Der isländische Pianist Víkingur Ólafsson spielt eine ganze Saison lang ausschließlich die berühmten Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach.
Shooting-Star der KlassikVikingur Ólafsson begeistert in der Kölner Philharmonie
Vikingur Ólafsson ist in. Ungewöhnliche pianistische Fähigkeiten und das überaus geschickte von seinem Label Deutsche Grammophon betriebene Marketing haben aus dem isländischen Pianisten einen Shooting Star der Klassik gemacht. In der laufenden Saison spielt er in insgesamt 88 Konzerten (weil der moderne Flügel 88 Tasten hat) rund um den Globus ausschließlich Bachs Goldberg-Variationen.
Klar, dass so ein Projekt den attraktiven Ruch des Ausgefallenen noch befördert. Bei Ólafssons Auftritt in der Kölner Philharmonie im Rahmen der Meisterkonzerte – seinem 18. Goldberg-Abend – war die Begeisterungswilligkeit des Publikums dann auch erwartbar groß.
Dramatik des Hier und Jetzt
Zumindest der Start –mit Thema und ersten Variationen – war allerdings nicht so erhebend, dass er einen vom Sessel hätte holen müssen. Hier ein arg musterschülerhafter Triller, dort ein ausgelassener Ton, wiederholt unmotiviert exzentrische Betonungen und (warum eigentlich?) der Verzicht auf den geforderten Septimenvorhalt am Schluss der „Aria“ – musste Ólafsson erst in den Flow kommen? Fast schien es so, denn nach rund einer Viertelstunde gewann die Interpretation spürbar an Intensität und fesselnder Kraft, auch an einer Dramatik des Hier und Jetzt, die alles andere als selbstverständlich bei jemandem ist, der über eine lange Zeit hinweg immer das nämliche Werk spielt.
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Sicher: Manches schien bis zum Schluss subjektiv-willkürlich zu bleiben, etwa die dezidierte laut/leise-Verteilung im Zuge der (dankenswerterweise durchwegs ausgespielten) Wiederholungen. Mal kam Bachs unverändertes Bassthema markant durch, mal verschwand es im Dickicht des wuchernden Kontrapunkts. So oder so aber setzte sich der Eindruck eines wunderbar zusammenhängenden Ganzen durch, das mehr ist als die Addition der Teile.
Die fortschreitende, die einzelnen Sätze also übergreifende Tendenz zur Chromatisierung, zur Halbtonbildung, die in der 25. Variation ihren Höhepunkt erreicht und dort das tonale Gefüge an den Rand des Zusammenbruchs bringt (bei diesem zehnminütigen Exzess von Versenkung und Klage dürften sich etliche Musikfreunde an Glenn Gould erinnert haben) – Ólafsson führte sie mit zwingendem Nachdruck vor.
Dramaturgisch benutzte er die wechselseitige dialogische Beflügelung der Stimmen zu schönen Verdichtungseffekten, und immer wieder ließ er in Bachs Satz latente, verborgene Linien auftauchen, die bereits an Schumanns „innere Stimme“ gemahnten. Wie der Pianist überhaupt in faszinierender Mehrdimensionalität nicht nur Bach, sondern auch die Rezeptionsgeschichte der Goldberg-Variationen gerade in der Romantik mitzuspielen schien.
Eine unverwechselbare Handschrift
Einzelne Variationen wurden entsprechend dank der Herausstellung ihrer tragenden Motivik zu in ihrer Individualität herausgehobenen Charakterstücken. Spätestens nach der 25. Variation war dann auch kein Halten mehr, brach die Virtuosität, die Ólafsson bislang im wohlverstandenen Interesse einer verinnerlicht-konzentrierten Befassung eher im Zaum gehalten hatte, mit Verve durch. Ob man das nicht nur fantastisch komponierte, sondern eben auch sehr humorige Quodlibet mit jenem triumphalen Martellato bringen muss, wie es hier geschah, sei freilich dahingestellt.
Auf jeden Fall bleibt die Erinnerung an eine sehr spezifische Interpretation mit einer unverwechselbaren Handschrift – und das will angesichts der dicken Lasuren der Deutungsgeschichte und der diskografischen Omnipräsenz dieser Musik schon etwas heißen. Deren Tiefe und Schönheit ist und bleibt allerdings auch unauslotbar – davon konnte man jetzt in der Philharmonie wieder einmal mehr als nur eine Ahnung bekommen.