Am 8. Dezember öffnet Notre-Dame wieder – gut fünfeinhalb Jahre nach dem Brand. Tausende Restaurateure bauten sie wieder auf – unnd singen jetzt auch im Chor.
Fünf Jahre Millimeterarbeit„Chor der Gesellen von Notre-Dame“ besteht aus Restaurateuren und Steinmetzen
Die Pariser Kirche Saint-Séverin trägt noch keinen vorweihnachtlichen Schmuck an diesem kalten Abend im November, aber das Lied, das in dem gotischen Bau ertönt, verströmt feierliche Stimmung. Ein Chor aus ein paar Dutzend Männern und Frauen verschiedensten Alters probt das Werk „Cantique de Jean Racine“ von Gabriel Fauré, „Gesang von Jean Racine“.
Dessen getragener Rhythmus erschien den Chorleitern festlich genug für einen besonderen Anlass: die Messe am 11. Dezember in der Kathedrale Notre-Dame, kurz nach ihrer Wiedereröffnung am 7. Dezember durch Präsident Emmanuel Macron und den Erzbischof von Paris, Laurent Ulrich. Fünfeinhalb Jahre nach dem schweren Brand können Besucher demnächst das wiederhergestellte Innenantlitz der berühmtesten Kathedrale Frankreichs, die nur einen Steinwurf von der Kirche Saint-Séverin entfernt liegt, bestaunen: die in frischem Glanz erstrahlenden Farben, die weißen Wände, die restaurierten Fenster, durch die mehr Licht fällt als zuvor.
„Der Ausblick, den man erhält, wenn man durch das Hauptportal geht, ist einfach atemberaubend“, verspricht Philippe Jost, der zuständige Bauleiter. 47 Prozent der Menschen in Frankreich sagten in einer Umfrage, dass sie Notre-Dame bald besichtigen wollen.
Gemeinsam arbeiten, gemeinsam singen
Die Mitglieder des Chors hingegen kennen diese Ansichten längst, sie hatten sogar einen wesentlichen Anteil an dem so gelungenen Wiederaufbau. Sie sind Bildhauer und Restauratoren, Steinmetze oder Zimmerer – und bilden gemeinsam den „Chor der Gesellen von Notre-Dame“. Gegründet hat er sich während der Zeit, als sich die Angehörigen der verschiedensten Berufsgruppen jeden Tag auf derselben Baustelle trafen, Freundschaften knüpften und irgendwann beschlossen, nicht nur gemeinsam zu arbeiten, sondern auch zu singen.
Felicja Lamprecht sitzt eingehüllt in ihre weiße Winterjacke zwischen den Sopransängerinnen in der Kirche Saint-Séverin, konzentriert den Bewegungen des Dirigenten folgend. Sie ist Hobbysängerin, Künstlerin und Restaurateurin, spezialisiert auf Wandmalereien. Die Brandkatastrophe, sagt sie, sei „ein riesiger Schock“ für sie gewesen, die sich beruflich mit alten Monumenten und Kulturerbe befasst.
Kurz nach dem Unglück wurde sie gefragt, ob sie mit ins Restaurationsteam kommen wolle. Die 38-Jährige war schon auf vielen Baustellen von Pariser Monumenten beteiligt, seit sie nach ihrem Studium in ihrem Heimatland Polen nach Frankreich zog. „Weil es schnell gehen musste, wurden besonders viele Arbeitskräfte auf einmal gebraucht.“
„So etwas vergisst man nie im Leben!“
Gemeinsam mit ihren Kolleginnen kümmerte sie sich um die Restaurierung der Gemäuer und Wandgemälde von zwölf Seitenkapellen im Chorbereich. Einen Satz lässt die junge Frau im Gespräch immer wieder fallen: „So etwas passiert eigentlich nicht in einem Leben!“ Er spiegelt das immerwährende Staunen, die Verblüffung, ja Verzauberung wider, an einer Ausnahmebaustelle wie jener der Kathedrale Notre-Dame mitgearbeitet zu haben.
Einen kleinen Beitrag am Wiedererstrahlen dieses Pariser Symbols geleistet zu haben, dessen Brand die Menschen nicht nur in Frankreich, sondern weit darüber hinaus erschütterte. Die spektakuläre Entwicklung mitzuerleben, die der jahrhundertealte, vom Feuer und den Löscharbeiten gezeichnete Kirchenbau innerhalb von nur gut fünf Jahren durchgemacht hat. Lamprecht zeigt ein Foto, das sie vom Dachbereich von Notre-Dame aus aufgenommen hat. Es bietet eine weite Sicht über Paris. „So etwas vergisst man nie im Leben!“
Millimeterarbeit: „Alles muss dem Original entsprechen“
In ihrem Handy hat sie Dutzende Bilder und Videos von den Arbeiten gespeichert. So kann sie den Unterschied zwischen vorher und nachher zeigen. Dort, wo heute die Wandbilder auf hellen Mauern in kräftigen Farben strahlen, waren die Wände zuvor grau oder schwarz, von Rußspuren gezeichnet, die Gemälde kaum noch erkennbar. Zentimeterhohe Staubschichten und uralte Spinnennetze galt es zu entfernen.
Im Anschluss injizierte sie „wie ein Doktor“ mit einer Spritze Klebematerial hinter jedes Mauerstückchen, um es zu befestigen, dann zu reinigen und die Farbbereiche präzise neu zu füllen. „Wir dürfen uns keinerlei eigene künstlerische Interpretation erlauben, alles muss dem Original entsprechen.“ Millimeter für Millimeter arbeitete sie sich vor. Da das Feuer vom Mittelschiff aus durch einen „Kamineffekt“ nach oben loderte, wurden unter anderem das aus dem 13. Jahrhundert stammenden Balkenwerk, das Dach und ein Teil des Gewölbes zerstört. Doch andere Bereiche wie die Seitenkapellen erwiesen sich als weniger stark in Mitleidenschaft gezogen als zunächst befürchtet.
Seit dem Unglück galten nicht mehr dieselben Regeln
Seit dem Jahr 1864, als der Architekt Eugène Viollet-le-Duc Notre-Dame umfassend umgestaltet hat, der auch den charakteristischen Spitzturm hinzufügte, welcher beim Brand in die Tiefe stürzte und inzwischen ersetzt wurde, gab es keine Restaurierungsaktion der Kapellen. Tatsächlich hatten entsprechende Arbeiten noch vor dem Feuerunglück begonnen. „Normalerweise nimmt das enorm viel Zeit in Anspruch“, sagt Felicja Lamprecht. „Nur galten seit dem 15. April 2019 nicht mehr dieselben Regeln.“
Sie selbst sei – wie viele Experten – skeptisch gewesen, als Präsident Emmanuel Macron bereits am Tag nach der Katastrophe, dem 16. April 2019, bei einer Rede im Fernsehen versprach, die Kathedrale in nur fünf Jahren wiederaufzubauen, und zwar „noch schöner als zuvor“. Als größenwahnsinnig, verblendet oder schlichtweg unwissend wurde er geschimpft, der eine Parallele mit den genialen Bauherren der rund 850 Jahre alten Kathedrale und der heutigen Zeit zu ziehen wagte. Macron tat das wohl auch aus politischem Kalkül, er war stark unter Druck durch die „Gelbwesten“-Protestbewegung, die sich damals auf ihrem Höhepunkt befand. So wollte er den Menschen neue Hoffnung geben, ein Gefühl der Stärke vermitteln, sie motivieren.
Innenrestaurierung in Rekordzeit durch Spenden
Das Land steckt längst in einer weiteren Krise, doch hinsichtlich Notre-Dame hat Macron Recht behalten. Nach nur gut fünf Jahren erstrahlt die Kathedrale in neuem Glanz, auch wenn die Arbeiten an der Außenfassade noch lange fortgesetzt werden müssen. Die Priorität wurde auf den Innenraum gelegt, um ihn möglichst bald wieder für die Gläubigen und die Besucher öffnen zu können. Heute sei bewiesen, dass die Einhaltung der kurzen Frist „nicht nur möglich war, sondern dass alle sie im Grunde zutiefst herbeisehnten“, hieß es aus dem Élysée-Palast anlässlich des letzten Besuchs Macrons der Baustelle Ende November, dem insgesamt siebten.
Möglich war der enorme Kraftakt der Innenrestaurierung in Rekordzeit auch, weil nicht gespart werden musste. 846 Millionen Euro an Spenden aus dem In- und Ausland kamen zusammen. Dadurch konnten in Hochzeiten rund 500 Personen gleichzeitig auf der Baustelle arbeiten.
Aber es gab auch Rückschläge, vor allem am Anfang. Die Arbeiten mussten mehrmals unterbrochen werden, zunächst aufgrund des hohen Bleiaufkommens im Inneren des Gebäudes, dann durch die Corona-Pandemie. „Beim Betreten und Verlassen gab es ein striktes Protokoll, das in der ersten Zeit jeden Tag Stunden in Anspruch nahm“, berichtet Felicja Lamprecht.
„Wir mussten uns komplett wie die Astronauten verkleiden mit einer Schutzkombination, Gesichtsmaske und manchmal Zusatzbeatmung, vorher und nachher duschen.“ Das Prozedere war auch nötig, wenn alle gemeinsam zum Mittagessen in die extra vor Ort eingerichtete Kantine gingen, wo sich die Vertreter der verschiedensten Metiers trafen. Die Arbeit an einer Baustelle schweiße die Beteiligten stets zusammen, sagt Lamprecht – „wie die Schauspieler an einem Filmset“, die sich danach jeweils wieder anderen Projekten zuwenden –, aber diese ganz besonders. Auch deshalb formierte sich der Chor.
Der Chor passt zum mittelalterlichen Geist
Er passe „zum mittelalterlichen Geist von Notre-Dame“, sagt der Bildhauer Philippe Giraud, der einen Teil der Pflanzenmotive im südlichen Querschiff bearbeitet hat. „In der damaligen Zeit, als die Kathedrale erbaut wurde, sangen die Arbeiter auf den Baustellen, es gab Prozessionen und Messen.“ Mit einem Zimmermann verabredete er sich manchmal, um morgens gemeinsam in einer der Kapellen zu singen – „ein ungeheures Privileg“. Der 57-Jährige lebt und arbeitet in der Normandie und wurde angerufen, um das Team der rund 30 Bildhauer zeitweise zu verstärken, wenn beispielsweise die Restaurierung eines Mauerabschnitts rasch abgeschlossen werden musste, um den Zimmerern Platz zu machen.
Für ihn sei die Arbeit nicht nur herausragend gewesen, da Notre-Dame „die Königin der Kathedralen“ sei, schon durch ihren einzigartigen Platz auf einer der Seine-Inseln und die besondere Harmonie, da sie heute nur gotische und neogotische Elemente aufweise, sagt Giraud. „Wichtig war auch die Solidarität der Beteiligten untereinander, die Arbeit in Teams.“ Er wünsche sich, dass auch in Paris ein Modell wie das der Dombauhütte in Köln aufgebaut werden könnte, dank der die fortlaufend Renovierungsarbeiten am Dom fortgeführt werden.
Eine Baustelle wie ein Krankenhaus
Manchmal brachte er Raphaël Vialle als Praktikanten mit, der nur vermeintlich ein ganz anderes Metier hat – Vialle ist Chefarzt in einem Krankenhaus und operiert die Wirbelsäulen von Kindern. „Wie ein Bildhauer arbeite ich mit der Hand, mit denselben Werkzeugen und mache ganz ähnliche Gesten.“ Aus Interesse habe er eine Ausbildung zum Bildhauer gemacht und erhielt so die Gelegenheit, in seinen freien Tagen an der Baustelle Notre-Dame mitzuarbeiten, so der Chirurg, der ebenfalls im „Chor der Gesellen von Notre-Dame“ mitsingt. Er allein wisse, wo sich die kleine Stelle im Südturm befinde, die er bearbeitet habe, doch seinen eigenen Anteil geleistet zu haben, sei „sehr berührend“, sagt Vialle.
„Interessant war zu sehen, dass eine Baustelle ähnlich wie ein Krankenhaus funktioniert, wo die Arbeitenden aus verschiedenen Disziplinen kommen und einander ergänzen.“ Das gemeinsame Ziel aller Beschäftigten in einer Klinik sei die Gesundheit des menschlichen Körpers, bei den Restaurierungsarbeiten war es die Wiederherstellung der Kathedrale. Ein ehemaliger Patient denke immer dankbar an jene zurück, durch die er wieder gesund wurde. „Genauso wird uns die Kathedrale nicht vergessen.“ Und das gelte auch umgekehrt. (rnd)