Allein die Frauenhäuser in Köln weisen pro Jahr hunderte Schutzsuchende ab. Um die Vorgaben an Frauenhäuserplätzen pro Einwohner einzuhalten, müsste NRW die Zahl der Plätze nahezu verdoppeln.
„Es ist frustrierend“In NRW fehlen mehr als 1000 Plätze in Frauenhäusern
Vor ein paar Jahren läutete die Klingel an der Geschäftsstelle von Frauen helfen Frauen in Kalk besonders früh. Es war acht Uhr, vor der Tür stand eine junge Frau auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Partner. Sie bat um einen Platz in einem der zwei Kölner Frauenhäuser für sie und ihre Kinder, die im Auto warteten. Beide Frauenhäuser waren zu dem Zeitpunkt voll.
„Ich setzte mich mit ihr an den Computer, suchte Frauenhäuser heraus und sie rief dort an“, erzählt Claudia Schrimpf, Mitarbeiterin der Autonomen Frauenhäuser in Köln. „Überall bekam sie eine Absage.“ Die Frau brach in Tränen aus. „Ich kann das nicht mehr“, sagte sie, „ich kann meine Geschichte nicht noch einmal erzählen.“ Eigentlich hätte Schrimpf die Frau wegschicken müssen. Sie brachte es nicht übers Herz. „Wir nehmen die Frau jetzt als Notaufnahme in Köln auf“, sagte eine Kollegin zu Schrimpf. „Obwohl wir keinen Platz haben.“
Arbeiten an der Belastungsgrenze
Die Frauenhäuser in Nordrhein-Westfalen arbeiten seit Jahren an der Belastungsgrenze. Eine Datenauswertung des Recherchenetzwerks Correctiv.Lokal zeigt nun: In den Kölner Frauenhäusern waren 2022 an bis zu 98 Prozent der Tagen keine Neuaufnahme möglich. Bei den anderen Frauenhäusern in Nordrhein-Westfalen sah es ähnlich aus. Um die europäischen Vorgaben zu erfüllen zu erfüllen, müsste das Land die Zahl der Frauenhausplätze nahezu verdoppeln.
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Correctiv.Lokal hat für das Jahr 2022 die Belegungsdaten von 200 Frauenhäusern in 13 Bundesländern zusammengetragen. Nur für die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg konnten keine Daten erhoben werden. Für alle anderen Bundesländern gilt: Im Schnitt konnte die Frauenhäuser an 303 von 365 Tagen keine Frauen aufnehmen.
Bundesweit fehlen 3470 Frauenhausplätze
In Nordrhein-Westfalen ist die durchschnittliche Belegungsquote mit über 86 Prozent besonders hoch. Das bedeutet: Im Schnitt war in einem nordrhein-westfälischen Frauenhaus 2022 an 314 Tagen keine Aufnahme möglich. In keinem Monat waren alle Frauenhäuser zu 100 Prozent ausgelastet, die Belegungsquoten schwankten zwischen 75 Prozent (Januar 2022) und 93 Prozent (Juli 2022). Einzelne Häuser waren jedoch in manchen Monaten voll belegt. Das bedeutet, dass an keinem Tag eine Neuaufnahme möglich war. So war beispielsweise eines der Frauenhäuser in Bonn im März sowie von Mai bis einschließlich Dezember vollständig belegt, das andere von März bis einschließlich Juni.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den beiden Frauenhäusern in Köln: Eines war im Mai sowie von Juli bis einschließlich November durchgängig voll belegt, das andere von Februar bis einschließlich Mai sowie im September und Dezember. In Leverkusen war im Januar sowie von Juli bis einschließlich Dezember keine Aufnahme mehr möglich. Frauen, die zu diesen Zeitpunkten Schutz suchten, wurden abgewiesen.
Eigentlich empfiehlt der Europarat, einen Schutzplatz für eine Frau oder ein Kind pro 7500 Einwohner zu bieten. Die Bundesrepublik hat sich zudem bereits 2018 mit der sogenannten Istanbul-Konvention dazu verpflichtet, mehr Frauenhausplätze zu schaffen. Dennoch fehlen bundesweit rund 3470 Plätze. Besonders prekär ist die Lage in Nordrhein-Westfalen: Hier fehlen mehr als 1050 Schutzplätze.
„Wenn wir ein Frauenhaus morgens auf grün schalten, ist mittags der Platz weg“
Seit rund 15 Jahren kennzeichnen NRW-Frauenhäuser auf der Webseite Frauen-Info-Netz, ob sie Aufnahmekapazitäten haben. Ein volles Haus ist auf der Karte rot markiert, ein Haus, das nur noch Platz für Frauen ohne Kinder hat gelb, ein Haus mit Kapazitäten für Frauen und Kinder steht auf grün. Am Dienstag waren von 67 Frauenhäusern 66 rot markiert. Einzig das Frauenhaus in Aachen konnte schutzsuchende Frauen aufnehmen.
„Wenn wir ein Frauenhaus morgens auf grün schalten, ist mittags der Platz weg“, sagt Ute Fingaß, die wie Claudia Schrimpf in einem der Kölner Frauenhäuser arbeitet. Die beiden Frauen sitzen auf den Sesseln der Geschäftsstelle in Kalk. In der Ecke des Raums stapeln sich die Spielzeuge, in den Regalen liegen neben Flyern auch Kinderbücher zu Gewalt. „Warum der Papa die Mama haut“, heißt eines.
Obwohl die Frauenhäuser ihre Aufnahmekapazitäten im Internet kennzeichnen, obwohl Krankenhäuser und Jugendämter auf der Webseite nachgucken bevor sie anrufen, mussten die Kölner Frauenhäuser im Jahr 2021 rund 400 Frauen abweisen. „Es ist frustrierend.“ Die Häuser in Köln und Bonn sind vermutlich deshalb so oft voll, weil viele Frauen Schutz in der Anonymität der Großstadt suchen.
Was mit den Frauen passiert, die sie ablehnen, wissen sie nicht. Einige finden womöglich noch einen Platz, andere geben nach einigen Absagen auf und bleiben vorerst doch bei dem Täter, vermutet Schrimpf. „Wir hoffen, dass dies auf die wenigsten Frauen zutrifft.“
Rund 50 Schutzplätze fehlen in Kölner Frauenhäusern
In Köln bieten zwei Frauenhäuser Zuflucht. Ihre Adresse ist streng geheim: Die Bewohnerinnen dürfen keinen Besuch empfangen, sie müssen vor ihrer Aufnahme den Standort auf allen technischen Geräten deaktivieren und die Passwörter aller Accounts ändern. Nicht einmal den engsten Vertrauten dürfen sie sagen, wo sie nun wohnen. Das erste Kölner Frauenhaus hat Platz für 16 Frauen und 18 Kinder, im zweiten kommen 10 Frauen und 14 Kinder unter. Sie werden von insgesamt 15 Vollzeitmitarbeiterinnen betreut.
Seit vielen Jahren kämpfen die Mitarbeiterinnen für ein drittes Frauenhaus in Köln. Dem stimmte der Stadtrat 2019 zu, doch die Gespräche mit dem Land verliefen lange schleppend. Mittlerweile, sagt Schrimpf, sind die Planung konkreter. Wie viele Plätze das neue Frauenhaus bieten wird, steht noch nicht fest. Klar ist: Es wird nicht reichen. Laut der Istanbul-Konvention fehlen in Köln etwa 50 Schutzplätze.
Die Frauenhäusern bieten den Betroffenen nicht nur ein sicheres Zuhause, sondern Unterstützung in allen Lebensbereichen: Die Mitarbeiterinnen sprechen mit den Frauen und Kindern über die erfahrene Gewalt, sie vermitteln den Frauen bei Bedarf Psychotherapeuten und begleiten die Frauen auf Termine: Zum Jobcenter, zur Scheidungsanwältin, zum Gericht, wenn der Ex-Partner ein geteiltes Sorgerecht für die Kinder fordert. „Es ist auch viel Beziehungsarbeit“, sagt Schrimpf. Nach so einer langen Zeit der Gewalt fehle es vielen Frauen an Selbstbewusstsein. „Bei uns blühen sie mit der Zeit richtig auf. Wir stabilisieren sie und helfen ihnen, wieder zu ihrer Kraft und ihrem Potenzial zu finden.“
Komplizierte Finanzierung: „Der ganze Verwaltungsaufwand ist ein Wahnsinn“
Jede einzelne Aufnahme birgt für die Mitarbeiterinnen jedoch auch einen Bürokratie-Wahnsinn. Denn die Finanzierung der Frauenhäuser ist nicht einheitlich geregelt: Das Land bezuschusst Personalkosten, die Stadt Köln zahlt Tagessätze für die Frauen und fordert die Kosten wiederum von der Herkunftkommune der Frau ein. Zehn Prozent der Kosten tragen die Frauenhäuser selbst, beispielsweise durch Spenden.
Sind Frauen über eine etwas längere Zeit auf die Unterstützung im Frauenhaus angewiesen, machen die Herkunftskommunen häufig Druck, sagt Schrimpf. Einige drohen sogar, die Kosten nicht länger zu übernehmen. „Der ganze Verwaltungsaufwand ist ein Wahnsinn“, sagt sie. „Es müsste eine bundesweite oder zumindest landesweite einheitliche Finanzierung geben. Eine vom Einzelfall unabhängige Pauschale, die alles abdeckt, damit wir Mitarbeiterinnen uns auf unsere eigentlichen Aufgaben konzentrieren können.“ Schrimpf kritisiert zudem, dass Frauen, die keine Sozialleistungen erhalten, für ihren Schutzplatz selber finanziell aufkommen müssen. In Köln weigern sich die Autonomen Frauenhäuser allerdings, Geld von den Frauen anzunehmen und zahlen den Anteil dieser Frauen selbst.
Gleichstellungsministerium in NRW will „Regelungslücken im Bundesrecht“ thematisieren
Das Landesministerium für Familie und Gleichstellung betont auf Anfrage, in Nordrhein-Westfalen gäbe es in allen Landkreisen und kreisfreien Städten landesgeförderte Frauenhäuser. „Trotzdem bestehen in Nordrhein-Westfalen weiterhin Schutzlücken.“ Die Landesregierung habe sich zur Aufgabe gehabt, diese gemäß der Istanbul-Konvention zu schließen; Innerhalb der vergangenen sechs Jahre seien 87 Schutzplätze geschaffen worden. Seit der Regierungsübernahme habe die Landesregierung zudem die Weichen dafür gestellt, um sechs weitere Frauenhäuser, die bisher kein Geld vom Land bekommen, in ihre Förderung einzuschließen. Gleichzeitig, schreibt die Landesregierung, habe es seit Beginn der Corona-Pandemie keinen Tag gegeben, an dem alle Schutzplätze in Nordrhein-Westfalen belegt waren.
Das Ministerium spricht zudem von „Regelungslücken im Bundesrecht“ bei der Finanzierung von Frauenhausplätzen für Personengruppen, die keinen sozialrechtlichen Anspruch auf die Finanzierung ihres Aufenthalts hätten. „Betroffen sind insbesondere Studentinnen und Auszubildende, Frauen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen sowie EU-Bürgerinnen.“ Das Land werde dieses Problem gegenüber dem Bund thematisieren.
Notaufgenommene Frau schaffte den Weg zurück ins selbstbestimmte Leben
„Der Kampf und die Unterstützung bei Gewalt gegen Frauen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung“, sagt Gleichstellungsministerin Josefine Paul. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass jeden Tag ein Mann versuche, seine Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten. „Deshalb ist es für mich wichtig, dass wir die Istanbul-Konvention vorbehaltlos umsetzen.“
In ihrem Ministerium werde aus diesem Grund die Fach- und Koordinierungsstelle „Istanbul-Konvention“ eingerichtet. „Bereits direkt nach Regierungsantritt haben wir mit der Stärkung der Frauenhilfeinfrastruktur begonnen, weitere Frauenhäuser in die Landesförderung aufgenommen und die Voraussetzung für jeweils eine weitere Fachkraftstelle für die Arbeit mit den im Frauenhaus lebenden Kindern geschaffen.“
Die Frau, die damals um acht Uhr bei der Geschäftsstelle von „Frauen helfen Frauen“ in Kalk klingelte, hatte Glück. Kurz nach ihrer Notaufnahme wurde ein Platz im Kölner Frauenhaus frei. Heute hält sie immer noch Kontakt zu den Mitarbeiterinnen des Frauenhauses, sie erzählt ihnen von ihrer neuen Arbeitsstelle, von der eigenen Wohnung, in der sie nun mit ihren Kindern lebt. „Sie hat es geschafft“, sagt Schrimpf.