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„Corona ist mir egal“86-Jährige berichtet von der Isolation im Pflegeheim

Lesezeit 8 Minuten

Seit Wochen darf Helga Witt-Kronshage nicht mehr nach draußen und keinen Besuch mehr empfangen.

  1. Isoliert wie Helga Witt-Kronshage leben derzeit Hunderttausende Senioren in Pflegeheimen. Sie sollen vor dem Coronavirus geschützt werden – aber niemand hat gefragt, ob sie das auch wollen.
  2. Die 86-jährige hat kaum Kontakt zur Außenwelt.
  3. Vor dem Tod hat sie keine Angst, sehr wohl aber davor, ohne einen Angehörigen neben sich zu sterben.

Berlin – Das Schlimmste, sagt Helga Witt-Kronshage, ist gar nicht die Einsamkeit. Es ist nicht das Verbot, mit dem Rollstuhl in den Garten zu fahren, wo die Frühlingssonne scheint. Es ist nicht die Stille und nicht die Menschenleere auf den Fluren und schon gar nicht die Angst vor dieser vermaledeiten Seuche. Es ist die Tatsache, dass niemand sie gefragt hat.

14 Quadratmeter. Ein Bett. Ein Stuhl. Ein Fernseher. Ein Beistelltisch. Das ist das Reich von Helga Witt-Kronshage im sechsten Stock eines Pflegeheims in Berlin-Wilmersdorf. Seit sieben Wochen hat sie kaum etwas anderes gesehen. Sie ist 86 Jahre alt. Vor einem Jahr erlitt sie einen Schlaganfall. Ihre rechte Seite ist gelähmt. Sie hat zwei künstliche Hüftgelenke. Sie spricht undeutlich.

Kaum Kontakt zur Außenwelt

Sie gehört zur Risikogruppe für Covid-19. Deshalb darf sie keinen Besuch empfangen. Sie darf nicht hinaus. Sie isst allein in ihrem Zimmer oder in der Küche. Und sie durfte, als es einen Corona-Verdachtsfall unter den Pflegern gab, nicht einmal mehr auf den Flur vor ihrem Zimmer. Im Strafvollzug heißt das Einzelhaft. „Wenn das so bleibt“, sagte sie ihrer Tochter am Telefon, „dann halte ich das nicht mehr aus.“

Alles zum Thema Angela Merkel

„Es ist ja schön, dass wir Menschen so viele Anstrengungen unternehmen, um Leben zu retten“, sagt ihre Tochter Uta Kronshage, Psychotherapeutin in Hannover. „Ich bin nur nicht sicher, ob die Menschen, für deren Rettung wir alle so viel auf uns nehmen und diesen Menschen dabei Schlimmes antun, dies wirklich selbst so wollen.“ Für ihre Mutter jedenfalls gilt: So will sie nicht leben. Alle zwei bis drei Wochen besuchten entweder sie selbst oder ihre Schwester die Mutter, auch die Geschwister kamen. Das ist vorbei.

Die Alten isolieren, damit der Alltag aller Übrigen wieder fauchend anlaufen kann wie die Kolbenstangen einer Dampflok? Es sind nicht wenige, die genau das gefordert haben. Die Gesellschaft solle „Menschen über 65 Jahre aus dem Alltag herausnehmen“, sagte der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne).

Man solle „die Risikogruppe der Älteren isolieren“, sagte auch sein Düsseldorfer Amtskollege Thomas Geisel (SPD). Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnt: Im Moment sei „nur Abstand Ausdruck von Fürsorge“.

„Das ist kein Schutz. Das ist eine Qual.“

Ist das so? Auch wenn es sich nicht anfühlt wie Fürsorge? Helga Witt-Kronshage sieht das ganz anders als die Kanzlerin. „Das ist kein Schutz. Das ist eine Qual.“ Ihre Sprachstörung hat sich verschlimmert. Sie spricht kaum noch. Mit wem auch? Was sie in dieser Geschichte erzählt, übermittelt die Tochter in Absprache mit der Mutter. Das Pflegeheim ist geschlossen. Für das Foto wurde eine Ausnahme erteilt, natürlich unter Wahrung der Abstandsregel.

Die 86-Jährige hatte gerade Bekanntschaft geschlossen mit Mitbewohnern, war gern draußen im Garten. „Ich weiß ja, dass ich nicht mehr lange zu leben habe“, sagt sie. „Das ist nicht schlimm. Aber niemand hat mich gefragt, ob ich meine letzte Lebenszeit so verbringen will.“ Isolation verändert Körper und Seele.

Die Konzentration schwindet, die kognitive Leistungsfähigkeit sinkt. „Sie würde, wenn sie Covid-19 bekäme, sicher nicht beatmet werden wollen“, sagt ihre Tochter. „Sehr wohl aber würde sie wollen, dass sie, wenn sie im Sterben liegt, einen Angehörigen bei sich hat und nicht allein ist.“

Isolation für welche Zukunft?

Wie viele Menschen leben derzeit isoliert wie Helga Witt-Kronshage in geschlossenen Heimen? Es sind Hunderttausende. Rund 3,4 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Die Hälfte von ihnen wird von Angehörigen zu Hause betreut, ein Viertel mit Unterstützung von Pflegediensten. Ein weiteres Viertel lebt vollstationär in einem von 14 500 Pflegeheimen. Das sind mindestens 850 000 Menschen, die jetzt im letzten Kapitel ihres Lebens noch größere Einsamkeit erleben als ohnehin schon.

Helga Witt-Kronshage in der Seniorenresidenz in Berlin-Wilmersdorf

Risikogruppen schützen. Das klingt vernünftig. Risiken muss man vermeiden, so gut es geht. Aber der Preis dafür ist hoch. 17,8 Millionen Menschen in Deutschland sind älter als 65. Soll man die alle notfalls gegen ihren Willen „isolieren“? Natürlich kennt auch die 86-Jährige die Fälle von Masseninfektionen in Seniorenheimen. Das Sterben. Die Bilder der Särge. Aber sie fragt trotzdem: „Auf welche Zukunft hin werde ich mit Isolation gequält? Wenn dieses Leben der Preis dafür ist, nicht an Corona zu sterben, dann möchte ich gar nicht geschützt werden.“

Denn woran sie sterbe, sagte sie zu ihrer Tochter, spiele am Ende ja keine Rolle. Es könne sie doch auch ein Pfleger unwissentlich infizieren. Am 17. März war sie zuletzt draußen, sie ging mit ihrer Tochter zum Bürgerbüro, um ihren Personalausweis zu verlängern. Als sie ins Heim zurückkam, fragte eine Pflegerin entsetzt: „Was tun Sie hier draußen? Sie könnten sich mit Corona infizieren!“ Die 86-Jährige sah sie an und sagte mit fester Stimme: „Das ist mir egal.“

Der Tod hat in den Pflegeheimen seinen Schrecken verloren

Das sei nicht etwa Ausdruck einer klinischen Depression, sagt ihre Tochter, die Psychologin. Diese ruhige Schicksalsergebenheit wurzle vielmehr im tiefen Frieden, den viele im hohen Alter mit ihrem Leben gemacht hätten. Der Tod, sagt sie, hat in diesem Wartesaal namens Pflegeheim seinen Schrecken verloren.

Viel größer als die Angst zu sterben sei an solchen Orten die Angst, in Unwürde und ohne Sinn zu leben. „Viele Menschen in Alten- und Pflegeeinrichtungen wissen, dass das nächste große Abenteuer, das jetzt noch kommt, der Tod ist. Und für viele Menschen, die bereits den größten Teil ihrer Lebensreise hinter sich haben, ist das auch in Ordnung. Vor dem Tod selbst haben diese Menschen meist keine große Angst. Wohl aber vor einem qualvollen Leiden auf dem Weg dahin.“

Weiterleben um des Lebens willen, noch mehr Jahre sammeln – das ist im hohen Alter kein Wert an sich. Es ist die Qualität des letzten Kapitels, die zählt. Die Glücksoptionen aber werden immer geringer. Die Sinne schwinden, die Kräfte auch. Alle paar Wochen Besuch, ein paar Worte auf dem Flur, die gemeinsamen Mahlzeiten – das war es, was Helga Witt-Kronshage Freude schenkte. Das nun auch noch zu verlieren, bedeutet ein unermessliches Opfer.

Isolation weckt Erinnerungen

Das beklemmende Gefühl, den Zeitläuften ausgeliefert zu sein, führt sie in der Erinnerung zurück in ihre Kindheit. Da saß sie im Luftschutzkeller in Berlin. Es sind die verschütteten Gefühle dieses Ausgeliefertseins, die sie einholen. „Fahrstuhl fahren, in den Keller gehen, allein in engen Räumen – solche Situationen waren immer furchtbar für sie“, sagt ihre Tochter.

Auf einem Gut nahe Stendal in der Altmark kam Helga Witt-Kronshage 1933 zur Welt und wuchs auf im Geiste preußischer Werte. Die Familie zog nach Berlin, ab 1942 erlebte und überlebte sie dort die Bombennächte. Gegen Kriegsende kehrte sie aufs Gut zurück und floh 1945 vor der Roten Armee ins Weserbergland. Helga war das älteste von fünf Kindern. Und damit früh, mit zwölf, in der Pflicht.

Der Vater wurde als Professor für Landwirtschaft nach Nienburg berufen. 1952 machte Helga ihr Abitur, lernte ihren Mann Walter kennen, studierte Deutsch und Geschichte in Göttingen, bekam drei Kinder und war zehn Jahre lang Hausfrau und Mutter, bevor sie in Hannover am Gymnasium als Lehrerin zu arbeiten begann.

Opfer für die Gesundheit der nächsten Generation – nicht für das eigene Leben

1979 ließ sich das Ehepaar scheiden, in den 80er-Jahren leitete Witt-Kronshage dann ein paar Jahre die Wilhelm-Raabe-Schule – und wandelte das Mädchengymnasium als letzte Schule der niedersächsischen Hauptstadt 1985 in eine Schule für Mädchen und Jungen um. Ein Kraftakt. Und nicht der letzte.

Sie wechselte nach Bonn ans Klara-Schumann-Gymnasium, wurde 1998 pensioniert – und zog im Jahr 2000, mit 67 Jahren, noch einmal um nach Berlin. Warum? Bonn war Geschichte, sie lockte Preußens Gloria und wollte in der Hauptstadt leben. Eine „extrem resolute Kämpferin“ sei ihre Mutter, sagt sie, eine energische, zupackende Frau – kontaktfreudig, interessiert an Politik, belesen, selbstbestimmt.

Immer wieder verließ sie Krankenhäuser gegen ärztlichen Rat. Uta Kronshage lächelt. „Meine Mutter ist Preußin durch und durch. Ein Gehwagen? Nicht mit ihr!“ Für die Gesundheit der nächsten Generation würde sie jederzeit jedes Opfer bringen. Aber das eigene Leben verlängern? Zu dem Preis, einsam sterben zu müssen, ohne die Hand ihrer Töchter zu halten? Warum?

„Corona ist mir egal“

In ihrer Familie spiele Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ eine große Rolle, sagt Uta Kronshage, jene 22 Zeilen, die jeden Abschied als Aufbruch feiern: „Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde / Uns neuen Räumen jung entgegen senden / Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden / Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

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Helga Witt-Kronshage sieht fern, schläft viel. Und sie liest. Zuletzt hat sie „Im Grunde gut“ gelesen, das tief optimistische Buch des Historikers Rutger Bregmann. Seine These: Der Mensch ist nicht böse, sondern im Kern ein gutes Wesen. Die Voraussetzung dafür aber seien Freiheit und Selbstbestimmung. „Ich habe mein Leben gelebt“, sagt sie. „Ich fürchte mich nicht vor Corona. Corona ist mir egal.“