Nach den tödlichen Schüssen durch einen Polizeibeamten auf einen 42-jährigen Obdachlosen in Bonn hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt.
Häufig mit Messern bedrohtSieben Todesschüsse durch NRW-Polizisten in 2024 – So viele wie noch nie
Der Notruf löste einen größeren Polizeieinsatz aus. Gegen 10.15 Uhr an jenem 4. September 2024 hatte ein Mann mit einem Rucksack auf dem Rücken zwei Personen in der Bonner City mit seinem Messer attackiert. Die beiden Opfer, ein Mann und eine Frau, bluteten stark. Einsatzkräfte trafen umgehend ein. Passanten wiesen ihnen den Weg des Flüchtigen. Die Personenbeschreibung lautete: männlich, roter Rucksack, blaue Hose, mit einem Messer bewaffnet.
Schon wenig später stellten die Beamten den Tatverdächtigen Helmut L. (Name geändert), einen Obdachlosen, nahe einem Autohaus an der Ecke Bornheimer/Brühler Straße. Sechs Polizisten forderten den 42-Jährigen mit der Pistole im Anschlag auf, stehenzubleiben. L. beugte sich daraufhin über seinen Rucksack und holte ein Messer heraus: schwarzer Knauf, zehn Zentimeter lange Klinge.
Bodycam eines Beamten zeichnete den Vorgang auf
Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ nahm die Bodycam eines Beamten das Geschehen auf. Die Bilder zeigen, wie Helmut L. mit dem Messer in der Hand auf die Einsatzkräfte zukommt. Nach drei Sekunden fallen zwei Schüsse, ein Polizeikommissar hat den Angreifer niedergestreckt.
Alles zum Thema Herbert Reul
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Die Bilder der Bodycam dokumentieren, wie L. zu Boden geht, auf dem Bürgersteig ist Blut zu sehen. Langsam nähern sich die Beamten dem Mann, der vor Schmerzen stöhnt und nach Hilfe ruft. „Bleib liegen, leg dich auf den Bauch, geh nicht zum Messer“, lautet das Kommando, ehe mehrere Beamte bei dem Angeschossenen erste Hilfe leisteten. Erfolglos, nur wenig später stirbt L. in der Uniklinik.
Sieben Todeschüsse in 2024 sind ein Höchststand in 40 Jahren Kriminalgeschichte
Gut zwei Monate ermittelte die Bonner Staatsanwaltschaft gegen den Todesschützen. Bereits am 26. November, so teilte ein Behördensprecher unserer Zeitung jetzt auf Anfrage mit, wurde das Verfahren eingestellt. „Rechtlich gesehen handelte es sich um eine Notwehrhandlung“, erklärte Staatsanwalt Matthias Borgfeld.
Das Geschehen zählt zu den sieben Fällen von Todesschüssen durch NRW-Polizisten im Jahr 2024. Ein Rekordwert, der seit 40 Jahren Kriminalgeschichte nie übertroffen wurde. Insgesamt mussten die Ordnungshüter 13 Mal ihre Dienstwaffe einsetzen. Die Deutsche Presse-Agentur hatte zuerst berichtet. Bundesweit starben 22 Menschen im vergangenen Jahr durch Polizeiprojektile. Nach Erkenntnissen dieser Zeitung haben NRW-Polizisten allein zwischen 2021 und 2023 in 54 Fällen die Dienstwaffe genutzt, zehn Personen starben in diesem Zusammenhang.
Von 2020 bis 2023 sind laut dem Innenministerium NRW 244 Attacken auf Einsatzkräfte durch Stichwaffen aktenkundig. Demnach stieg die Zahl der Gewaltopfer in Uniform von 20.163 auf 23.823 - doppelt so viel wie im Bundesdurchschnitt. Allein 2023 wurden 4514 Beamte verletzt, 24 davon schwer. „2023 sind jeden Tag durchschnittlich 65 Polizistinnen und Polizisten in NRW Opfer von Gewalt geworden“, erläutert NRW-Innenminister Herbert Reul gegenüber dieser Zeitung.
Reul:„2023 sind jeden Tag durchschnittlich 65 Polizistinnen und Polizisten in NRW Opfer von Gewalt geworden“
„Das sind erschütternde Zahlen, die zeigen, dass es dort draußen immer rauer wird und der Respekt bei ganz vielen auf der Strecke geblieben ist.“ Sorgenvoll blickt der CDU-Politiker auf die wachsende Bereitschaft, Menschen mit Gewalt zu begegnen. „Wir dürfen nicht zulassen, dass Gewalt zu einer gewissen Normalität wird. Wer die attackiert, die uns schützen, greift uns alle an.“ Michael Mertens, NRW-Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), bestätigt eine aggressive Tendenz: „Die Menschen reagieren heutzutage oft gereizt, sind viel angespannter, als es früher der Fall war. Daraus entstehen weitaus mehr Konflikte.“ Der Weg vom verbalen Streit zur gewaltsamen Auseinandersetzung werde immer kürzer. Die Kollegen müssten binnen wenigen Minuten oder Sekunden entscheiden, wie sie solchen Angriffen begegnen. „Der Gebrauch der Schusswaffe ist allerdings das letzte Mittel, um sich zu schützen“, sagt Mertens.
Der 21. Oktober 2024 war wieder ein Tag, an dem dieser Selbstschutz mutmaßlich vonnöten war. In Gangelt im Kreis Heinsberg nahe Aachen entwickelte sich eine heikle Lage, die letztlich zum Tod einer 35-jährigen seelisch kranken Frau führte. Eine Streife war alarmiert worden, weil Hertha M. (Name geändert) aus einer psychiatrischen Klinik geflüchtet war. Offenbar wollte sie zurück in ihre alte Wohnung. Als ein 22-jähriger Polizeikommissar und seine Kollegin am Abend an der Wohnadresse eintrafen, registrierten sie eingeschlagene Fensterscheiben. Dahinter bewegte sich eine Gestalt mit blutigen Wunden, offenbar die gesuchte Hertha M.. Die Beamten versuchten, den Kontakt zur Frau aufzubauen. Laut der Ermittlungsakte gingen sie behutsam vor, näherten sich mit ruhiger Ansprache der Frau. Langsam aber sicher soll die Mittdreißigerin Zutrauen zu den jungen Beamten gefasst haben. Dies geht aus der Einlassung des späteren Todesschützen hervor. Das lange Zureden soll zunächst Erfolg gehabt haben. Demnach ließ M. die Polizisten in ihre Wohnung und soll sich auch bereit erklärt haben, gemeinsam mit den Beamten ihr Zuhause zu verlassen.
Draußen aber soll die Situation schlagartig gekippt sein. Die Frau ging demnach plötzlich auf Distanz zu den beiden Polizisten, reagierte nicht mehr auf deren Aufforderungen. Vielmehr brach sie aus einer kaputten Fensterscheibe eine große Scherbe heraus, den Angaben zufolge soll sie etwa so groß wie ein Din-A4-Blatt gewesen sein. M. soll sich die Scherbe zunächst an den Hals gehalten haben, sich dann aber auf die Streifenpolizisten fünf Meter weit zubewegt haben, ehe der 22-jährige Kommissar sie mit einem Schuss stoppte. Die Frau wurde tödlich getroffen. Die Aachener Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Schützen. Sein Rechtsanwalt Christoph Arnold geht von einer Notwehrlage aus. „In diesem Fall haben die Beamten alles richtig gemacht, schließlich haben sie 20 Minuten lang versucht, die psychisch angeschlagene Frau zu beruhigen. Es ist eine Tragödie, dass mein Mandant aufgrund der akuten Gefährdungslage zur Waffe greifen musste.“ Arnold hat vor dem Hintergrund beantragt, das Verfahren gegen seinen Mandanten einzustellen.