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Flutkatastrophe im AhrtalNeue Ermittlungen legen Komplettversagen der Behörden nahe

Lesezeit 8 Minuten
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Zwei Brüder in Altenahr nach der Flutkatastrophe

  1. Rund fünf Monate nach der Flut offenbaren neue Ermittlungen, wie es zu verheerenden Fehleinschätzungen im Ahrtal kam.
  2. Unser Autor hat in einer umfangreichen Recherche die Geschehnisse während der Flut-Tage aufgearbeitet.

134 Menschen tötete die Flut im Ahrtal nach den extremen Regenfällen am 14. und 15. Juli, sie beschädigte und zerstörte hunderte Häuser. Viele Stunden verbrachten die Menschen in Angst und Schrecken. Auch die Auswirkungen werden sie noch lange spüren.

Der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD) schaute sich bei einer Stippvisite am 14. Juli gegen 19.30 Uhr in der Technischen Leitstelle (TEL) des Landkreises Ahrweiler nur kurz um. Gemeinsam mit dem Landrat Jürgen Pföhler (CDU) ließ er sich vom Krisenstabsleiter über die Hochwasser-Lage informieren. Dann folgte ein Foto, das per Twitter veröffentlicht wurde. Beruhigt konstatierte der Innenminister: „Ihr habt ja alles im Griff.“ Danach fuhr er mit seinen Personenschützern zurück nach Mainz.

Am Nachmittag stand Schuld schon unter Wasser

Die Fehleinschätzung hätte nicht größer sein können. Bereits dreieinhalb Stunden zuvor hatte die Verbandsbürgermeisterin von Altenahr, Cornelia Weigand, ihren Landrat Pföhler gebeten, den Katastrophenalarm auszulösen. Der Starkregen hatte in der mittleren Ahrregion zu einer angespannten Hochwasserlage geführt. Schon am späten Nachmittag stand der Eifel-Ort Schuld unter Wasser, weitere Orte wurden geflutet. Bewohner mussten mit dem Hubschrauber gerettet werden.

Doch der Landrat reagierte nicht, vielmehr posierte Pföhler am Abend wie beschrieben mit dem Minister. Danach verabschiedete er sich aus der Krisenzentrale im Keller der Kreisverwaltung und ward bis zum nächsten Tag nicht mehr gesehen. Das ergaben die Zeugenaussagen der Mitarbeiter in der Leitstelle.

Twitter Pföhler und Lewentz

Der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD) und der Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), machen sich am Abend des 14. Juli 2021 ein Bild beim Hochwasser-Krisenstab: Dieses Foto verschickte die Kreisverwaltung.

Es ist nur eine der fragwürdigen Begebenheiten rund um die größte Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz, die der Kölner Stadt-Anzeiger nun knapp ein halbes Jahr danach in einer Serie aufarbeitet. Wochenlange Recherchen nebst Unterlagen zu den Abläufen in der Flutnacht offenbaren ein katastrophales Katastrophenmanagement.

Die Staatsanwaltschaft Koblenz und das rheinland-pfälzische Landeskriminalamt erforschen seit Monaten die Ursachen, die 134 Menschen töteten und 766 verletzten. Tausende Flutopfer beklagen Schäden in Milliardenhöhe. Das Verfahren richtet sich gegen den inzwischen zurück getretenen Landrat und dessen Krisenstabsleiter wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen.

Neun Stunden Untätigkeit

Spätestens eine Stunde nach dem Foto-Shooting an jenem 14. Juli im Keller der Einsatzleitung in Ahrweiler, so der Verdacht, hätten die Verantwortlichen die Bevölkerung verstärkt warnen und womöglich Evakuierungen einleiten müssen.

Zwischen den ersten Alarmmeldungen im Eifel-Ort Schuld um 17 Uhr und der Überflutung von Sinzig im unteren Ahrtal vergingen neun Stunden, aber die die Anwohner in der unteren Ahrregion wurden nicht rechtzeitig alarmiert. Außer über die Smartphone-App Katwarn und über einige lokale Feuerwehren erreichten Warnungen einen Großteil der Bevölkerung nicht oder nicht rechtzeitig.

Befragt zu den Vorwürfen gegen den Landrat Pföhler, erklärte sein Verteidiger Olaf Langhanki: „Bei einem Anfangsverdacht handelt es sich um die niedrigste Verdachtsstufe, die das deutsche Strafprozessrecht kennt. Ein Anfangsverdacht ist Grundlage dafür, dass überhaupt Ermittlungen durchgeführt werden können. Innerhalb des Ermittlungsverfahrens werden wir Tatsachen fundiert herausarbeiten, so dass Herrn Dr. Pföhler keinerlei Verfehlungen zur Last gelegt werden können.“

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Die von der Flut zerstörte Eisenbahnbrücke über dem Fluss Ahr in Altenahr.

Nun haben Strafverfolger die Geschehnisse akribisch aufgearbeitet, dutzende Verantwortliche auf Landes- und Kreisebene nebst zahlreicher Flut-Opfer vernommen. Von den sichergestellten gut 15.000 Notrufen, die seinerzeit bei den Leitstellen der Feuerwehr eingingen, wurden mehr als 6000 ausgewertet.

Die bisherigen Ermittlungen legen ein Komplettversagen der Behörden bis hoch in die Landesregierung nahe. Während die Einsatzkräfte von Feuerwehr, DRK und THW sowie Bundeswehr ihr Möglichstes taten, um Menschenleben zu retten, wirkte das Krisenmanagement der zuständigen Regierungsstellen und der nachgeordneten Landesbehörden den Unterlagen zufolge äußerst dilettantisch. Das Hilfsbesteck war für diese Naturkatastrophe bei Weitem nicht ausgelegt. Die Mainzer Regierungszentrale überließ den Kampf gegen die Fluten größtenteils den lokalen Krisenstäben.

Der Präsident der übergeordneten Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD), Thomas Linnertz, konnte aber bereits an jenem Abend des 14. Juli das Ausmaß der Katastrophe erahnen. Bis nach Mitternacht hatte der ADD-Chef mit Mitarbeitern die Krisenbezirke wie die Vulkaneifel oder den Kreis Bitburg-Prüm angefahren. Trotzdem übernahm die Behörde mit ihren Ressourcen nicht den landesweiten Katastrophenschutz. Das Landesrecht ließe das zwar zu, räumte Linnertz später ein, aber so einen Fall habe es bisher in Rheinland-Pfalz nicht gegeben.

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Thomas Linnertz, Präsident der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD, r)  und rheinland-pfälzische Politiker gedenken während einer Sitzung des Bildungsausschusses im Ahrtal mit einer Schweigeminute der Opfer der Flut.

Ende August dankte Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) in einer Regierungserklärung den Rettungskräften wortreich, sprach aber nicht über die mangelnde Informationsketten und die fehlende Infrastruktur zur Bekämpfung von Naturkatastrophen. Letztlich versetzte dieser Mangel Krisenstäbe wie im Landkreis Ahrweiler in der Flutnacht in einen Blindflug mit seinen Hilfsmaßnahmen.

So berichtete der Chef des Landesamtes für Umwelt den Ermittlern, dass man an jenem Julitag die jeweiligen Hochwasserprognosen auf Grund der Meldungen des Deutschen Wetterdienstes verfasst habe. Zugleich räumte er ein, dass diese Voraussagen zum Zeitpunkt ihrer Weiterleitung an die Krisenstäbe völlig veraltet waren und etwa vier Stunden hinter der aktuellen Situation zurück lagen. Auch führten nach seinen Angaben manuelle Übertragungsfehler aus der Datenbank dazu, dass sein Amt kurz vor 20 Uhr den Ahr-Pegelstand von fast sieben Meter auf 5.30 Meter runterstufte. Ein fataler Fehler, durch die Falschmeldung wurden die lokalen Hilfs-Zentralen längere Zeit in die Irre geführt.

Ausfälle bei der Technik

Weitere Probleme entstanden: Gegen 21 Uhr fiel die Pegelmessstation Ahrweiler aus, deshalb fehlten hier wichtige Daten. Auch konnten die Hochwasseranalytiker keine Rückstau-Effekte berechnen. Wie ein Pfropf verstopften Treibgut und Totholz an jenem Katastrophentag den Durchfluss an Brücken und anderen Engstellen, so dass sich dort das Wasser staute.

Und so verlängerte sich nach und nach die Fehlerkette: Die Technische Einsatzleitung (TEL) der Kreisverwaltung Ahrweiler war laut eigenen Aussagen mit dem Krisenfall weit überfordert. In einem völlig untauglichen Kellerraum untergebracht, streikte demnach bald das Festnetz, gefolgt vom Stromausfall gegen Mitternacht, das Handynetz funktionierte kaum. Einzig ein Notaggregat hielt den Laden am Laufen. Auch fiel der Digital-Funk aus. Die so genannte „Funkbude“ konnte über die analogen Frequenzen kaum noch jemanden draußen erreichen. Die Leitstellen der örtlichen Feuerwehren hoben den Hörer nicht mehr ab, weil sie völlig überlastet waren. Insofern sei es schwierig gewesen, erinnerte sich einer der TEL-Katastrophenschützer, wirklich zu wissen, was vorging.

Abgeschnitten vom Einsatzgeschehen

Der Krisenstab Ahrweiler war häufig abgeschnitten vom Einsatzgeschehen in den Ortschaften. Zudem gingen nach Aussagen einiger Beteiligter nur spärlich Meldungen über die Stärke der Einsatzkräfte vor Ort ein. Die Wehren der jeweiligen Kommunen arbeiteten mit dem Cobra-Melde-System. Darüber liefen die Einsätze von der Leitzentrale in Koblenz vor Ort ein. Von diesem Geschehen bekam die TEL in Ahrweiler aber kaum etwas mit.

Nur bruchstückhaft erreichten die Hilfskoordinatoren nach eigener Aussage die Schreckensmeldungen vor Ort: Am Feuerwehrhaus Ahrweiler saßen zwei Wehrleute auf einem Baum, die erst nach Stunden gerettet werden konnten. Im Abschnitt Adenau wurde eine Feuerwehrfrau vermisst, die später nur noch tot geborgen werden konnte. Häuser mussten so schnell wie möglich geräumt werden. In Adenau wurden elf Personen in eingestürzten Gebäuden vermisst. Campingplätze liefen voll, eingeschlossene Gäste in Stahlhütte Dorsel oder Sahrtal warteten auf ihre Rettung. Ein Altenheim mit 80 Bewohner sollte evakuiert werden. Doch die Hilfskräfte drangen nur sehr schwierig bis zum Gebäude vor.

Helikopter blieben am Boden

Viele Helikopter blieben wegen des schlechten Wetters auf dem Boden, Einsatzfahrzeuge des THW und der Feuerwehr fielen aus. Es dauerte, ehe weitere Rettungsboote in den Flutgebieten eintrafen. Erst um 21.35 Uhr alarmierte die TEL einen Verbindungsoffizier der Bundeswehr, um weitere Hubschrauber und Hilfskräfte an die Ahr zu lotsen. Eine halbe Stunde vor Mitternacht erreichte den Krisenstab die Nachricht, dass eine Welle Bad Neuenahr überflutete. Da es nur bruchstückhafte Infos über den Verlauf der Flutwelle gab, habe es kaum Warnungen an die Bevölkerung gegeben, konstatierte der Offizier im Rückblick. „Die Dramatisierung der Situation kam … vor allem deshalb, weil wir als Bundeswehr so spät alarmiert wurden.“

Zudem ergaben die Ermittlungen, dass die Sirenen im Landkreis Ahrweiler nur die Feuerwehr alarmierten. Theoretisch kann auch die Bevölkerung durch ein spezielles Signal gewarnt werden. Dieser Mechanismus funktioniert aber nur über die digitale Schiene. Der Kreis Ahrweiler alarmierte jedoch nur analog. Die Anwohner konnten so nicht gewarnt werden.

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Immer noch finden sich überall im Ahrtal Flut-Spuren.

„Die Lage hat uns überlaufen“, bekannte ein ehemaliger Brandinspekteur, der ebenfalls in der TEL saß. Zu spät habe man von Notrettungen in Schuld und anderswo erfahren, um großflächige Räumungsmaßnahmen einzuleiten.

Wie fatal sich das Informations-Defizit auf die Notlage auswirkte, schilderte der Bürgermeister von Altenahr, Rüdiger Fuhrmann: Nachdem der Digitalfunk ausgefallen war, konnten die einzelnen Kommunen nicht mehr miteinander kommunizieren. Früher habe man das analoge 4-Meter-Funkband benutzt, um problemlos mit allen Bezirken sprechen zu können.

Nachdem der Pegel unaufhörlich stieg, stand die örtliche Feuerwehr dem Geschehen machtlos gegenüber. Gegen 20 Uhr ging nach Fuhrmanns Aussage nichts mehr. Für eine geordnete Evakuierung sei es zu spät gewesen, man hätte einzig die Leute warnen können, sich in höheren Lagen in Sicherheit zu bringen.

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Fassungslos schauten die Bewohner zu, wie das Wasser weiter anstieg. Die Straßen waren unpassierbar, die Brücke überflutet. Der Ortsteil Altenburg lief voll wie eine Badewanne. Fünf Menschen kamen in jener Schreckensnacht in der Gemeinde ums Leben. Fuhrmanns Fazit fiel drastisch aus: Seiner Meinung nach sei es schwerlich zu verhindern gewesen, dass in Altenahr Leute sterben. „Aber es ist schlimm, dass flussabwärts danach auch noch Menschen ertrunken sind. Das hätte verhindert werden können, wenn die Informationenweitergabe stattgefunden hätte.“

Im Krisenstab Ahrweiler war man sich bis zum nächsten Morgen nicht über das ungeheure Ausmaß der Flutwelle im Klaren. Vielmehr ging die Einsatzleitung lange Zeit von einem größeren Hochwasser aus. Nichts wirklich Dramatisches, im Ahrtal kennen sie solche Situationen.

Als einige TEL-Mitarbeiter aber völlig überarbeitet aus dem Keller der Kreisverwaltung ins Freie stiegen, wurde ihnen erst die wahre Dimension der Katastrophe klar. Man habe nicht gewusst, dass Brücken und Häuser verschwunden seien, berichtete ein Mitglied des Krisenstabes.