Essen/Düsseldorf – Eine Gefangenenbefreiung. Angriffe auf Polizisten und Ordnungsamtsmitarbeiterinnen. Clan-Mitglieder, die als Intensivtäter bekannt sind und sich spontan gegen die Staatsgewalt zusammenrotten: „Das sind extreme Entgleisungen, die leider aber keine Seltenheit sind“, sagt Heiko Müller, stellvertretender Vorsitzender der „Gewerkschaft der Polizei“ in NRW. Die örtliche Presse spricht von einer „in dieser Form nie gesehenen Eskalation“.
Zwei Mitarbeiterinnen des Ordnungsdienstes in Essen wollten vor einigen Wochen eine Verwarnung aussprechen, weil ein schwarzes Mercedes G-Klasse im Stadtteil Altenessen falsch parkte. Als das die drei Insassen des Luxuswagens (Kaufpreis: ab 90.636 Euro) bemerkten, gingen sie nach Aussage einer der Frauen „in bedrohlicher Weise“ auf das Fahrzeug des Ordnungsamtes zu. Einer der Männer habe die Wagentür geöffnet und sei ihr mit seinem Gesicht sehr nahe gekommen. Anschließend habe der Mann an das Dach gefasst und das Fahrzeug zum Schaukeln gebracht. Währenddessen habe ein Komplize die Kennzeichen des Mercedes abmontiert.
Festgenommener Randalierer wurde befreit
Als die zu Hilfe gerufene Polizei eintraf, waren die Personen samt Auto zwar bereits verschwunden. Eineinhalb Stunden später entdeckten die Frauen den Fahrer des Mercedes aber erneut am örtlichen Marktplatz. Wieder verständigten sie die Polizei. Der Mann, ein aktenkundiger Intensiv-Straftäter, wurde zunächst zwar festgenommen.
Das könnte Sie auch interessieren:
Plötzlich jedoch seien einige der Marktbesucher „fächerförmig und in bedrohlicher Weise“ auf ihre Kollegen zugegangen, berichtet eine Polizeisprecherin. „Ein 40-Jähriger attackierte schließlich den Polizeibeamten, der den Mercedes-Fahrer festhielt und riss ihn von diesem los, so dass dieser im Getümmel flüchten konnte“. Drei der Randalierer konnten festgenommen werden. „Alle drei sind dem Clan-Milieu zuzuordnen, alle drei sind uns bekannte Intensiv-Straftäter“, so die Polizeisprecherin.
Innenminister ist empört
„Ich finde diesen Vorgang ungeheuerlich“, betonte NRW-Innenminister Herbert Reul auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Da ist überhaupt keine Hemmschwelle mehr zu erkennen.“ Wenn Ordnungskräfte einen einfachen Verkehrsverstoß kontrollierten und „sie und die Polizei dann beleidigt, bedroht und ihnen mit roher Gewalt begegnet wird“, könne das „nur aufs Schärfste verurteilt“ werden, so Reul: „Aber es zeigt auch: Unsere Nadelstiche treffen einen empfindlichen Nerv bei den Clans.“
Nach dem Amtsantritt von Reul wurden im Jahr 2018 zunächst die Clan-Strukturen durchleuchtet. Eine behördenübergreifende Dienststelle sammelt und bündelt seitdem Informationen zu den Großfamilien. In den Jahren 2018 und 2019 wurden 30 Ermittlungsverfahren bei Dienststellen der Organisierten Kriminalität (OK) gegen Clanmitglieder geführt. Zudem gab es extrem viele Razzien. Von Juli 2018 bis Dezember 2020 rund 1600. Dabei wurden 4000 Objekte wie Shisha-Bars oder Wettbüros durchsucht und 335 davon sofort geschlossen.
Kleinste Verstöße werden geahndet
„Dabei werden selbst kleinste Verstöße geahndet“, sagt Polizeigewerkschaftler Müller. „Und genau diese Hartnäckigkeit ist es, die diese Gruppen jetzt nervös macht.“ In Essen sei nach der Festnahme eines Clanmitglieds der Vorplatz einer Polizeidienststelle belagert worden, um die Person frei zu bekommen. „Es ist der Versuch, die eigenen Regeln durchzusetzen“, sagt Müller. „Da gehen wir mit allen Mitteln gegen an.“ Um den „Kampf um die Straße“ zu gewinnen, brauche die Polizei aber noch mehr Personal.
Gerade Essen gilt als Hochburg krimineller Clans. Dies belegt auch das nordrhein-westfälische Lagebild, das im vergangenen Jahr schon zum zweiten Mal vorgelegt wurde. Mit 852 Straftaten im Jahr 2019 (NRW: 6104 Delikte) liegen Essener Täter einsam an der Spitze. Auf Platz sieben rangiert Köln mit 231 Straftaten durch Angehörige türkisch-arabischer Clans.
Omeirat-Clan mit den meisten Straftaten
Bei den Festnahmen auf dem Altessener Marktplatz soll sich insbesondere ein 40 Jahre alter Libanese hervorgetan haben. Er sorgte für die erfolgreiche Flucht des Mercedes-Fahrers. Der Beschuldigte gehört nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ zum Omeirat-Clan.
Die kriminellen Zweige der Großfamilie führen die Rangliste beim Straftatenkatalog an, den das Landeskriminalamt NRW im Bereich Clan-Kriminalität erstellt hat. Darin vermerkt: Brandstiftungen etwa, schwere Körperverletzungen sowie drei versuchte Tötungen. Auch beim Rauschgifthandel, Einbruch und der Hehlerei rangiert die Sippe ganz vorne.
Kriminelle Ableger aus 111 Großfamilien
Wie bei den meisten anderen Familien auch, handelt es sich bei den Angehörigen um sogenannte Mhallamiye-Kurden, die in den 1920er Jahren vor den Repressalien des Atatürk-Regimes aus der Türkei in den Libanon flüchteten. In den 1980er Jahren flohen die Familien dann vor dem Bürgerkrieg in Beirut nach Deutschland. Meist ist nur ein Teil der Familien kriminell. Viele Angehörige sind an den Taten gar nicht beteiligt.
Inzwischen registriert das Landeskriminalamt in NRW kriminelle Ableger aus 111 Großfamilien. Jede fünfte Tat in NRW soll auf das Konto der beiden mächtigsten Clans Omeirat und El Zein gehen. Die El Zeins versuchen unter anderem mit Schutzgelderpressung oder dem Schmuggel gepanschten, unversteuerten Wasserpfeifentabaks ihren Einfluss auf der Ruhrschiene zu erweitern. Bei Razzien werden Polizeibeamte beschimpft, bedroht oder bespuckt. Bei einigen Mitgliedern der Großfamilien wurden von der „Besonderen Aufbauorganisation (BOA) Clan“ der Essener Polizei wertvolle Autos oder Schmuckstücke beschlagnahmt, obwohl sie Hartz-IV bezogen.
Bandenkrieg mit Rockergang
Zu den einflussreichen Sippen im Ruhrgebiet zählt der Miri-Clan. In Dortmund lieferten sich Abkömmlinge der Großfamilie vor gut anderthalb Jahren einen Bandenkrieg mit einer Rockergang der Bandidos. Schüsse fielen und verletzten einen Friseur, der im Verdacht steht, an einer Messerattacke auf die Clangröße Ibrahim Miri beteiligt gewesen zu sein.
Immer wieder sorgen Fehden für Schlagzeilen: Coronabedingt warten die Zusammenstöße vom Sommer 2019 zwischen drei Großfamilien in Essen mit Messern, Schlagstöcken, Eisenstangen und Kanthölzern bis heute auf ihre gerichtliche Aufarbeitung. Der Prozess muss noch einmal neu aufgerollt werden, nachdem sich ein angeklagter Chef des berüchtigten Rammo-Clans mit dem Covid-19-Virus angesteckt hatte. Die kurdisch-libanesische Sippe, die insbesondere in Berlin durch spektakuläre Verbrechen wie dem Diebstahl einer 100 Kilogramm schweren Goldmünze aus dem Bode-Museum oder dem Einbruch ins Grüne Gewölbe in Dresden von sich reden machte, unterhält in der Essener Region eine gewaltbereite Filiale.
Syrisch-irakische Clans wollen an die Macht
Immer häufiger kocht auch der Streit mit den syrischen oder irakischen Clans hoch, die sich mittlerweile im Revier formiert haben. Im November vergangenen Jahres beispielsweise, nachdem zwei libanonstämmige Männer von etwa 30 Syrern verprügelt wurden, zogen zahlreiche arabisch sprechende Männer mit Knüppeln durch Essen, um die Angreifer zu finden.
„Die Syrer, die bisher die Drecksarbeit auf der Straße gemacht haben, beispielweise als Laufburschen für den Drogenverkauf, wollen das Geschäft jetzt selbst übernehmen“, heißt es aus Sicherheitskreisen. „Da viele von ihnen über erhebliche Kriegserfahrung aus ihren Herkunftsländern verfügen, machen sie den einheimischen Sippen die Hölle heiß", berichtet ein hochrangiger Ermittler, der fürchtet, „dass die Gewaltstufe weiter eskalieren wird“.