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Franz Müntefering über Angela Merkel„Cool ist sie schon“

Lesezeit 7 Minuten

Franz Münterfering (80) im Interview

„Sie ist sehr normal und das auf hohem Niveau“. Franz Müntefering war von 2005 bis 2007 als Vizekanzler und Arbeitsminister an der Seite von Angela Merkel. Wir haben mit ihm über die Jahre der Zusammenarbeit gesprochen, über Merkels wenig authentischen Seitensprung mit der FDP und darüber, dass Merkel nur Kanzlerin wurde, weil Guido Westerwelle 2005 auf einen Anruf Münteferings nicht reagierte.

Herr Müntefering, am Abend des Wahlsiegs von Jürgen Rüttgers bei der Landtagswahl 2005 in NRW haben Sie Neuwahlen im Bund angekündigt, aus denen dann Merkel als Kanzlerin hervorging. Haben Sie diesen Schritt im Nachhinein bereut?

Franz Müntefering Nein. Im Verlauf des Jahres 2005 hatte sich in der Fraktion und dann auch in den Ländern abgezeichnet, dass unsere sehr schmale Mehrheit von drei Mandaten immer weiter bröckelte. Ministerpräsidentin Heide Simonis scheiterte in Schleswig-Holstein bei der Wiederwahl zur Ministerpräsidentin. Acht Wochen vor der NRW-Wahl wussten wir, wenn auch das schief geht, haben wir keine Kanzlermehrheit mehr im Bundestag. Die Logik der Situation waren Neuwahlen.

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Angela Merkel ist seit 16 Jahren Bundeskanzlerin. Hätten Sie bei ihrer Amtsübernahme 2005 gedacht, dass sie so lange durchhält?

Nein. Sie war nicht der Typ wie Gerhard Schröder, der sich an der Rampe besonders durchsetzungsstark zeigte. Auch am Wahlabend 2005 war sie angeschlagen, die Union hatte mit ihr 3,3 Prozent Minus. Ich habe als SPD-Vorsitzender die Möglichkeit einer Ampel mit Grünen und FDP ausgelotet. Das wäre eine stabile Mehrheit gewesen. Aber der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle hat per Anruf seiner Sekretärin eine Kontaktaufnahme abgelehnt. Hätte er mitgemacht, wäre Frau Merkel nicht Kanzlerin geworden.

Im ersten Kabinett Merkel waren Sie bis 2007 Vizekanzler und Arbeitsminister. Wie war die Zusammenarbeit mit ihr?

In den Koalitionsverhandlungen habe ich gedacht: Cool ist sie schon. Sie hat ihre Interessen wahrgenommen und das habe ich respektiert. Wir wollten auch nicht gegeneinander opponieren, sondern gemeinsam regieren, für das Land das Bestmögliche tun. Die Zusammenarbeit war sachorientiert, nicht kumpelhaft.

BTW 2005

Die Kanzlerkandidatin der CDU/CSU, Angela Merkel, und Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) treffen 2005 im Pressezentrum des Fernsehstudios in Berlin-Adlershof zu ihrem TV-Duell aufeinander.

Was sind Merkels herausragende Eigenschaften und was ihre größten Schwächen?

Sie ist sehr normal und das auf hohem Niveau. Das ist gut, finde ich. Aber sie erklärt sich nicht hinreichend. Ob sie das nicht will oder nicht kann, das weiß ich nicht.

Merkel hatte auf ihrem Weg ins Kanzleramt zuerst mit ihrem Ziehvater Helmut Kohl gebrochen und dann eine Phalanx einflussreicher CDU-Männer aus dem Weg geräumt. Ab wann hatten Sie Merkel als erstzunehmende Konkurrentin auf dem Radar?

Ab 2001. Sie startete die Kommission „Neue Soziale Marktwirtschaft“, ein Konglomerat sozialer Demontage bei Arbeitnehmerrechten, bei Gesundheit und Pflege. Nachdem Stoiber 2002 scheiterte, hielt Frau Merkel 2003 im Herbst ihre große Reformrede zu diesem Thema und folgte dabei vor allem den Ansichten von Friedrich Merz. Für meinen Geschmack passte das nie zu ihr. Sie war keine Neoliberale im klassischen Sinne, hatte keinen Sinn für den großen Kapitalismus, sondern war geprägt von einer sozialen Einstellung, die sie aus der DDR mitgebracht hatte. Trotzdem wollte sie mit diesem Programm marschieren und so Kanzlerin werden. Als es dann zur GroKo kam, musste sie auf ihre Reform verzichten. Das war unsere Bedingung. Auch dass Merz und seine Gesinnungsfreunde nicht im Kabinett auftauchten, war ein Zeichen. Diese GroKo hatte starke sozialdemokratische Züge. Der etwas theatralische Seitensprung mit der FDP 2009 bis 2013 passte deutlich weniger zu Merkel.

MünteMerkel1

„Cool ist sie schon“ - Müntefering und Merkel kamen gut miteinander aus. Auch wenn der ehemalige Vizekanzler das Verhältnis als „eher sachorientiert, nicht kumpelhaft“ beschreibt.

Es kamen immer wieder Vorwürfe auf, Merkel habe in ihrer Amtszeit einfach sozialdemokratische Themen einverleibt und die SPD damit verzwergt. Trägt Merkel wirklich die Schuld daran, dass die SPD zwischenzeitlich so miserabel dastand?

Diese Vorwürfe kenne ich nicht. Ich kenne wohl die, sie habe oft sozialdemokratische Politik gemacht und damit der Union geschadet. Wenn das so ist oder wäre, weshalb soll ich das schlecht finden? Die SPD wollte sozialdemokratische Politik und wir sorgten doch für die Mehrheiten.

BTW 2002

Mit erhobenen Armen steht Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) am 2002 auf dem Leipziger Marktplatz vor dem Schriftzug „Deutschland“

Auch Sie sind schon heftig mit Merkel aneinandergeraten. 2009, da waren Sie SPD-Chef, eskalierte der Streit zwischen Ihnen und der Kanzlerin. Sie warfen ihr unter anderem wegen geplanter Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung Wortbruch vor und sagten, Sie wünschten sich gerade in Zeiten der Krise Schröder zurück. Aber ist Merkel nicht auch deshalb drei Mal wiedergewählt worden, weil sie nach Meinung der Wählerinnen und Wähler Krisen besonders gut konnte?

In der öffentlichen Wahrnehmung waren all ihre Legislaturen geprägt von

welterschütternden Ereignissen, in denen sie sich immer klug verhalten hat. Sei es Finanzkrise, Fukushima, Flüchtlingswelle oder jetzt die Pandemie. Auch wenn sie sich bei manchen Entscheidungen als politisch durchaus gelenkig erwiesen hat, ist sie nie aus der Haut gefahren oder hat Panik verbreitet. Die Ruhe ist ihre Stärke. Das kam auch bei den Menschen so an. Wie sie das mit sich selbst ausmacht, ist für mich immer ein Geheimnis geblieben. Ganz unbeeindruckt kann man ja davon nicht sein. Ob sie nachts wach liegt oder immer noch gut schlafen kann, weiß ich nicht.

Meinen Sie, Schröder hätte als Krisenmanager genauso gut funktioniert?

Das glaube ich schon. Da war keine Krise dabei, die Gerhard Schröder nicht gekonnt hätte. Aber auf seine Weise. Er hat Politik auch an der Rampe gemacht, war laut, unbeschwert, immer vorne. Die Leute haben gewusst, was er eigentlich wollte. Bei Merkel musste man oft nach ihrer Entscheidung suchen. Sie hat oft gewartet, gewartet und gewartet. Manchmal war sie schon fast sphinxhaft. Das ist nicht so spannend und pointiert. Aber auch nicht dumm. Die Ruhe hat ihr manchmal geholfen, eine bessere Übersicht zu haben.

MünteMerkel

Merkel verabschiedet 2007 ihren Vizekanzler Müntefering. Ihr Geschenk: Ein schwarz-roter Fußball.

Wie viel Instinkt, wie viel Überzeugung und wie viel kaltes Kalkül steckt in der Politik Merkels?

So eine Frage kann man nur stellen, wenn man Instinkt, Überzeugung und natürlich kaltes Kalkül für Gegensätze oder doch Widersprüchlichkeiten hält. Was sie aber nicht sind. Alle drei sind im Spiel und legitim, wenn man die politische Lage analysiert und Weg und Zeitpunkt fürs Handeln sucht.

Merkels Entschluss, im Jahr 2015 unkontrolliert Tausende Flüchtende ins Land zu lassen, galt einigen als Akt der Menschlichkeit, in der eigenen Partei allerdings wird sie bis heute dafür scharf kritisiert. In der jetzigen Afghanistan-Krise sagte sogar Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet, dass sich 2015 nicht wiederholen dürfe. Wie sind Ihre Erinnerungen an diese Zeit?

Ich war 2015 nicht mehr im Bundestag. Ich sage aber gerne, dass ich ausdrücklich einverstanden war mit ihrem und dem Handeln des Bundestages in seiner Mehrheit. Ihre Erzählung dazu war zu leise und die exekutive Aufarbeitung zu oft unbefriedigend. Aber unsere demographischen Daten weisen Zuwanderung als sinnvoll aus. Im Durchschnitt der Jahre ist sie nicht zu hoch und manchem reicht es aus, dass da Menschen konkret gerettet wurden.

BTW 2013

Der Screenshot zeigt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Kanzlerkandidat Peer Steinbrück (SPD) während des TV-Duells am 01.09.2013 in den Fernsehstudios in Berlin-Adlershof.

In vielen westlichen Ländern der Welt gilt Merkel als bedeutendste Politikerin überhaupt, an einer Elite-Uni in den USA wurde sie bei einem Abschiedsbesuch wie ein Star gefeiert, als Person, die sich spätestens nach dem Ausscheiden Obamas wie keine andere für Demokratie, Toleranz und eine freiheitliche Gesellschaft eingesetzt habe. Wo sehen Sie den Platz Merkels in der Weltgeschichte?

Ich denke, die Weltgeschichte erkennt man nicht so schnell. In 50 oder 100 Jahren kann man bestimmt mehr dazu sagen. Aber Frau Merkel wird sich über eine ordentliche Platzierung freuen dürfen. Aber sie wird daraus auf ihre Art nicht viel Aufhebens machen. Ich habe übrigens auch nichts dagegen, dass sie gut wegkommt. Wir waren ja meistens dabei.

Es liegen 16 Jahre Kanzlerin Merkel hinter der Bundesrepublik, davor gab es – unterbrochen durch eine rot-grüne Regierung – 16 Jahre Helmut Kohl. Ist es an der Zeit, die Amtszeiten für die Kanzlerschaft zu begrenzen?

Nein, es müssen uns andere Methoden einfallen, die Tendenz zum Präsidialsystem auszubremsen.

In welchem Kanzlerkandidaten steckt mehr Merkel – in Armin Laschet oder in Olaf Scholz? Reichen die 16 Jahre oder wünscht man sich mehr Merkel?

Dass ich 100 Prozent Scholz in echt für die beste Lösung halte, muss ich nicht lange begründen. 1998 half uns Kohl. „Kohl muss weg“, war populär. 2021 kandidiert Frau Merkel nicht wieder. „Laschet besser nicht“, ist im Schwange.