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Interview mit Jochen Ott„Das Bildungsministerium hat sich verabschiedet“

Lesezeit 7 Minuten
NRW Landtag

Szene aus dem NRW-Landtag: Die Landesregierung plant ein umfassendes Epidemiegesetz.

DüsseldorfHerr Ott, das Schulgesetz regelt von der Tatsache, dass es Schülerzeitungen geben darf, bis hin zur Frage der Selbstständigkeit von Schulen ungeheuer viele Aspekte des Schullebens.

Jochen Ott: Das Schulgesetz gibt den Schulen einen rechtlichen Rahmen. So ein Gesetz ist aber immer auch Fluch und Segen zugleich, um es mit den Worten eines Schulleiters zu sagen. Denn je weniger drinsteht, desto mehr Freiheit haben die Schulen vor Ort – auf der anderen Seite braucht es eben diesen Rahmen, damit alle landesweit dieselben Spielregeln kennen. Zum 16. Mal wird dieses Gesetz nun angepackt. Nach dem Willen der Landesregierung sollen die Schulen mehr Freiheit und Eigenverantwortung bekommen – bis dahin folgen ihnen auch fast alle Experten, zumal gerade die Pandemie ja zeigt, dass es besser gewesen wäre, den Verantwortlichen vor Ort mehr Entscheidungskompetenz zu geben.

Sie sehen das anders?

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Nein, mehr Freiheit für unsere Schulen ist nötig, aber das Land muss einen verlässlichen und umsetzbaren Rahmen setzen und darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Freiheit ohne die Sicherheit eines einheitlichen landesweiten Rahmen ist nichts wert. Die Besatzungen der vielen Schiffe im „Tankerverband“ Schule müssen wissen, wohin die Reise geht und woran sie sich orientieren können. Dann kann mehr Freiheit sie beflügeln, eine gute Arbeit zu machen. Das Bildungsministerium hat sich seit vielen Jahren als Gestalter verabschiedet und agiert nur noch als Verwalter. Das ist zu wenig.

Das müssen Sie mit Beispielen belegen.

Beispiel Digitalisierung: Hier sollen laut Schulrechtsänderungsgesetz wortwörtlich keine Standards gesetzt werden – und das ist genau das, was die Kommunen und Verbände kritisieren und was gerade bei der Digitalisierung problematisch ist. Andere Bundesländer gehen andere Wege. Rheinland-Pfalz etwa hat einen Rahmenvertrag mit der Deutschen Telekom abgeschlossen. Mir geht es nicht um den Anbieter, aber die Idee, dass ein Land eine Richtung vorgibt. Gerade in NRW könnten die vielen starken kommunalen Unternehmen wie zum Beispiel NetCologne Teil einer landesweiten Lösung sein. Wir brauchen eine Verständigung mit den Kommunen, wohin wir in den nächsten zehn Jahren wollen, wer sorgt in den Schulen für den digitalen Support, wer auf städtischer Ebene, und welchen Rahmen setzen wir seitens des Landes?

Wie läuft das Verfahren zur Digitalisierung derzeit konkret? Die Schulkonferenz wendet sich an die Kommune und sagt: Es gibt doch den Digitalpakt, der auf Bundesebene beschlossen wurde, damit ihr Geld zur Verfügung habt.

Und die Kommune fragt: Wie sollen wir das denn bloß hinkriegen? Wer bezahlt denn nach drei Jahren den Austausch der Geräte? Wer den Support? Deswegen gibt es in Hagen einen parteilosen Oberbürgermeister, der die Anschaffung digitaler Endgeräte ablehnt, weil er die Folgekosten fürchtet. Anderswo werden die Eltern aufgefordert, selbst die Geräte zu bezahlen. Das geht nicht.

Machen Sie einen besseren Vorschlag.

Wir sind für Lernmittelfreiheit, die auch für die digitalen Endgeräte gelten soll – vergleichbar mit den analogen Lernmitteln wie einem Schulbuch. Damit wäre ein für alle Mal klar, wo die Obergrenzen für die Anschaffung liegen und wie perspektivisch eine ähnliche Ausstattung landesweit angestrebt wird. Außerdem gibt es nicht an allen Schulen WLan. Wir wissen auch, dass wir nicht von heute auf morgen alle Vorgaben des Datenschutzes erfüllen können. Also, was ist der Zielhorizont? Aus unserer Sicht braucht zudem jede Schule eine IT-Fachkraft, die die Lehrerinnen und Lehrer von den technischen Fragen entlastet, damit die sich auf die pädagogischen Kernaufgaben konzentrieren können.

Was muss die Politik in Düsseldorf dafür vorgeben?

Die Plattform Logineo sollte eine landesweite Lösung sein, die aber anscheinend hinter den technischen Anforderungen zurück bleibt. Eine Angleichung der landesweiten Ausstattung und eine mögliche Standardsetzung wird nur mit gehörigem Vorlauf gelingen. Aber sie muss geplant werden, um landesweit ähnliche Bedingungen zu erhalten. Und übrigens, damit Familien vielleicht in Zukunft innerhalb Deutschlands unkomplizierter umziehen können, ist es zudem eine Herausforderung, die Koordination mit den anderen Bundesländern im Blick zu behalten – damit in 15 Jahren nicht überall andere Standards gelten.

Was sind weitere Punkte des Änderungsgesetzes, die Ihnen nicht behagen?

Ein großes Thema sind Schutzkonzepte gegen Gewalt. Nach Lügde und Bergisch Gladbach ist vollkommen klar, dass alle Personen, die mit Kindern Umgang pflegen, dafür sensibilisiert werden müssen, Missbrauch früher zu erkennen. 95 Prozent der Lehrkräfte werden in ihrer Ausbildung auf dieses Thema aber gar nicht vorbereitet. Nun soll Kinderschutz großflächig implementiert werden, was richtig und sinnvoll ist – bloß: Wer hilft den Lehrerinnen und Lehrern, das in die Tat umzusetzen? Das müssen Leute mit entsprechender Fachkenntnis sein.

Muss also neues Personal Ihrer Meinung nach eingestellt werden?

Lehrerinnen und Lehrer einfach ein Konzept erstellen zu lassen, macht keinen Sinn. Wichtig wären hingegen Rahmenkonzepte, die – von Fachexpertinnen und -experten für Kinderschutz entwickelt – vom Land zur Verfügung gestellt werden und dann mit jeder einzelnen Schule besprochen werden. Die Lehrkräfte können nicht in allen Herausforderungen der Zeit Experten sein, wir dürfen deren Engagement nicht durch immer mehr Aufgaben ermüden.

Ein zentrales Problem der Schulpolitik ist der Ganztag. Der Rechtsanspruch ab 2026 ist beschlossene Sache.

Es gibt keinerlei Standards, keinerlei Vorschläge, wie das realisiert werden soll. Wenn wir doch wissen, dass es ab 2026 den Rechtsanspruch gibt, dann muss doch im Schulgesetz geregelt sein, wie das funktionieren soll. Dazu gehören die Fragen, wie viel Personal für den Ganztag bereitgestellt wird, um welches Personal es sich handelt, welche Spielregeln gelten, welche Räume, welche inhaltlichen Vorgaben gelten, vor allem die Zusammenarbeit in der Schule betreffend, et cetera. Doch zu all dem gibt es von der Landesregierung keine Idee. Aber wenn man 2026 jetzt in den Blick nähme, könnte man einen Fahrplan erstellen.

Was würden Sie anders machen? Gäbe es mit der SPD in der Regierung mehr Vorgaben in der Bildungspolitik?

Wir wollen wieder einen verlässlichen Rahmen setzen – aber als Land kann man das heute nicht mehr ohne die Kommunen machen. Worum es geht, ist, mit den Kommunen verbindliche Verabredungen zu treffen. Bei der Digitalisierung, dem Ganztag, der Inklusion, dem Schulbau, der Schulsozialarbeit müssen wir Standards vereinbaren, die wir erreichen wollen. Eine faire Kostenaufteilung mit klarer Zuständigkeit wird den Eltern auch wieder transparent machen, wer verantwortlich ist. Jetzt schieben sich alle die Bälle hin und her. Das Land muss den Mut haben, wieder in Verantwortung zu gehen. Wenn nicht in der Schulpolitik, wo sonst?

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Läuft das entlang der Parteilinien: Die SPD will Regeln, die FDP Freiheit?

Keineswegs – es gibt zum Beispiel ein Projekt an einer Aachener Gesamtschule. Es heißt „Herausforderung.“ In diesem Projekt in der Jahrgangstufe 9 suchen sich Schülerinnen und Schüler in kleinen Gruppen eine Herausforderung, die sie meistern wollen. Eine Schülergruppe hat sich der Herausforderung, die pädagogisch wohl begründet war, gestellt, sich mit wenig Geld zum Ijsselmeer auf den Weg zu machen. Der Projektgedanke, sich scheinbar unmöglichen Herausforderungen zu stellen, um sie zu meistern, ist eine großartige Lern- und Lebenserfahrung für unsere Schülerinnen und Schüler. Als ehemaliger Gruppenleiter der Katholischen Jugend finde ich solche Projekte wunderbar. Das wurde vom Ministerium mit der Begründung abgelehnt, dass dieses Vorhaben versicherungstechnisch zu risikoreich ist. So viel zur Freiheit.

Zur Person und zum Gesetz

Ott-SPD

Der schulpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag: Jochen Ott

Jochen Ott wurde 1974 in Porz geboren. Er ist bildungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Düsseldorfer Landtag und deren stellvertretender Vorsitzender. Nach seinem Lehramtsstudium in Köln unterrichtete Ott an der Gesamtschule Brühl die Fächer Geschichte, Sozialwissenschaften und Katholische Religion.

Das Landeskabinett aus CDU und FDP hat in seiner Sitzung am 7. Dezember 2021 den Weg für das 16. Schulrechtsänderungsgesetz freigemacht. Der Gesetzentwurf wird an den Landtag übermittelt. Vorbehaltlich einer Zustimmung des Parlaments soll das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode in Kraft treten. Nach dem Willen des Kabinetts soll es vor allem die Eigenverantwortung der Schulen stärken. (F.O.)