur mit Werken, sondern auch als eine Philosophie.“
Bis zum 200. Geburtstag Anton Bruckners im Jahr 2024 wird das Gürzenich-Orchester dessen sämtliche Symphonien aufführen. Die 4. und 5. Symphonie erklingen in Kombination mit Michael Jarrells „4 Eindrücke“ für Violine und Orchester und einem neuen Konzert für Klangwerk und Orchester von Georg Friedrich Haas. Der Titel der Reihe „Bruckner, der Moderne“ ist als Provokation gemeint, weil dieser Komponist sonst eher als das Gegenteil wahrgenommen wird.
„Drei sind immerhin besser als nichts“
„Wenn bei Bruckner aber“, so Roth, „eine Harmonie lange liegt oder tremoliert wird, dann entfaltet das Obertöne, die mich an die Spektralmusik des 20. Jahrhunderts erinnern. Auch seine Veränderungen der Formen sind modern. Seine Musik hat Traditionelles und Unbekanntes. Sie ist wie ein großes Fragezeichen.“
Die gesamte Gürzenich-Saison bietet lediglich drei Werke von Komponistinnen. „Da kann man mehr machen, ja. Wir haben das Thema aber im Kopf und sind dem sehr positiv gegenüber. Drei sind immerhin besser als nichts. Dasselbe gilt für Dirigentinnen.“
Zwischen Alexander Skrjabins „Prométhée“ und Richard Strauss’ „Zarathustra“ wird sich „Fairtrade“ der jungen Londoner Komponistin, Cellistin und Singersongwriterin Ayanna Witter-Johnson behaupten, da ist sich Roth ganz sicher: „Sie ist eine unglaubliche Künstlerin, hat keine Angst, provoziert, und ihr Stück ist superstark. Ich finde es toll, dass zwischen den beiden Giganten dann eine junge Frau von heute auftritt, die laut sagt, dass Grenzen sie nicht interessieren.“