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Dramatischer Fachkräftemangel in der PflegePräsidentin der Pflegekammer NRW sieht künftig Angehörige mehr in der Pflicht

Lesezeit 4 Minuten
Eine ambulante Pflegefachkraft begleitet einen Bewohner des Betreuten Wohnens mit seiner Gehhilfe durch das Gebäude.

Pflegefachkräfte werden zur Mangelware.

Ein Drittel aller Pflegenden in NRW geht in den nächsten zehn bis 15 Jahren in Rente.

In Deutschland und Nordrhein-Westfalen werden die Pflegefachkräfte knapp. Bis 2049 könnten in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zwischen 280.000 und 690.000 Pflegende fehlen. Laut den Statistikern werden Ende der vierziger Jahre voraussichtlich 2,15 Millionen Pflegekräfte benötigt, das entspricht einem Drittel mehr als die 1,62 Millionen im Jahr 2019. Aktuell sieht das Gesundheitsministerium NRW die Fachkräftesicherung in der Pflege zwar als „Herausforderung“. Derzeit zeigten die Zahlen aber noch keine klaffende Lücke.

Laut der Landesberichterstattung Gesundheitsberufe Nordrhein-Westfalen 2023 ist derzeit landesweit von mindestens 7.300 offenen Stellen bei den Pflegefachkräften auszugehen. „Auf der anderen Seite werden voraussichtlich rund 8.600 ausgebildete Pflegefachkräfte pro Jahr in den Arbeitsmarkt eintreten und zur Deckung des Personalbedarfs beitragen können“, so das Gesundheitsministerium auf Anfrage dieser Zeitung.

Auch in NRW werden allerdings in den kommenden zehn bis 15 Jahren nach Zahlen der Pflegekammer NRW ein Drittel aller etwa 225.000 heute tätigen Pflegekräfte in Rente gehen. Damit gehen in dem Zeitraum doppelt so viele Pflegekräfte in den Ruhestand, als es derzeit Pflegende unter 30 Jahren gibt. Die Zahl der Pflegebedürftigen dagegen wird nach Prognosen des Statistischen Landesamtes NRW wegen des demografischen Wandels bis 2050 von heute etwa 1,2 Millionen Menschen um fast ein Drittel auf 1,6 Millionen ansteigen.

Alles zum Thema Karl-Josef Laumann

Präsidentin der Pflegekammer setzt auf neue Qualifikationsstufen

Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) findet, Nordrhein-Westfalen sei bei der Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Pflege auf einem guten Weg. Auf Anfrage dieser Zeitung verweist er beispielsweise auf zusätzliche Schulplätze sowie die Einführung der einheitlichen Pflegefachassistenzausbildung. Mit Blick auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel warnt Laumann aber auch davor, in den Weiterentwicklungen nachzulassen: Die pflegerische Versorgung müsse „weitergedacht und auf mehr Schultern verteilt werden“. Vonnöten seien „alle unterstützenden Kräfte“ und „ein ausgewogener Personal- und Qualifikationsmix“.

Um die zahlenmäßige Lücke zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen zu füllen, setzt Sandra Postel, Präsidentin der Pflegekammer NRW, vor allem auf eine Neustrukturierung der beruflichen Qualifikationsstufen im Bereich Pflege. „Heute erledigen Pflegende nach ihrer Ausbildung auf hohem Niveau häufig auch Tätigkeiten, für die sie eigentlich überqualifiziert sind. Sie putzen, waschen Betten, transportieren, verteilen Essen. Wir müssen dazu kommen, dass Pflegefachpersonal sich auf die eigentlichen pflegerischen Aufgaben konzentrieren kann.“

Der Fokus sollte demnach auf der bedarfsgerechten ganzheitlichen Versorgung und der Zeit bei der pflegebedürftigen Person liegen. „Bürokratische und administrative Tätigkeiten fressen Kapazitäten für die direkte Pflege.“ Das Gesundheitsministerium ist nach eigenen Angaben hier schon aktiv geworden. Von mehr Stellen in der Pflegehilfe verspricht man sich, „die Fachkräfte von nicht zwingend pflegefachlichen Aufgaben“ entlasten zu können.

Pflegepersonal werde eher beratende Funktion einnehmen

Für die alltäglicheren Leistungen könnten dann in Zukunft durch eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen den professionell Pflegenden und den Angehörigen auch häufiger Familienangehörige selbst tätig werden. „Pflegepersonal wird bei zunehmendem Personalmangel künftig vermehrt eine beratende Funktion einnehmen und überlegen: Welche Dinge kann die Familie nach einer Schulung selbst übernehmen?“, sagt Postel. Ziel müsse gerade bei knapper werdenden Ressourcen sein, dass Menschen so lange wie möglich barrierefrei zu Hause leben könnten. Auch das Abrechnungssystem der Kassen bedürfe in diesem Zusammenhang einer Reform. „Im Moment wird eine Mobilisation eines alten Menschen zu mehr Selbständigkeit finanziell nicht belohnt“, so Postel.

Auch mit flexibleren Arbeitszeiten sowie Anreizen für Mütter, schneller wieder Vollzeit zu arbeiten, könnte der Pflegekrise laut Postel entgegengewirkt werden. Gerade in einer Branche, in der zu mehr als 80 Prozent Frauen beschäftigt sind, sei Familienfreundlichkeit ein entscheidender Faktor.

Willkommenskultur für ausländisches Fachpersonal

Eine wichtige Hilfe sieht Postel auch im Zuzug ausländischer Pflegefachpersonen. „Ohne sie schaffen wir es nicht“, sagte sie gegenüber dieser Zeitung. Wer aus dem Ausland kommt, um in NRW pflegerische Aufgaben zu übernehmen, dessen Abschluss müsste schnell anerkannt werden. „Zusätzlich ist aber sicher auch eine große Willkommenskultur nötig.“

Im ersten Szenario, der Trend-Variante, wurden in den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes positive Entwicklungen des Pflege-Arbeitsmarktes aus den Zehnerjahren in die Zukunft projiziert. In diesem Fall würde die Zahl der Pflegekräfte auf 1,87 Millionen im Jahr 2049 steigen, das wären jedoch 280.000 weniger als benötigt.

Im zweiten Szenario, der Status-quo-Variante, wurde lediglich die demografische Entwicklung auf das Angebot an Pflegekräften angewandt. Hier würde die Zahl der Pflegekräfte bis 2049 auf 1,46 Millionen sinken, ein Defizit von 690.000 im Vergleich zum Bedarf. Anders ausgedrückt, könnte dann fast jeder dritte Arbeitsplatz in der Pflege nicht mehr besetzt werden.