- Die Kölner Blockflötistin Dorothee Oberlinger hat wie alle Künstler unter der Corona-Krise zu leiden.
- Sie könne sich glücklich schätzen, einen Lehrstuhl am Mozarteum in Salzburg zu haben. Aber sie kenne Kollegen, die schon Instrumente verkaufen mussten, um über die Runden zu kommen.
- Es gebe zwar Soforthilfen für freischaffende Musiker: „Aber die greifen meist nicht, weil sie an der Lebensrealität vorbeigehen.”
Frau Oberlinger, wie geht’s Ihnen in der Corona-Krise?
Als freischaffende Musikerin geht es mir so wie wohl den meisten meiner Kollegen: Ich hatte bis vor kurzem kaum Konzerte. Ich kann mich aber glücklich schätzen, dass ich noch einen Lehrstuhl am Mozarteum in Salzburg habe. Ohne den würde es schon anders aussehen, und ich kenne tatsächlich einige, die sehr gut im Geschäft waren und denen es an die Existenz geht.
Wie kurz müssen die treten?
Es gibt praktisch keine Ausfallhonorare. Bei mir sind knapp 30 Konzerte seit März ausgefallen, und ein einziger Veranstalter hat gezahlt. Wer aber darauf angewiesen ist, bei dem geht es richtig an die Substanz. Ich kenne Leute, die schon Instrumente verkaufen mussten, um über die Runden zu kommen. Oder sich Geld bei Freunden oder Verwandten leihen. Der Lockdown kam ja für uns alle völlig überraschend, jeder hatte doch gedacht: Es läuft immer so weiter. Jetzt müssen viele Freiberufler, nicht nur die Musiker, an ihre Reserven gehen, und die sind irgendwann aufgebraucht.
Was ist mit den staatlichen Hilfen?
Es gab und gibt Soforthilfen für freischaffende Musiker, aber die greifen meist nicht, weil sie an der Lebensrealität vorbeigehen. Der Staat kommt nicht für die Wohnungsmiete oder den Unterhalt auf. Aber das ist genau der Punkt, wo es dann brennt. Es gibt Länder – die Niederlande oder Frankreich –, die damit anders umgehen und wo es Absicherungen gibt, die sofort und unbürokratisch greifen. Man sollte so etwas auch hier einführen, denn die Leute haben oder hatten ja auch eine Art Arbeitsverbot – es ist nicht so, dass sie nicht arbeiten wollen. NRW ist da übrigens im Vergleich zu anderen Bundesländern noch ganz gut dran: Da gibt es Sofortprogramme, Stipendien, um die man sich bewerben kann – trotzdem natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Soloselbständige Musiker haben sich nie großartig organisiert, die stehen jetzt ziemlich schutzlos da und fangen gerade erst an, eine gemeinsame Stimme zu finden.
Angenommen, die Corona-Krise ist eines Tages vorüber. Wie steht dann die klassische Musikszene da?
Ich bin kein Prophet, kann nur sehen, was derzeit der Fall ist. Die Festivals, wichtige Arbeitgeber für uns Musiker, sind im Moment in einer äußerst schwierigen Situation. Ich bin als Intendantin zweier Festivals dem „Forum Musikfestivals“ beigetreten, eine Initiative, die sich unter dem Motto „Verspielt nicht die Musik“ nach dem Lockdown im März erstmalig in Deutschland zusammengeschlossen hat, um eine Lobby zu bilden. Falls die Krise noch lange anhält, werden einige Festivals und Kulturinstitutionen zumachen müssen. Wenn hier die Politik nicht hilft, könnte es einen Flächenbrand geben, dem vieles zum Opfer fällt.
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Und nicht wiederkommt?
Noch einmal: Ich kann die Zukunft nicht voraussagen, aber zu befürchten ist es. Kultur ist kein Luxus, auf den man verzichten kann, sondern die Basis einer funktionierenden Gesellschaft. Und man darf nicht vergessen: Das Ganze ist auch ein Wirtschaftsfaktor, an dem viele Arbeitsplätze hängen. Laut einer Studie bringt ein investierter Euro vier zurück. Tourismus, Übernachtungen, Restaurants – alles ist betroffen. Im Kern geht es aber doch um die Kultur selbst: Kunst, Musik ist ein gesellschaftlicher Kitt. Musik kann die so notwendige Konzentration oder „Meditation“ bringen, mit ihrer unmittelbaren Sprache die Menschen auf sich selbst zurück-, aber auch zusammenführen, Musiker wie Zuhörer.
Böse könnte man aber auch sagen: Corona führt dazu, dass die Szene sich gesundschrumpft...
Das wäre fatal. Musik soll mit ihrer positiven Kraft möglichst viele Menschen erreichen. Und auch eine Spitze ist nicht ohne eine breite Basis denkbar.
Überlebt die Klassikszene langfristig – unabhängig von Corona?
Ich sehe bei Kursen, Musikschulen und in der Ausbildung an den Hochschulen so viele junge Leute, die enthusiastisch ein Studium aufnehmen wollen, neue Ensembles, die gegründet werden etc.. Es gibt große Talente mit Persönlichkeit und Charisma, die ihren eigenen Weg auch in Zukunft machen und ihr Publikum mit ihrem Klang oder einer aussagekräftigen Interpretation einnehmen werden. Auch kümmern sich die Kulturveranstalter oder Initiativen wie „Jugend Musiziert“, „Jugend komponiert“ etc. sehr um den Nachwuchs, und die Nachfrage ist ungebrochen da. Sehen Sie nur mal die kreativen Education-Programme der Konzerthäuser. Von Niedergang oder Nachwuchsmangel bei der Hörerschaft oder fehlender Integration zum Teil neuer sozialer Gruppen kann also keine Rede sein.
Und das Klassik-Angebot ist nicht zu groß?
Das Angebot ist sehr vielfältig, und das sollte auch so bleiben. Es ist genauso erhaltenswert wie jeder Fußballverein.
Leben und Wirken
Dorothee Oberlinger, 1969 in Aachen geboren und in Simmern (Hunsrück) aufgewachsen, studierte an der Uni Köln Schulmusik und Germanistik, dann Blockflöte in Köln (wo sie nach wie vor ihren Lebensmittelpunkt hat), Amsterdam und Mailand. 1997 gewann sie beim Wettbewerb „Moeck“ UK/SRP in London den ersten Preis, 1998 gab sie in der Londoner Wigmore Hall ihr Solodebüt.
Als Solistin trat sie mit international namhaften Ensembles und Barockorchestern auf, so den Sonatori de la Gioiosa Marca, der Musica Antiqua Köln, der Academy of Ancient Music sowie verstärkt mit dem von ihr 2002 gegründeten Ensemble 1700. Für ihre zahlreichen Einspielungen erhielt sie mehrfach Preise.
Seit 2004 ist sie Professorin am Mozarteum in Salzburg und Leiterin des dortigen Instituts für Alte Musik. Seit 2009 ist sie Intendantin der Arolser Barockfestspiele, seit 2018 Intendantin der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci. In jüngerer Zeit tritt sie auch als Dirigentin auf.
Ihre jüngsten CD-Aufnahmen: eine von ihr im Rahmen der Musikfestspiele Potsdam geleitete Produktion von Giovanni Battista Bononcinis Oper „Polifemo“ und das Album „Discovery Passion“, auf dem sie als Blockflötistin mit dem Counter und Geiger Dmitry Sinkovsky Kammermusik des Frühbarock interpretiert (beide Aufnahmen bei dhm/Sony).
Dorothee Oberlinger erhält in diesem Jahr den Opus Klassik Preis als „Instrumentalistin des Jahres“ neben Anne-Sophie Mutter und Elisabeth Leonskaja für ihre CD „Night Music“. Am 18. Oktober nimmt sie ihn im Konzerthaus Berlin im Rahmen der vom ZDF übertragenen Preisverleihung entgegen. (MaS)
Sie sind in sehr unterschiedlichen Teilsparten des Musikbetriebs tätig: in der Alten und in der Neuen Musik. Sie stoßen da jeweils auf verschiedene und einander ausschließende Zuhörer. Ein Problem?
Man kann die Leute nicht zu etwas zwingen. Man kann nur Angebote machen und sie überraschen. Ich mache das manchmal durch die Kombination von Barock und zeitgenössischer Musik in einem Konzert und rege neue Kompositionen für Barockensemble an. Wenn dann jemand von dieser oder jener Fraktion befremdet ist, ist dagegen auch nichts einzuwenden – da wird vielleicht etwas angestoßen.
Sie bekämpfen die Versäulung der Publikumsinteressen...
Ja, und da sind neue, auch experimentelle Veranstaltungsformate hoch willkommen. Corona mag übrigens ein Stück weit als Beschleuniger wirken: Not macht erfinderisch. Ich vertiefe mich natürlich genauso gerne auch für einen langen Abend in die Reinform einer Barockoper oder eines Klassikkonzerts!
Sie leiten Festivals in Arolsen und Potsdam. Wie wird sich diese Landschaft entwickeln?
Wir können nur hoffen, dass die Leute wiederkommen, wenn wir wieder normal spielen, und sich nicht etwa umorientiert haben und alles digital auf der Couch genießen wollen. Das ist schwer zu prognostizieren. Ich habe aber den Eindruck, dass das Publikum sich wie der Musiker extrem nach dem Livemoment sehnt – wo es um direkte Kommunikation und Emotion geht.
Hat die CD noch eine Zukunft?
Die Streaming-Portale sind eine starke Konkurrenz. Und in der Coronazeit hat das Streaming, auch das gestreamte Konzert ohne Zuhörer, notgedrungen zugenommen. Schwer zu sagen, ob die CD als physischer Datenträger irgendwann nicht mehr da sein wird. Bei der LP gibt es ja gerade eine große Retrowelle, und ähnlich wie die Buchliebhaber halten CD-Liebhaber ja gerne haptisch etwas, vor allem ein schönes Booklet, in den Händen.
Wie wird die Klassik-Szene überhaupt in, sagen wir mal, 30 Jahren aussehen?
Inhaltlich sehe ich als Blockflötistin z.B. die Tendenz, dass die ästhetische Denkweise der historisch informierten Aufführungspraxis immer mehr auch bei den klassischen Orchestern „ankommt“, zur Selbstverständlichkeit wird. Das finde ich sehr begrüßenswert. Da gibt es und wird es auch mehr und mehr Symbiosen geben, z.B. dass man Darmsaiten und Barockbögen einsetzt. Ich könnte mir auch vorstellen, dass die zeitgenössische Musik eine größere Renaissance erlebt. Sie erhält ja jetzt schon stärkeren Einzug in ganz unterschiedliche Formate. Ihr Anteil wird sich vergrößern – was gut ist, denn es ist die Musik unserer Zeit. Die Selbstfindung der Komponisten in einer Phase, wo alles parallel nebeneinander existierte und es schwer war, einen eigenen Personalstil zu finden – das war schon schwierig. Jetzt sehe ich viele junge Komponisten, die interessante Sachen machen, auch politisch motivierte Kunst. Da kommt doch einiges Neues. Und noch einmal: Wenn – was verstärkt geschieht – Barockensembles bei Zeitgenossen Werke bestellen, dann zeigt das, dass da einiges im Aufbruch ist.
Wie wird sich das Verhältnis von Klassik und Pop entwickeln?
Es gab sicherlich in den vergangenen zehn Jahren bei vielen großen Labels und Veranstaltern die Tendenz, Marketingstrategien der Popbranche auf die Klassik zu übertragen. Man vermarktet junge Klassikkünstler zeitgeistig wie im Mainstream-Pop, um ein größeres Publikum zu erreichen. Oder es gibt inhaltlich ein Crossover, wo man „Fluch der Karibik“ auf der Geige mit Orchester hören kann. Da gehen Leute hin, die sich auf eine Bruckner-Sinfonie nie einlassen würden. Wie sich diese Tendenz noch entwickelt, kann ich nicht beurteilen. An sich sind die Hörergruppen ja recht divers.
Es gibt Klassik-Connaisseure, die niemals auf ein Popkonzert gehen würden – und umgekehrt.
Aber es gibt ja noch nicht einmal innerhalb der sogenannten Klassik homogene Hörergruppen, geschweige denn in der Popmusik.
Sind wir in Deutschland, trotz allem, privilegiert?
Auf jeden Fall, und dessen bin ich mir sehr bewusst. Das höre ich auch immer wieder – von meinen internationalen Mitmusikern, die über die Dichte der klassischen Musiklandschaft und ihre öffentliche Förderung hierzulande nur staunen.