- Eine Woche lang ist unser Reporter Jonah Lemm kurz vor der EU-Wahl durch Europa gereist, auf der Suche nach dem, was Europa zusammenhält.
- Auf seiner vierten Station trifft er die deutsche Studentin Caroline Bräuniger, die Europa liebt und Macron aktiv unterstützt. So sehr, dass sie bald die doppelte Staatsbürgerschaft will..
- Ob sie Angst vor Le Pen hat? Auch! Aber: „Größter Gegner sind die Nichtwähler.“
Paris – Es ist 6.50 Uhr an einem Freitag und das ist eine schlechte Zeit für das erste Mal. Die Schlange von Menschen, die gleich per Eurostar mit 300 Stundenkilometern und zu wenig Beinfreiheit unter dem Ärmelkanal nach Paris geschossen werden wollen, ist mindestens genauso lang wie der Zug mit seinen 18 Waggons selbst. Die Wartezeit zerfließt in Langeweile. Bis jetzt eher Raritäten-Moment auf meiner Europareise.
Der Eurotunnel als Verbindung zwischen Frankreich und England
Als der Eurotunnel eingeweiht wurde, am 6. Mai 1994, da fürchteten viele Briten nicht minder als den Niedergang ihrer Nation. Tollwut, Giftspinnen, Kartoffelfäule und Killermotten, hirngespinstete die britische Boulevardpresse damals, würden durch die direkte Verbindung zwischen Frankreich und England auf der Insel einfallen. Und das Schlimmste: Franzosen. „Horden mit Knoblauchatem“ vergab die „Sun“ eine eher geht-so-freundliche neue nationale Identität.
Whats-App-Nachricht von meiner Freundin: „Wie läuft's?“ Ich: „Bin am Eurostar. Nachdem mich erst eine dieser fleischgewordenen Grenzkontrollleuchten in eine andere Reihe schickte, weil ich keinen EU-Passport, sondern nur einen Perso habe. Dann eine gelangweilte kaugummikauende Frau, die so laut seufzt, als sie meinen Ausweis in der Hand hält, dass man sie fast schon in den Arm nehmen will. Und danach ernsthaft nochmal Kontrolle, die französische. Zwingt mich meine Mütze abzunehmen. Deute das als Flirt-Versuch.“
Nach Brexit die meistbesuchte Stadt in der EU
Der Rest der Reise erfolgt komplikationsfrei, nach etwas mehr als zwei Stunden komme ich in Paris an und bin bester Dinge. Wärme, Sonne, Leichtigkeit. Aber schon nach ein paar Schritten aus dem Gare du Nord ist natürlich das wesentliche Problem schon klar: Diese Stadt ist großartig und eben das macht sie ja zu einer einzigen Sehenswürdigkeit. Alles hier schon angeschaut, bestimmt auch mal fotografiert, totbesichtigt. Paris ist vor allem Touristen, knapp 14 Millionen pro Jahr; wenn Großbritannien aus der Union austritt, wird Paris die meistbesuchte Stadt in der EU sein.
Das könnte Sie auch interessieren:
Auch an einer sehr großen Kirche, die hier neulich brannte und zu der ich natürlich als Erstes fahre, ist die Stimmung eine einzige Beweisführung des Dagewesenseins. Zwei Frauen machen ein Selfie mit den Polizisten, die den Weg auf die Île de la Cité mit einem Mannschaftswagen versperren. Ich verbringe den Rest des Tages damit, zu den Orten zu fahren, die auf dem Empfehlungsportal „Tripadvisor“ am schlechtesten bewertet wurden. Die unattraktivsten Attraktionen, der Ausweg aus dem ständigen Herumgedränge.
Die unattraktivsten Attraktionen
Station 1: Eine beschmierte Metallbank. Als Gedenken für einen ehemaligen Widerstandskämpfer aus Guadeloupe gegen die Wiedereinführung der Sklaverei durch Napoleon. Sie steht im Osten der Stadt, auf einer dreckigen, kleinen Straße.
Station 2: Das Rauch-Museum. Drei Euro Eintritt für ausgeschnittene Zeitungsartikel, die jemand gerahmt und im Hinterraum eines Kiffer-Shops an die Wand genagelt hat.
Station 3: Ein Park, nicht weit von Notre-Dame, in dessen Mitte alle Unkraut-Sorten auf einmal wachsen, drei Männer auf einer Bank hocken und ein Sixpack Bier leeren. Um 13 Uhr.
Die Tour ist also schnell vorbei, billiges Fazit: Paris kann auch hässlich sein. Manchmal. Ist aber meistens dann doch irrsinnig schön. Zum Beispiel hier, im Quartier Clignancourt, gleich hinter der Basilika Sacré-Cœur, wo sich die sonst flache Stadt den Hügel ergibt. Menschen, die in echt aussehen wie gephotoshopt, gehen vorbei. „Bobo-Viertel nennen wir das hier“, sagt Caroline, „Kurzform für Bourgeois Bohéme.“ Junge Leute, die gut verdienen, trotzdem ökologisch, sozialrebellisch, idealistisch leben.
Paris lieben gelernt
Auch Caroline lebt hier, sie hat eine Wohnung gekauft, gleich in der Nebenstraße von dem Café, in dem wir uns verabredet hatten. Als ich komme, ist sie schon da. Caroline trägt Sommerkleid und die Haare offen, am Handgelenk hat sie ein kleines Schiff tätowiert. Sie sagt, das hier sei ihr Lieblingscafé.
Die Magnetstadt Paris lässt die meisten Menschen nach einer Woche Dauer-Klischee-Überprüfung wieder los, manche behält sie aber bei sich. So wie Caroline, Anfang 30, ursprünglich aus Stuttgart, promovierte Physikerin. Schon im Studium Auslandssemester in Frankreich, danach eine Stelle als Ingenieurin in der Motorentwicklung bei Bosch. Dann die Möglichkeit, sich nach Paris versetzen zu lassen. Seit vier Jahren ist Caroline nun hier, will bleiben, im nächsten Jahr kann sie die doppelte Staatsbürgerschaft beantragen. Das ist die private Geschichte von Caroline Bräuninger.
Flagge zeigen für Europa
Die andere, politische, beginnt Anfang 2017 mit einem YouTube-Video. Als Caroline zum ersten Mal eine Rede von Emmanuel Macron hört, ist der noch Wirtschaftsminister. Politik war Caroline noch nie egal, aber engagiert hatte sie sich auch noch nie. Und dann stand dort dieser Mann und sprach von Europa, von seiner Idee gemeinsamer Institutionen, von einer Erneuerung der EU, die noch zu bürokratisch und zu undemokratisch sei. Caroline ging auf die Website der von ihm gegründeten proeuropäischen Partei „La République en Marche“. Sie überlegte nicht lang und wurde Mitglied. In einer Partei, die sie selbst gar nicht wählen darf.
Wenige Wochen später, im April 2017, steht Caroline Bräuninger zwischen Tausenden begeisterten Menschen, die Flaggen schwenken. Auch sie hält eine Fahne in der Hand, es ist die der EU. Sie alle sind gekommen, in die Multifunktionsarena, um Macron live sprechen zu hören. Die Präsidentschaftswahl ist nur noch ein paar Tage entfernt. Macron wird sie gewinnen und En Marche wenig später auch noch die Mehrheit im französischen Parlament holen.
Unermüdlicher Türwahlkampf im Viertel der Ärmeren
Der Grund für den Sieg ist auch Caroline. „In den Bobo-Vierteln wählen uns die Leute ja sowieso“, sagt sie. Deswegen war ihre Aufgabe damals von Anfang an: Türwahlkampf machen. In den Quartieren des 18. Arrondissements, die als ärmer, weniger weltoffen gelten. Von morgens bis abends. Klingeln, Flyer in der Hand. Viel Gegenwind, Beleidigungen, aber auch schöne Momente. Ihren Freund lernte sie kennen, auch der bei „En Marche“ engagiert. Freizeit hatten sie beide eigentlich keine.
Caroline redet darüber, dass Angela Merkel nicht mitzieht, wenn Macron eine Transferunion in der EU fordert. Darüber, dass viele Franzosen nicht zur Europa-Wahl gehen, weil sie es gar nicht gewohnt sind, nicht nach Mehrheitswahlrecht abzustimmen und denken würden: „Gehe ich halt beim zweiten Wahlgang hin.“
Ist die nach zwei Jahren Macron immer noch so überzeugt? „Voll und ganz.“ Und ist das nicht wahnsinnig frustrierend, Wahlkampf zu machen, aber selbst keine Stimme für die eigene Partei zu haben? „Durch mein Engagement habe ich ja sogar mehr als eine Stimme, wenn ich Menschen überzeuge, für En Marche zustimmen. So sehe ich das“, sagt sie.
Stimme für „En Marche“ bei der EU-Wahl
Am 26. Mai, bei der Europa-Wahl, kann Caroline Bräuninger nach über zwei Jahren Mitgliedschaft zum ersten Mal für ihre Partei stimmen. Auslandsdeutsche können dort wählen, wo sie gemeldet sind und auch die Kandidaten, die dort eben antreten. Und, frage ich zum Abschluss, Angst vor Marie Le Pen? „Größter Gegner sind die Nichtwähler.“ Das wiederum, denke ich, klingt, zwischen all dem Nationalitätenkuddelmuddel, nach einer sehr landesunabhängigen Sorge.