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Kommentar

Kolumne zum Streikrecht
Der Maßlosigkeit der GDL Grenzen setzen

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Lesezeit 4 Minuten
Eine Anzeigetafel für Fahrgastinformationen informiert über Auswirkungen des GDL-Streiks.

Eine Anzeigetafel weist auf einen Streik der Lokführergewerkschaft GDL hin.

Das Streikrecht ist im Grundgesetz verankert. Es gilt aber nicht grenzenlos. Nach den jüngsten Aktionen der GDL ist der Gesetzgeber gefordert.

Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) hat in den Anfang November 2023 begonnenen Tarifverhandlungen mit der Deutschen Bahn ihren Forderungen – insbesondere der nach einer 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich – mit bislang insgesamt sechs Streiks Nachdruck verliehen. Weite Teile des Bahnverkehrs in Deutschland kamen zum Erliegen. Fern- und Regionalzüge standen ebenso wie der Güterverkehr über Tage still.

Im Zentrum des Streikgeschehens steht GDL-Chef Weselsky.

Während Gewerkschafter den CDU-Mann als durchsetzungsstarken Helden feiern, sehen andere in ihm einen Interessenvertreter, der nicht danach fragt, welche volkswirtschaftlichen Schäden er mit seiner kompromisslosen Haltung anrichtet.

Diese Schäden sind in der Tat immens. Die Bahn spricht von 100 Millionen Euro pro Streiktag. Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) zufolge belaufen sie sich – je nach Häufigkeit der Unterbrechung von Lieferketten im Güterverkehr – auf 60 bis 100 Millionen Euro, wobei es sich im Detail oft um Schätzungen handelt. Das gilt auch für Schäden, die im Personenverkehr aufgrund nicht geleisteter Arbeitsstunden infolge ausgefallener oder verspäteter Züge entstanden sind.

Michael Bertrams, Präsident a.D. des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen

Michael Bertrams, Präsident a.D. des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen

Mit der Anzahl und Dauer der Streiks sind in den vergangenen Monaten nicht nur deren volkswirtschaftliche Kosten gewachsen, sondern auch die Verärgerung in Politik und Bevölkerung über die Arbeitskampfmaßnahmen. Der Unmut ist inzwischen in die Forderung nach einem Tätigwerden des Gesetzgebers gemündet. So plädiert FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai für umfassende Reformen im Streikrecht, insbesondere im Bereich der kritischen Infrastruktur. Djir-Sarai zählte dazu „Instrumente wie verpflichtende Schlichtungen, klare Streikfristen und die Möglichkeit, Verhandlungsführer auszutauschen“.

Kampfansage an das ganze Land

Mit Blick auf den GDL-Streik beklagt die Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, Gitta Connemann (CDU), einen Verlust an „Maß und Mitte“. Dieser Arbeitskampf sei eine Kampfansage an das ganze Land, mit Auswirkungen auch auf Europa. Denn sechs der zehn europäischen Frachtkorridore verliefen durch Deutschland, so dass auch andere Länder in Mitleidenschaft gezogen würden. Connemann fordert deshalb ein gesetzliches Arbeitskampfrecht mit Regelungen für Unternehmen, die kritische Infrastruktur zur Verfügung stellten.

Das gelte etwa für Energieversorger und Rettungsdienste sowie für den Bahn- und Flugverkehr. Jeder Streik sei im Übrigen mindestens vier Tage vorher anzukündigen. Auch müsse vor jedem Streik eine Schlichtung versucht und immer eine „Grundversorgung“ aufrechterhalten werden. Im Umfeld von Feiertagen seien Streiks ganz auszuschließen. Auch der Präsident des Groß- und Außenhandelsverbands, Dirk Jandura, hat sich für ein Gesetz ausgesprochen, das „klare Leitplanken zum Schutz aller“ schaffe.

Demgegenüber hat Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge erklärt, sie halte nichts von Beschneidungen des Streikrechts. Einseitige Parteinahmen lehne sie ab. Verantwortlich für die Lage im Tarifstreit seien beide Parteien. Auch die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi erteilt Einschränkungen des Streikrechts – erwartungsgemäß - eine Absage. Dies wäre, so Fahimi, „eine Beschneidung der Tarifautonomie“. Das Streikrecht sei ein in der Verfassung verankertes Grundrecht.

Konfliktregelung nicht allein den Arbeitsgerichten überlassen

Letzteres trifft zu. Diese Feststellung steht jedoch gesetzlichen Regelungen, insbesondere solchen zur Sicherung einer Mindestversorgung bei Streiks, nicht entgegen. Solche Regelungen sind vielmehr verfassungsrechtlich zulässig und können sogar geboten sein. Davon geht etwa Arndt Diringer aus, Rechtsprofessor an der Hochschule Ludwigsburg und dort Leiter der Forschungsstelle für Arbeitsrecht. Diringer verweist zutreffend auf das Bundesverfassungsgericht, welches ausdrücklich betont, dass das in Artikel 9 des Grundgesetzes verankerte Streikrecht „einer gesetzlichen Ausgestaltung“ bedarf.

Mit anderen Worten: Die Regelung von Konflikten, die Arbeitskampfmaßnahmen bei Tarifauseinandersetzungen typischerweise mit sich bringen, darf nicht – wie das bislang geschieht - allein den Arbeitsgerichten überlassen werden. Es gehört vielmehr zu den Aufgaben des Gesetzgebers, in grundlegenden Bereichen wie dem grundgesetzlich garantierten Streikrecht alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.

Der Gesetzgeber hat dementsprechend die Tragweite des Streikrechts und seine Grenzen zu konkretisieren. Darüber hinaus muss er dafür sorgen, dass die gewerkschaftliche Ausübung des Streikrechts nicht zu chaotischen Verhältnissen führt und über Wochen auf dem Rücken der Wirtschaft sowie am Tarifkonflikt nicht beteiligter Bürgerinnen und Bürger ausgetragen wird.

Die Verhältnismäßigkeit begrenzt als „immanente Schranke“ das Streikrecht

Der Gesetzgeber hat mit anderen Worten sicherzustellen, dass Arbeitskämpfe dem verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit genügen. Dieses Gebot bestimmt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das gesamte Arbeitskampfrecht und begrenzt als „immanente Schranke“ auch das Grundrecht auf Streik. Die Ausübung dieses Rechts muss deshalb stets auch gegenläufige Rechte Dritter im Blick behalten und diesbezüglich angemessen sein.

Die Rechtswissenschaft hat seit vielen Jahren zahlreiche gesetzliche Regelungen vorgeschlagen, die diesen Grundsätzen Rechnung tragen. Insbesondere könnte man die Tarifparteien verpflichten, in den Bereichen Nahrung und Gesundheit, Energie und Wasser, Verkehr, Post, Fernmeldewesen, Rundfunk und Fernsehen, Feuerwehr, Müllbeseitigung sowie bei der inneren Sicherheit gemeinsam eine Mindestversorgung sicherzustellen. Alle diese Vorschläge hat der Gesetzgeber aber bislang ignoriert.

Offenbar zieht die Politik es vor, die rechtlichen Vorgaben auch künftig den Gerichten zu überlassen, statt sich der Mühe zur Schaffung eines Arbeitskampfgesetzes zu unterziehen. Italien, Großbritannien oder auch Spanien sind da weiter. So müssen in Spanien auch im härtesten Arbeitskampf drei von vier Zügen fahren. In Großbritannien gelten ähnliche Regeln. In Italien kann eine „Expertenkommission“ Streiks gegebenenfalls auf wenige Tage oder Stunden begrenzen.