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Geschäft mit der AngstWie „Papa Kralle“ deutsche Senioren abzockte

Lesezeit 7 Minuten
Papa Kralle

„Papa Kralle“ inmitten seiner Komplizen auf dem „Thron“.

Sein Mercedes SUV XXL-Sonderanfertigung wirkt auf Facebook-Fotos wie ein Panzer auf der Straße. Halit D., Mitglied des türkisch-libanesischen Saado-Clans, protzte gerne in den sozialen Netzwerken mit dicken Schlitten und einem Haufen Bargeld. Einst aus dem Sauerland in seine türkische Heimat abgeschoben, mimte der mutmaßliche Chef einer weit verzweigten Betrüger-Bande auf Selfies den Supergangster. „Ich ficke den deutschen Staat täglich“, prahlte der bärtige Mann. Mitunter posierte D. auch mal gerne auf einem vergoldeten Stuhl – wie ein Thron sah der aus.Mit seinen beiden Brüdern zockte D., der sich Papa Kralle nannte, über ein Callcenter im türkischen Badeort Izmir Tausende Rentner in Deutschland ab. Dabei gaben sich die Trickbetrüger als Polizisten aus.

„Hallo Frau B., hier ist Kommissar Bach von der Kriminaldirektion. (Die Stimme wird laut) Haben Sie alle Türen und Fenster verschlossen?“ Die Angerufene reagiert perplex: „Wieso, warum?“ Der Anrufer versetzt die Rentnerin in Mülheim/Ruhr in Panik: „Wir haben in ihrer Straße drei Einbrecher festgenommen, andere sind noch flüchtig. Bei den Festgenommenen wurde eine Liste gefunden, darauf steht ihr Name mit dem Vermerk »hat viel Bargeld«, woher wissen diese Leute das?“ Hektisch rennt die Seniorin durch ihre Wohnung. Der Anrufer fragt: „Haben Sie Geld oder Schmuck zu Hause?“

Bild 1 Halit Demir

„Papa Kralle“ sagt: „Ich mache im Monat 250 000 durch meine Betrugsmasche.“

Plötzlich gellt eine Polizeisirene durch die Straße. Mit Blaulicht fährt ein Streifenwagen am Haus vorbei. Der falsche Polizist aus dem Callcenter bekommt das Geschehen mit und nutzt den Moment: „Meine Kollegen fahren gerade vorbei, die haben einen flüchtigen Täter gesehen.“ Die Rentnerin ist sich nun sicher, dass es sich bei dem Anrufer um einen echten Polizisten handelt. Dass die Betrügerbande des Halit D. die Streife über einen anonymen Anruf auf der nahe gelegenen Wache mit dem Hinweis auf angebliche Diebe ins Viertel gelotst hat, ahnt sie nicht.

Alles zum Thema Herbert Reul

Peu a peu gibt die Seniorin alle gewünschten Infos preis. Sie schöpft keinen Verdacht. Immerhin erscheint auf dem Display durch eine Spoofing-Software hinter der örtlichen Vorwahl die Polizeinotrufnummer 110. Mitunter wechseln die Betrüger die Rollen, ein angeblicher Vorgesetzter namens Oberkommissar Schwarz schaltet sich ein. Zur Sicherheit soll Frau S. ihr Bargeld in eine Tüte packen, „da kommt gleich jemand vorbei und holt ihr Erspartes ab. Er bringt es in Sicherheit.“

München, Stuttgart, Köln, Düsseldorf – allerorten legen Trickbetrüger-Banden aus der Türkei betagte Deutsche herein. Inzwischen ist es den Ermittlern gelungen, unter den Tätern auch Clan-Angehörige zu identifizieren. Mal geht es um 20 000 Euro, mal um Millionenbeträge. Mitunter verleiten die Anrufer, auch Keiler genannt, ihre Opfer dazu, zur Bank zu gehen, ihr Konto aufzulösen und den Betrag so genannten „Abholern“ auszuhändigen oder an einem vereinbarten Ort zu deponieren, manche verkaufen gar ihr Haus oder übergeben Goldbarren.

„Insgesamt gehen wir von acht Callcentern in der Türkei aus, die in Deutschland alte Menschen ausnehmen“, erläutert Oliver Müller (Name geändert), Chef einer Ermittlungskommission (EK) im Landeskriminalamt NRW. Anfang Dezember ließen die Strafverfolger in Zusammenarbeit mit Kollegen in München und den türkischen Behörden die beiden größten Telefonzentralen hochgehen. Dabei wanderten Halit D., seine beiden Brüdern und drei weitere Komplizen in U-Haft – unter anderem wegen bandenmäßigen Betrugs. Beschlagnahmt wurden Rolex-Uhren mit Brillanten, fünf Kilogramm Gold, 1,5 Millionen Euro in bar sowie 41 Luxusautos und 87 Immobilien, darunter drei Hotels. Die Vermögenswerte werden auf 105 Millionen Euro geschätzt.

Ein einzigartiger Coup der deutschen und türkischen Strafverfolger. Normalerweise wähnen sich Verbrecher in ihrer türkischen Heimat sicher. Denn: Oft verlaufen deutsche Rechtshilfeersuchen in Ankara im Sande. Dieses Mal aber konnten die Ermittler führende türkische Kollegen bei einem Treffen des Bundeskriminalamts (BKA) für ihr Verfahren gewinnen.

16.000 Fälle analysiert

Ins Rollen gerieten die Nachforschungen im Herbst 2017. Nach der Analyse von 16 000 Fällen hatte die Abteilung für strategische Kriminalitätsbekämpfung eine Expertise über den Modus Operandi und die mutmaßlichen Hintermänner entwickelt. „Es war klar, dass die betrügerischen Aktionen durch Callcenter in Izmir und Antalya ausgeführt wurden“, erläutert der Leitende Kriminaldirektor der Abteilung, Wolfgang Hermanns. „Dreiviertel der Opfer waren Frauen und meist 80 Jahre alt oder älter.“

Im Jahr darauf startete das LKA NRW mit den Münchner Kollegen 2018 die Jagd nach den Drahtziehern. „Ziel war es, die Hintermänner in der Türkei nebst ihren kriminellen Callcentern auszuschalten“, sagt Thomas Jungbluth, Chef des LKA-Ressorts Organisierte Kriminalität (OK). Dabei fügte es sich, dass man einen Insider fassen konnte, der die Namen der Drahtzieher und die Standorte der Callcenter preisgab.

Zu den großen Matadoren zählte Amar S., 32, der zum Bremer Miri-Clan gehört. In Deutschland füllte er Hunderte Strafakten, bevor er nach einem Raubüberfall 2012 während eines Prozesses aus dem Bremer Landgericht in die Türkei floh. Dort baute er nach Erkenntnissen der Ermittler das betrügerische Geschäftsmodell auf.

Teil der Beute

Teil der Beute: Schmuck von den meist weiblichen Opfern

Bei ihm sollen die aus NRW stammenden Gangster um Halit D. gelernt haben. Irgendwann eröffneten die drei Brüder aus dem Sauerland ihr eigenes Callcenter. „Diese Leute haben die Masche mit dem falschen Polizisten perfektioniert“, sagt EK-Leiter Müller. Von 300 Anruf-Versuchen pro Tag führten im Schnitt drei zum Erfolg. Mitunter wurden die Opfer von den Betrügern noch verhöhnt. „Vor lauter Scham zeigen viele den Betrug nicht an“, weiß Kriminalhauptkommissar Müller, „es gibt sogar welche, die leugnen den Vorfall, damit die Familie nichts davon erfährt.“

Der falsche Kommissar Bach hat Frau E. aus Neuss weisgemacht, dass der Kassierer ihrer Bank heimlich Kundenkonten leerräumt. Nun bittet der vermeintliche Ermittler die vermögende Rentnerin, 30 000 Euro von ihrem Konto abzuheben und einem Kollegen zu übergeben, „um die Fingerabdrücke des verdächtigen Kassierers überprüfen zu können“. Frau E. händigt den Gaunern den Betrag aus.

Von der Türkei aus durchsuchen die Kriminellen Telefonbücher in Deutschland nach alten Namen wie Elise oder Albert und rufen an. Dann kommen so genannte Logistiker ins Spiel, die vor Ort den Schwindel steuern. „Die Logistiker sammeln bei den Abholern die Beute ein und bringen sie zu speziellen Juwelieren“, erläutert der Düsseldorfer Staatsanwalt Julius Sterzel.

Überweisungen in Höhe von 5,7 Millionen Euro

Observationen und belauschte Telefonate führten etwa auf die Spur eines Logistikers, der stets einen Juwelier in Wuppertal bediente. Bei der Durchsuchung des Geschäfts stießen die Ermittler auf einen Speicher-Stick. Darauf fanden sich Überweisungen in Höhe von 5,7 Millionen Euro an die Bande von Halit D. in Izmir. Das Geld floss über das so genannte Hawala-Banking. Kassiert etwa ein türkischer Bankier in Deutschland eine große Summe, so kann er seinen Kollegen in der Heimat anweisen, dem Kunden den gleichen Betrag auszuzahlen.

Die Masche der betrüger

Die Betrüger rufen häufig bei älteren Menschen an und manipulieren ihre Opfer in stundenlangen Telefonaten. Die Täter nutzen Namen von realen Amtspersonen, um ihre Geschichte glaubwürdiger zu machen. Angeblich stehe ein Einbruch kurz bevor oder die Polizei habe Schwarzgeld auf dem Konto des Angerufenen gefunden.

In allen Fällen fordern die Täter die Opfer massiv auf, Wertgegenstände und Bargeld zum eigenen Schutz an einen „Kollegen“ zu übergeben. Um die „Ermittlungen“ nicht zu gefährden, solle das Opfer mit niemandem über den Vorfall reden. Mitunter sollen die Opfer den Inhalt von Bankschließfächern zu sich nach Hause holen, um alles einem angeblichen Polizeibeamten zu übergeben.

Häufig agieren die Täter aus „Callcentern“ im Ausland. Sie nutzen eine Technik, die eine beliebige Nummer im Display des Angerufenen erscheinen lässt. Es sieht dann so aus, als stamme der Anruf tatsächlich von der Polizei. Bei einem Anruf der echten Polizei erscheint aber die Nummer 110 niemals im Display. (ksta)

Eine Million Euro sicherten die NRW-Ermittler allein bei dem Juwelier. Eine Summe, die Halit D. und seine Komplizen über ihr „Callcenter in einer Woche machten“, sagt Müller.

In Selfie-Videos im Netz protzte Callcenter-Chef Papa Kralle. Vor ihm liegen zwei Milchkarton-hohe Euro-Bündel auf dem Tisch: „Ich mache im Monat 250.000 Euro durch meine Betrugsmasche.“ Zugleich tönte er, dass er trotz internationalen Haftbefehls sicher in Izmir sei, weil die Türkei Kriminelle nicht an Deutschland ausliefere. Er täuschte sich. Seit dem 2. Dezember sitzt er in Untersuchungshaft in einem türkischen Gefängnis.

Kripo befürchtet Nachahmer

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) empfindet Verachtung für Täter, die „die Verletzlichkeit von älteren Menschen ausnutzen.“ Die Polizei setze alles daran, den Betrügern das Handwerk zu legen. Genauso wichtig sei es, so Reul, über die Prävention „die Seniorinnen und Senioren zu stärken, sodass der Anruf des falschen Polizisten am Ende immer häufiger im Sande verläuft.“

Nach der Razzia in Izmir sind die Fallzahlen immens zurückgegangen. Dennoch fürchtet etwa der Kölner Kripo-Chef Klaus-Stephan Becker, dass Nachahmer die Lücken schließen. Erst kürzlich fand man eine Tupper-Dose mit 23 000 Euro in Leverkusen auf einer Parkbank. Besitzer unbekannt. „Wir gehen davon aus, dass die Übergabe aus irgendeinem Grund gescheitert ist“, sagt der Leitende Kriminaldirektor.