Brüssel – Investitionen in neue Gas- und Atomkraftwerke sollen in der Europäischen Union unter bestimmten Auflagen als klimafreundlich gelten. Trotz massiver Kritik insbesondere von Umweltschützern nahm die Europäische Kommission am Mittwoch einen entsprechenden Rechtsakt an.
Im Vergleich zu einem ursprünglichen Entwurf wurden die Auflagen für Gaskraftwerke nochmals gelockert. Besonders Deutschland hatte darauf gepocht, die Kriterien für Gas flexibler zu gestalten.
Minister Habeck und Lemke unzufrieden
Während sich ein Sprecher der Bundesregierung am Mittag zunächst zurückhaltend zur EU-Entscheidung geäußert hatte, lehnten Klimaminister Robert Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke den Rechtsakt zur Taxonomie mit deutlichen Worten ab. In einer gemeinsamen Erklärung brachten die Grünen-Politiker insbesondere mit Blick auf die Entscheidung zur Atomkraft ihren Unmut zum Ausdruck. „Ich halte den Rechtsakt in der jetzigen Form für einen großen Fehler, der die Taxonomie als Ganzes stark beschädigt und unsere Klimaziele gefährden könnte”, erklärte Lemke.
Die Regierung werde jetzt beraten, wie sie mit dem Beschluss umgehe, hieß es. Bereits im Januar hatten beide Minister deutlich gemacht, dass aus ihrer Sicht Deutschland den Beschluss ablehnen sollte, wenn er in wesentlichen Punkten unverändert bleibt. „Die für uns notwendigen Veränderungen sehen wir nicht”, bilanzierte Habeck. Zuvor hatten andere Politiker von SPD und Grünen ausdrücklich dafür geworben, den Beschluss zu stoppen. Aus der FDP gab es dagegen Lob für die Einstufung von Gas als nachhaltige Brückentechnologie.
Stopp des Rechtsakts unwahrscheinlich
Das Vorhaben kann nur noch durch eine Mehrheit im EU-Parlament oder gemeinsam von mindestens 20 EU-Ländern abgelehnt werden. Ansonsten tritt der Rechtsakt automatisch in Kraft - was sehr wahrscheinlich ist. Bislang haben sich nur wenige EU-Staaten öffentlich gegen das Vorhaben ausgesprochen.
Österreich kündigte am Mittwoch eine „Nichtigkeitsklage” beim Europäischen Gerichtshof an, der sich auch Luxemburg anschließen will. Auch Spanien, Dänemark, die Niederlande und Schweden haben sich öffentlich gegen die Regelung ausgesprochen.
Mehr Klimaneutralität?
Hintergrund der Einstufung ist die sogenannte Taxonomie der EU - eine Art Kompass für nachhaltige Finanzen. Sie soll Bürger und Anleger dazu bringen, in klimafreundliche Technologien zu investieren, um die Klimaziele zu erreichen. Die EU hat sich vorgenommen, den Treibhausgasausstoß bis 2030 um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken und bis 2050 klimaneutral zu werden. „Der heutige delegierte Rechtsakt mag nicht perfekt sein, aber er ist eine reale Lösung - er bringt uns näher zu unserem Ziel der Klimaneutralität”, sagte Finanzkommissarin Mairead McGuinness.
Er sieht vor, dass Investitionen in neue Gaskraftwerke bis 2030 als nachhaltig gelten, wenn sie schmutzigere Kraftwerke ersetzen und bis 2035 komplett mit klimafreundlicheren Gasen wie Wasserstoff betrieben werden. Im ursprünglichen Entwurf war die Beimischung von klimafreundlichen Gasen schon 2026 vorgeschrieben. Das bedeutet, dass Gaskraftwerke nun unter Umständen länger höhere Anteile an verschmutzendem Erdgas nutzen können. Gleichzeitig muss ein neues Kraftwerk weniger strenge Auflagen erfüllen um zu zeigen, dass es weniger CO2-Emissionen ausstößt als etwa ein Kohlekraftwerk.
Neue Atomkraftwerke sollen bis 2045 als nachhaltig klassifiziert werden, wenn ein konkreter Plan für die Endlagerung radioaktiver Abfälle spätestens 2050 vorliegt. Auch der Umbau von alten Kraftwerken kann als klimafreundlich gelten. Die Nutzung besonderer unfallresistenter Brennstoffe wird allerdings erst 2025 vorgeschrieben. Ursprünglich war geplant, dass dies sofort gilt.
Empörung groß: „Selbstgerechtes Greenwashing”
Umweltschützer und Verbände zeigten sich empört. „Im Gegensatz zur Kommission ignorieren wir ja keine Fakten und stufen diesen Vorschlag als das ein, was er ist: selbstgerechtes Greenwashing”, sagte Luisa Neubauer von Fridays for Future. Greenwashing ist die Einstufung von nicht nachhaltigen Energiequellen als nachhaltig. Die Europäische Investmentbank und die Investorengruppe IIGCC äußerten sich ebenfalls kritisch.
Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang forderte, dass die Bundesregierung gegen das Vorhaben der Kommission stimmen müsse. „Statt Greenwashing zu verhindern, macht die EU-Kommission die Taxonomie selbst zu einem Greenwashing-Instrument.” SPD-Fraktionsvize Achim Post hofft auf eine Mehrheit insbesondere im Europäischen Parlament, um den Vorschlag der Kommission zu verhindern,
FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler begrüßte die Einstufung von Gas als Brückentechnologie hingegen als „grundsätzlich die richtige Entscheidung.” Industrievertreter wie der Bundesverband der Deutschen Industrie zeigten sich über das Vorhaben ebenfalls erfreut. Lob kam auch von der AfD.
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