Köln – Der kann Kanzler. Wer das vor zehn Jahren sagte und dabei an eine noch unbestimmte Zeit nach Angela Merkel mit einer CDU-geführten Regierung dachte, der hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit Norbert Röttgen im Sinn.
Damals in den 40ern, stand der Rechtsanwalt aus dem Rhein-Sieg-Kreis im Zenit seiner politischen Karriere: Landesvorsitzender der CDU in NRW, stellvertretender Parteichef im Bund, Umweltminister in Berlin – ein Mann auf scheinbar unaufhaltsamem Weg nach oben.
Das vermaledeite Jahr 2012
Wenn da nicht dieses vermaledeite Jahr 2012 dazwischen gekommen wäre. Oder besser gesagt: Wenn Röttgen sich nicht so sagenhaft selbst im Weg gestanden hätte. Dass Armin Laschet in seiner Partei und in NRW überhaupt so erfolgreich werden konnte, hat er im Grunde Röttgens Scheitern zu danken.
Denn der vergeigte mit einem seltsam verkopften Wahlkampf nicht nur die Landtagswahl gegen die volksnahe, populäre „Landesmutter“ Hannelore Kraft (SPD), sondern verlor im übersteigerten Bewusstsein der eigenen Bedeutung auch seinen Kabinettsposten in Berlin. Merkels erster und einziger Ministerrausschmiss traf just den, die sie in der Partei in einer Mischung aus Spott und heimlicher Bewunderung „Muttis Klügsten“ nannten.
Kein „Joah, was machen wir noch?“
Röttgen ist einer, der einem aus dem Stand eine brillante Analyse der politischen Lage liefern, Freund und Feind treffsicher charakterisieren und ad hoc gleich noch einen Sieben-Punkte-Plan für die Lösung fast jedes Problems aufstellen kann. Ein „Joah, was machen wir noch?“ à la Laschet brächte Röttgen nicht einmal heraus, wenn man ihn nachts um drei weckte und nach seinen Zielen für – sagen wir – eine Jamaika-Koalition fragte.
Doch wenn es um ihn selbst und um seine Ambitionen geht, hat ihn in der Vergangenheit immer wieder einmal der politische Instinkt verlassen. So wollte er sich 2012 partout nicht darauf festlegen, auch im Fall einer Wahlniederlage von Berlin nach Düsseldorf zu wechseln und dort Oppositionsführer zu werden. Das kostete ihn erst Sympathien, dann Stimmen und schließlich auch das Amt. Als angezählten und von Parteifeinden, speziell aus der CSU, zusätzlich geschwächten Minister wollte Merkel ihn nicht im nach dem Atomausstieg 2011 neuralgischen Umweltressort halten.
„Aus Fehlern gelernt“
Röttgen sagt heute, er habe aus seinen Fehlern gelernt. Gut, als Volkstribun in einer Sauerländer Schützenhalle oder mit Pilsken und Currywurst vor der Imbissbude im Ruhrpott kann man ihn sich immer noch nicht vorstellen. Aber seinen heimischen Wahlkreis hat Röttgen auch am 26. September wieder direkt geholt – trotz Stimmverlusten mit jenen 40 Prozent, die in der Union noch vor ein paar Jahren als Erfolgsmarker für eine Volkspartei galten.
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Davon konnte schon nach Merkels Schrumpfergebnissen von 2005, 2009 und 2017 keine Rede mehr sein. Doch Röttgen bemüht die Vokabel ausgerechnet jetzt – nach Laschets historischem Tiefflug auf nur mehr 24 Prozent. „Wenn sich dieses Niveau verfestigt“, sagte er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ einen Tag nach der Wahl, „dann sind wir nicht mehr länger Volkspartei“. Die Zuschreibung als eines der letzten lebenden Relikte eben jener Volkspartei wies Röttgen nur mit gerade jenem Maß an Reserve zurück, das ihn nicht erneut arrogant und überheblich wirken ließ.
Erste Kampfansage an Laschet
Was sich trivial anhörte, nach nicht viel mehr als einer bloßen Rechenübung, war Röttgens erste Kampfansage nicht nur an Laschet als Parteichef auf Abruf, sondern auch an alle in der Union, die den Aachener gern beerben würden, spätestens wenn es Olaf Scholz gelingt, eine Koalition mit Grünen und Liberalen zu schmieden und die Union in die Opposition zu schicken.
Als Röttgen vor anderthalb Jahren seine Ambition auf die Nachfolge von Annegret Kramp-Karrenbauer im CDU-Vorsitz erklärte, hatte dieser Schritt etwas von einer Sponti-Aktion nach dem Motto „du hast keine Chance, also nutze sie!“. In den Jahren zuvor hatte sich Röttgen als Außenpolitiker ein Stück weit neu erfunden. Seit 2014 steht er an der Spitze des Auswärtigen Ausschusses und sagt in dieser Rolle nicht nur viel Fundiertes über die Krisenherde in aller Welt, sondern auch zur Bedeutung des Parlaments als Gegenüber und Korsettstange für eine Regierungspolitik, die sich im Umgang mit Populisten, Autokraten und Despoten auf der internationalen Bühne eher einmal in Diplomatie und Leisetreterei üben muss.
Mix aus Chuzpe und Kalkül
Dagegen war sein eigener Neuaufschlag in der Parteipolitik ein Mix aus Chuzpe und kühlem Kalkül. Zwischen Friedrich Merz und dem Team Laschet/Jens Spahn positionierte Röttgen sich im Rennen um den CDU-Vorsitz buchstäblich als Mann der Mitte. „Ich bin wählbar für alle“, lautete sein nur bei oberflächlicher Betrachtung läpsches Angebot an die Parteimitglieder. Seinen Ruf nach einer Runderneuerung der CDU untermauerte er mit einer Kampagne, die betont auf innovative digitale Formate setzte.
Platz drei auf dem digitalen Parteitag im Januar war dann am Ende weniger überraschend als die Zahl von immerhin 224 Stimmen, die Röttgen auf sich vereinigen konnte. Knapp ein Viertel der Delegierten wollte also damals am liebsten ihn als Parteichef und dann womöglich auch als Kanzlerkandidat. Röttgen nutzte die Gunst der Stunde und kandidierte fürs Parteipräsidium, nicht ohne dem neugewählten Vorsitzenden Laschet als Unterlegener seine volle Unterstützung zu versichern.
Anders gestrickt als Friedrich Merz
So etwas unterscheidet Röttgen von einem Egomanen wie Merz, der nach seiner Niederlage im Januar nichts Besseres zu tun hatte, als von Laschet direkt ein Ministeramt für sich selbst zu fordern – wohl wissend, dass er den Neuen damit in Konflikt mit der Kanzlerin gebracht hätte. Röttgen, der in seiner langen Karriere zeitweilig sowohl Merkel-Protegé als auch Merkel-Opfer war, braucht 2021 keine Abrechnung mehr mit der Überfrau der CDU.
Dabei weiß auch er mit harten Bandagen zu kämpfen. Seine Empfehlung, den neuen CDU/CSU-Fraktionschefs zunächst mit nur knapper Befristung zu wählen, sollte ihm Optionen für eine Zeit nach Laschet und in der Opposition offenhalten.
Dass er die geforderte Neuaufstellung seiner Partei mit „schonungsloser Analyse“ der Wahlniederlage vom 26. September vorläufig vor allem programmatisch und nicht personell begründet, kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass das eine kaum ohne das andere zu haben ist. Jedenfalls hat Laschets Mandat als CDU-Chef und Kanzlerkandidat laut Röttgen so lange und nur so lange Bestand, „bis andere Entscheidungen getroffen werden“. Deutlicher kann man eigentlich nicht werden, wenn man nicht gleich offen von Ablösung reden will.
Röttgen hat noch etwas vor
Das Wort Rücktritt nimmt Röttgen nicht in den Mund. Noch nicht. Auch bei „Anne Will“ am Sonntagabend lässt er sich zu Laschets Zukunft nichts Konkretes entlocken. Er weiß: Der Königsmörder wird selten König. Das gilt auch für Ämter in der Demokratie. Und da hat Norbert Röttgen noch was vor.