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„Oktaeder des Grauens“ bleibt unvergessenWie die Schulpolitik die Abwahl von drei Landesregierungen in NRW beeinflusste

Lesezeit 6 Minuten
Schul- und Bildungsministerin Dorothee Feller erklärt bei einem Pressegespräch im Schulministerium wie es zu der Technik-Panne bezüglich der Abitur-Klausuren kommen konnte. Sie trägt einen blauen Blazer und kurze blonde Haare.

Schul- und Bildungsministerin Dorothee Feller (CDU)

Die Schulpolitik gilt als Stolperstein jeder NRW-Landesregierung. Nun bringt die Panne beim Zentralabitur erneut die Koaltion in die Bredouille.

Es gibt nur wenige Gewissheiten in der Landespolitik, über die sich fast alle Parteien in Düsseldorf einig sind: „Mit der Schulpolitik kann man keine Wahlen gewinnen, aber schnell verlieren.“ Seit 2005 war die Schulpolitik für sämtliche Regierungsbündnisse in NRW ein Klotz am Bein, der den Ausgang von drei Landtagswahlen zentral beeinflusste.

Kein Wunder also, dass im neuen schwarz-grünen Bündnis jetzt die Alarmsirenen schrillen. Die Panne beim Zentralabitur zerstört die Zuversicht, dass das Ressort unter Führung der verwaltungserfahrenen Schulministerin Dorothee Feller (CDU) diesmal keine offenen Flanken verursachen würde.

Wüst bittet um Entschuldigung

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) erkannte am Mittwoch den Ernst der Lage. Der Regierungschef meldete sich in der Krisenkommunikation selbst zu Wort. „Dass die Abiturprüfungen verschoben werden müssen, darf nicht passieren – ganz gleich, woran es gelegen hat“, schrieb Wüst auf Twitter. „Im Namen der Landesregierung“ bitte er alle Betroffenen „ausdrücklich um Entschuldigung“.

Alles zum Thema Hendrik Wüst

Das Abitur sorgt seit jeher in vielen Familien über einen langen Zeitraum für hohe Belastungen und ist daher ein emotional aufgeladenes Thema. Versagt die Schulverwaltung bei der Durchführung, kommt es zu einem Aufschrei mit hoher Detonationswirkung - auch in der Lehrerschaft, die für die politische Meinungsbildung im Land eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Bildungspolitik ist das zentrale Thema, für das die Länder zuständig sind. Wenn es dort nicht klappt - was soll dann funktionieren?

Seit 2005 standen sämtliche NRW-Schulministerinnen unter dem massiven Beschuss der jeweiligen Opposition. Fragt man nach dem Gründen für das Scheitern der Regierungsbündnisse, denen sie angehörten, fallen regelmäßig auch die Namen der früheren Amtsinhaberinnen.

Barbara Sommer (CDU, 2005 bis 2010)

Die frühere NRW-Schulministerin Barbara Sommer bei einer Pressekonferenz. Sie trägt blonde, gestufte schulterlange Haare und einen schwarzen Blazer.

Die frühere NRW-Schulministerin Barbara Sommer bei einer Pressekonferenz

2005 lösten CDU und FDP die SPD nach 40 Jahren in der Landesregierung ab. In der Schulpolitik hatte sich die neue Koalition viel vorgenommen. NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) zauberte überraschend die bis dahin weithin unbekannte Schulrätin Barbara Sommer aus dem Hut. Weil die Ostwestfälin auf dem politischen Parkett völlig unerfahren war, tat sie sich schwer, die von CDU und FDP geplanten Schulreformen – wie die Einführung von Kopfnoten - geräuschlos umzusetzen. Es waren aber die massiven Probleme bei der Durchführung des Zentralabiturs im Jahr 2008, die einen fast irreparablen Image-Schaden auslösten.

Im Fach Mathematik scheiterten selbst gute Schüler reihenweise an zwei Aufgaben. Im Bereich Wahrscheinlichkeitsrechnung war die Aufgabenstellung zur Treffsicherheit des Basketballers Dirk Nowitzki bei Freiwürfen nach Einschätzung von Experten so gut wie unlösbar. Eine Geometrieaufgabe war ebenfalls zu schwer und wurde als „Oktaeder des Grauens“ bekannt.

Sommer wies die Kritik ungeschickterweise zunächst zurück und erklärte, Nachprüfungen seien etwas „völlig Normales“. Erst, als der Druck von Fachleuten am Krisenmanagement und auch parteiintern immer größer wurde, zog die Regierung die Notbremse und ermöglichte eine Wiederholungsklausur. Doch Sommer erholte sich von den Wirkungstreffern nicht mehr. Von SPD und Grünen wurde sie fortan als Witzfigur „Püppi“ verulkt. Sommer hatte in einem Interview verraten, dass dies der Spitzname war, den ihr der Vater gegeben hatte. So wurde ausgerechnet die Schulpolitik zur Achillesverse von CDU und FDP  – und führte Schwarz-Gelb 2010 mit in den Abwärtsstrudel.

Sylvia Löhrmann (Grüne, 2010 bis 2017)

Sylvia Löhrmann gestikuliert mit ihren Händen bei einer Pressekonferenz. Sie hat kurze blonde Haare und trägt einen grünen Blazer.

Sylvia Löhrmann, ehemalige Schulministerin und Vize-Ministerpräsidentin.

Im Regierungsbündnis von SPD und Grünen übernahm - wenig überraschend - die Grüne Vize-Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann das Schulressort. Auch sie war Lehrerin, aber - im Gegensatz zu Sommer - als Fraktionschefin der Grünen im Landtag mit allen politischen Wassern gewaschen. Sie galt als Politikerin mit klarem Kompass, die alle Akten genau inspizierte und Vermerke erst freigab, wenn der letzte Kommafehler getilgt war. Doch auch die Perfektionistin konnte schlagzeilenträchtige Pannen beim Abitur nicht verhindern.

Ein Jahr nach dem Amtsantritt, im Jahr 2011, der erste Tiefschlag: Zwei von drei Aufgaben der zentralen Grundkursprüfung in Mathematik waren offensichtlich missverständlich formuliert und ließen die Prüflinge verzweifeln. Löhrmann räumte den Fehler ein, das Schulministerium musste seinen weiteren Prüfungstermin ansetzen. Schon war Löhrmanns weiße Weste dahin.

2013 dann der nächste Fehlschlag – übrigens auch im Zusammenhang mit digitalen Problemen. Das Schulministerium hatte die Aufgaben für das Zentralabitur zwar zum Herunterladen auf dem Server bereitgestellt, aber die Fragen mit wirtschaftlichem Schwerpunkt vergessen. Die fatale Folge: Etliche Schulen bemerkten den Fehler nicht und händigten den Schülern falsche Aufgaben aus.

In der Folgezeit brachte der Umgang mit der Inklusion und das Festhalten am umstrittenen „Turbo-Abi“ G8, das CDU und FDP eingeführt hatten, Löhrmann massiv in Bedrängnis. Die Enttäuschung auch an der eigenen Basis war enorm und führte zu erheblichen Mobilisierungsproblemen. Kurz vor der Landtagswahl mussten die Grünen, die nach dem Atomunfall in Fukushima einen Höhenflug erlebt hatten, ernsthaft um den Wiedereinzug in den Landtag fürchten. Rückblickend wird die mangelnde Akzeptanz für die Schulpolitik als eine der zentralen Ursachen für das Scheitern von Rot-Grün bei der Landtagswahl 2017 gewertet.

Yvonne Gebauer (FDP, 2017- 2022)

Yvonne Gebauer steht am Rednerpult des Landtages.

Yvonne Gebauer bei einer Landtagsdebatte.

Die FDP-Politikerin Yvonne Gebauer war vor ihrer Berufung zur Schulministerin Sprecherin der FDP im Landtag für Bildungspolitik. Die Kölnerin hatte – wie Löhrmann- die Schulpolitik in ihrer politischen DNA. Sie entstammt dem Kölner „FDP-Adel“ – ihr Vater war der langjährige Kölner Bildungsdezernent Wolfgang Leirich.

Ähnlich wie bereits 2005 trat Schwarz-Gelb 2017 an, um Lehrermangel und Unterrichtsausfall zu bekämpfen und „beste Bildung“ zu ermöglichen. Für die Schulpolitik wurde allerdings das Management der Corona-Krise zur zentralen Herausforderung. Die Pandemie offenbarte, wie langsam die Schulen in NRW bei der Digitalisierung vorangekommen waren. Das Verbot des Präsenzunterrichts zerrte an den Nerven von Kindern, Lehrern und Eltern. Der Unmut der Beteiligten richtete sich schnell gegen das Schulministerium von Yvonne Gebauer. Immer wieder sahen sich Schulen mit kurzfristigen Erlassen zum Umgang mit Tests und Isolationsregeln überfordert.

Es wundert wenig, dass in der Pandemie auch die Durchführung des Zentralabiturs zu heftigen Debatten führte. Nachdem sich Gebauer dafür entschieden hatte, die Prüfungen stattfinden zu lassen, gab es 2021 Petitionen im Internet. Erneut stand das Fach Mathe im Fokus. Die Aufgaben seien „unverschämt schwer“ gewesen, monierten Schüler.

Wie ihre Vorgängerinnen blieb auch Gebauer im Amt glücklos. Erneut erwies sich die Schulpolitik als schwere Hypothek für die Regierung. Seit 2022 macht die FDP im Landtag in der Opposition Politik.

Dorothee Feller (CDU, ab 2022)

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst machte die frühere Regierungspräsidentin Dorothee Feller zur Schulministerin. Von der Juristin wird erwartet, dass sie aufgrund ihrer Verwaltungserfahrung besser Chancen hat, Krisensituationen zu managen.

Ob das gelingt? Die SPD sieht dabei auch Wüst in der Pflicht: „Der Ministerpräsident ist jetzt gefordert, alles dafür zu tun, ein rechtssicheres Abitur zu ermöglichen“, sagte SPD-Schulexperte Jochen Ott. Er müsse aufklären, wie es zu dem „Fiasko“ kommen konnte. Mit einer Entschuldigung allein sei es „nicht getan“, so Ott.