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Organisierte KriminalitätWie Betrüger in NRW ein Geschäft mit armen Familien aus Südosteuropa machen

Lesezeit 5 Minuten
ARCHIV - 29.10.2024, Nordrhein-Westfalen, Duisburg: Bei einer Meldekontrolle durch verschiedene Behörden am Problem-Hochhaus «Weißer Riese» stehen Polizisten vor dem Hochhauskomplex.

Bei einer großangelegten Kontrolle in einem Brennpunkt-Hochhaus in Duisburg haben die Behörden einige Dutzend Fälle von mutmaßlichem Kindergeld-Betrug festgestellt.

Kindergeld für Kinder, die es gar nicht gibt oder deren Eltern gar nicht in Deutschland arbeiten: Wie die Polizei den Sozialbetrügern nun auf die Schliche kommt.

Sören Link (SPD) warnt seit Jahren. Im Oktober 2024 erst initiierte der Duisburger Oberbürgermeister eine Razzia im berüchtigten Hochhaus namens „Weißer Riese“ im heruntergekommenen Stadtteil Hochheide. Das Ziel: Möglichen Schwindlern habhaft zu werden, die zu Unrecht Kindergeld oder Sozialleistungen kassieren. Hunderte Kontrolleure von Polizei, Ordnungsamt bis hin zur Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit (BA) überprüften dort die Meldeadressen. In den 300 Wohneinheiten leben insbesondere Familien aus Südosteuropa. Vier Monate später teilte die BA mit, dass man in 59 Fällen Kindergeldbetrug aufgedeckt habe. Zirka 177.000 Euro seien an Familien für Kinder überwiesen worden, die dort nur zum Schein angemeldet waren, das Geld werde nun zurückgefordert. Zudem wurden künftige Zahlungen von 1,2 Millionen Euro gestoppt. Link sieht sich bestätigt. „Die Zahlen zeigen: Der Aufwand hat sich gelohnt. Wir haben massiven Sozialbetrug aufgedeckt und so immensen finanziellen Schaden abgewendet. Rund 1,2 Millionen Euro Kindergeld wären zu Unrecht weitergeflossen – an Personen, die uns bewusst getäuscht haben. Und ich verspreche jetzt schon: wir machen weiter.“

Insgesamt zahlt die Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit nach eigenen Angaben aktuell rund 46 Milliarden Euro Kindergeld für zirka 17 Millionen Minderjährige aus. Eine Sprecherin erläutert auf Anfrage, dass auch 1,3 Millionen Kinder von EU-Bürgern zu den Empfängern zählten. „Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz erhält grundsätzlich nur, wer einen dauerhaften Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat oder in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig ist.“ Stand Februar 2025 sei für rund 296.000 Nachkommen im Ausland Kindergeld gezahlt worden.

140.000 Verdachtsfälle auf Kindergeld-Missbrauch

Die meisten dieser Kinder wohnten den Angaben zufolge in EU-Staaten wie Polen, Rumänien, Tschechien, Kroatien oder Frankreich. Etwa die Hälfte lebe in Polen. Aber nicht immer existieren diese Kinder tatsächlich, zum Teil legen auch die Eltern fingierte Arbeitsverträge vor oder leben gar nicht mehr in Deutschland. Bundesweit führte die Familienkasse im vergangenen Jahr rund 140.000 Verdachtsfälle auf Kindergeld-Missbrauch. Den finanziellen Schaden konnte die BA aber nicht beziffern. Behördensprecher Christian Weinert sagte in einem Gespräch mit der „Bild“-Zeitung: „2024 hat die Familienkasse in mehr als 100.000 Fällen ein steuerrechtliches Ermittlungsverfahren angestoßen.“ Bei einem erheblichen Teil davon handle es sich um Betrug. Laut der Arbeitsbehörde geht der Schwindel in 8000 Fällen vermutlich auf das Konto organisierter Banden.

Oliver Huth, Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) in NRW, ging bereits in einem Gespräch im vergangenen Jahr von einer deutlich höheren Dunkelziffer vor allem im Bereich der organisierten Kriminalität aus. „Leider kommt es häufiger vor, dass auf der einen Seite kriminelle Familienstrukturen bestehen, in der alle erdenklichen Straftaten begangen werden, weil der Rechtsstaat nicht akzeptiert wird“, so Huth. Auf der anderen Seite aber werde der Sozialstaat „dann ausgenutzt und abkassiert“. Dass die Jobcenter oder das Sozialamt in solchen Fällen nicht immer genau hinschauen, sei „leider ein virulentes Thema“. Gelegentlich fehle es sogar „vollständig an dem nötigen Problembewusstsein“, so Huth: „Da verstehen sich die zuständigen Ämter schlichtweg als eine Art Bewilligungsbehörde, die Aufdeckung von Betrug interessiert die nicht.“

Es sind enorme Summen, die da zuweilen zusammenkommen. Im April 2022 verurteilte das Landgericht Köln eine Bande aus Rumänien, weil sie mit gefälschten Meldepapieren 733.000 Euro erbeutet hatte.

Fast halbe Million erschlichen

Auch Mitglieder eines Leverkusener Familienclans kassierten jahrelang 5200 Euro monatlich für eine zehnköpfige Familie ab. Mit falschen Angaben und Papieren wurden auf diese Weise insgesamt 462.000 Euro Sozialhilfe, Kindergeld und Krankenkassenbeiträge erschlichen. Trotz eines erheblichen Vermögens der angeblichen „Bedürftigen“, wie das Kölner Landgericht in einem Betrugsprozess feststellte. Im Finanztopf des Clans hätten sich stets zwischen 100.000 und 300.000 Euro befunden. Mit dem Geld der Steuerzahler tilgte die Familie dann unter anderem ihr Darlehen für ihr Anwesen mit 300 Quadratmetern Wohnfläche in Leverkusen.

Der Fehler liege im System, meint Polizei-Gewerkschafter Huth. Die Mitarbeiter der Sozialämter und Jobcenter hätten oft keine Zeit für Hausbesuche. Und die Polizei erhalte Informationen über Sozialhilfeleistungen zu Verdächtigen erst dann, „wenn man sie über die Staatsanwaltschaft anfordern, also bereits einen entsprechenden Betrugsverdacht begründen kann“.

Auch die Familien selbst werden oft nur als Opfer benutzt

Laut Achim Schmitz, Chef der Abteilung für Organisierte Kriminalität (OK) beim Landeskriminalamt (LKA) NRW, erschleichen sich vor allen Dingen Familien aus den südosteuropäischen EU-Staaten Unterstützung aus den Kindergeldkassen. „Durch mehrere Verfahren wurde festgestellt, dass wir im Bereich des Sozialleistungsmissbrauchs eine große Flanke haben.“ Meist handele es sich um rumänische und bulgarische Familien mit vielen Kindern, die im Zuge der EU-Freizügigkeitsregelung nach Deutschland reisten, um hier teils illegal Sozialleistungen einzufordern. „Diese Menschen kommen aus den ärmsten Regionen ihrer Länder. Dort wird ihnen weisgemacht, dass sie im reichen Westen besser versorgt werden“, erläutert Schmitz. Tatsächlich würden sie mitunter in menschenunwürdigen Unterkünften unterbracht. „Im Hintergrund ziehen dann wenige Profiteure die Strippen, die eine Menge Geld mit dem Schwindel machen“, so der OK-Chef. Viele „hierhin gelockte“ Familien würden dann wieder mit der Lüge nach Hause geschickt, dass die hiesigen Behörden sie nicht als Hilfsempfänger anerkannt hätten. „Tatsächlich aber zahlen die staatlichen Kassen auf Konten ein, über die dann die Bosse nach eigenem Gutdünken verfügen können“, so der Leitende Kriminaldirektor. Teilweise läuft der Schwindel bis zum 18. Lebensjahr der Kinder.

Im Kampf gegen den organisierten Sozialleistungsbetrug hat das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt das Modellprojekt Missimo entwickelt. Damit soll insbesondere Kindergeld-Missbrauch von Zuwanderern aus südosteuropäischen EU-Ländern aufgedeckt werden. Im Mittelpunkt steht die behördenübergreifende Zusammenarbeit zwischen der Familienkasse, der entsprechenden Task-Force im LKA, verschiedenen kommunalen Behörden wie dem Einwohnermeldeamt und dem Gesundheitsamt sowie den Schulen, dem Jobcenter, der Unterhaltsvorschusskasse und der örtlichen Polizei.

Erstmalig erprobte Krefeld das Projekt im Jahr 2019. Damals entdeckten die Behörden 83 Familien, die zu Unrecht Kindergeld erhielten. In Gelsenkirchen wiederum wurden ein Jahr später 105 Wohnungen kontrolliert. Das Ergebnis: 127 Kinder bezogen unberechtigt Geld von der Familienkasse. In Wuppertal wurde eine rumänische Bande ausgehoben, die für 96 Kinder Zuwendungen bezog, obwohl diese nicht in Deutschland lebten. Auch in anderen NRW-Metropolen wurde das Projekt mittlerweile aufgelegt.