Die Kürzungspläne im Sozialbereich stoßen in NRW auf massive Kritik. In Düsseldorf machten Zehntausende deutlich, wie angespannt die Lage jetzt schon ist.
„Katastrophe und unverantwortlich“32.000 Menschen protestieren gegen Sozialkürzungen in NRW
Pinke, gelbe, grüne und hellblaue Warnwesten drängen sich am Mittwochmorgen an Gleis 4 des Kölner Hauptbahnhofs. „Kommt, nicht trödeln“, ruft Ulli Volland-Dörmann der bunten Westenscharr mit Kölner Awo-Aufdruck entgegen, die sich langsam in den RE 1 mit dem Ziel Düsseldorf schiebt. „Jetzt geht’s nicht darum, Ellenbogen auszufahren, aber stellt euch darauf ein, dass es eng und kuschelig wird“, bereitet Volland-Dörmann, Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt (Awo), ihre Mitarbeitenden auf die Gemengelage vor.
Nicht nur die Awo macht sich an diesem Tag auf den Weg in die Landeshauptstadt. Am Bahnsteig wehen auch Banner und Fähnchen anderer lokaler Wohlfahrtsverbände, darunter Caritas und Diakonie. Während die Gruppen im Zug noch auf Kuschelkurs gehen - schließlich eint sie dieser Tage das gleiche Übel - , ist wenige Stunden später dann eher Angriff angesagt – zumindest akustisch.
Denn die Freie Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen (NRW), in der sich die Sozialverbände als Arbeitsgemeinschaft zusammenschließen, hatte zur Demonstration aufgerufen, 32.000 Menschen waren dem laut Polizeiangaben gefolgt.
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Geschäftsführerin der Awo: „Habe solch einen Kahlschlag in 30 Jahren nicht erlebt“
Der Grund des Protests: Der Haushaltsentwurf der schwarz-grünen Landesregierung. Obwohl diese mit einem Rekord-Etat von 105,5 Milliarden Euro fürs kommende Jahr rechnet, sehen die Pläne laut Wohlfahrtspflege zahlreiche Kürzungen vor. Kürzungen, die insbesondere soziale Bereiche treffen, so der Vorwurf. Die Einsparungen summieren die Organisatoren der Demo auf 83 Millionen Euro.
Einen solchen Kahlschlag für die freie Wohlfahrtspflege habe Volland-Dörmann in 30 Jahren noch nicht miterlebt. Betroffen seien insbesondere die Bereiche Migration und Offene Ganztagsschule. „Das ist so eklatant“, sagt die Awo-Geschäftsführerin, die inzwischen mit ihrer Gruppe auf den linksrheinischen Rheinwiesen angekommen ist. Tausende Menschen aus ganz NRW, darunter Erzieherinnen, Eltern und Mitarbeitende aus Sozialverbänden, fluten dort die Grünfläche, erste Trillerpfeifen und Rasseln setzen ein. Ursprünglich sollte die Demonstration direkt vor dem Landtag am gegenüberliegenden Ufer stattfinden. Ein Protestmarsch in der Innenstadt war ebenso geplant, musste aber abgesagt werden.
NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann verteidigt Kürzungspläne
Mit reichlich Abstand zum Regierungssitz erhebt nun Hartmut Krabs-Höhler, Vorsitzender der Wohlfahrtspflege NRW, das Wort: „Dieser Haushaltsentwurf erweckt nicht den Eindruck, als wolle die Landesregierung die Mangelverwaltung in der Wohlfahrts- und Sozialarbeit beenden“, sagt er. „Mit diesem Etat lässt sich in vielen Bereichen nicht einmal der Status quo aufrechterhalten. Zahlreiche Träger kämpfen schon heute ums Überleben und müssen Beratungs- und Betreuungsangebote einschränken.“
Während er Applaus erntet, kriegt es insbesondere NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) mit starkem Gegenwind von der Masse zu tun, als er die Kürzungspläne verteidigt: „Ich habe Verständnis, dass hier heute demonstriert wird.“ Aber solange die Wirtschaft schwächle und die Steuereinnahmen sänken, seien Sparmaßnahmen notwendig. Sie würden zurückgenommen, sollte sich die Konjunktur verbessern.
Für Volland-Dörman klinge das „wie Bastapolitik“, sagt sie. Doch auch Familienministerin Josefine Paul (Grüne) betont auf der Bühne, dass das Land sparen müsse, obwohl es schmerzhaft sei. In den Bereichen für Kinder und Jugendliche werde nicht gekürzt, sagt sie und spricht sich für eine Aufweichung der Schuldenbremse aus, um Investitionen in die Zukunft zu ermöglichen.
Gerade der Offene Ganztag ist betroffen
Die Angst vor der Zukunft nimmt sie den Trägern der freien Wohlfahrtspflege an diesem Tag damit nicht. „Wir müssen sehen, wie wir noch klarkommen“, sagt Silke Reuter, Fachbereichsleiterin der Schulkinderbetreuung bei der Awo Köln, die sich ebenfalls unter die Demonstrierenden gemischt hat. Der Ganztag werde schon jetzt rudimentär behandelt. „Weniger geht kaum“, sagt sie.
Wohl noch dramatischer empfindet Zwan Karim, Leiterin der Perspektivberatung für Geflüchtete in Köln die Lage. Mit dem Caritas-Team steht sie nur wenige Meter entfernt von der Awo-Gruppe. „Damit Köln sozial bleibt“, steht auf den großen Bannern, die sie über die Massen schwenken. Wie sozial Köln tatsächlich bleiben kann, daran mag Karim kaum denken. Sie sei traurig. Denn für den Bereich Migration, Flucht und Integration seien Angaben der Wohlfahrtspflege zufolge die signifikantesten Kürzungen vorgesehen: 22.701.300 Euro.
Die Finanzierung des Beratungsangebots der Caritas stehe daher gänzlich auf der Kippe. „Sechs bis sieben Arbeitsplätze könnten wegfallen“, sagt Karim. Im letzten Jahr betreuten die Mitarbeitenden mehr als 1000 Fälle. „Dahinter stehen Menschen“, betont Karim. „Schade, dass diese Arbeit nicht gesehen wird.“ Deutschland sei ein Land, in dem Rechtsstaatlichkeit und Demokratie herrschen, in dem Menschenrechte gelten. „Wenn wir für die Menschen nicht da sind, steht das, auf das wir stolz sind, auf dem Spiel“, sagt sie.
Kölner Flüchtlingsrats: „Politisch und gesellschaftlich eine Katastrophe“
Die rote Karte für die Landesregierung zückt deshalb auch Claus-Ulrich Prölß, Geschäftsführer des Kölner Flüchtlingsrats. „Wieder einmal müssen Geflüchtete als Sündenböcke für eine verfehlte Sozial-, Wohnungsbau- und Bildungspolitik herhalten“, sagt er auf der Bühne, die symbolische rote Karte in der Hand. Politisch und gesellschaftlich sei das eine Katastrophe und „aus unserer Sicht völlig unverantwortlich.“
Über noch eines sind sich die meisten Demonstrierenden unter dem grauen Düsseldorfer Himmel einig: „Das, was wir tun, sind keine Almosen. Unsere Arbeit geschieht im Auftrag der öffentlichen Hand“, sagt Ulli Volland-Dörmann.
Sie alle kehren mit leisen Hoffnungen nach Hause zurück – nach Köln und viele weitere Teile des Landes. „Wenn über 32.000 Menschen der Freien Wohlfahrtspflege für den Erhalt der sozialen Infrastruktur und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in NRW kämpfen, sollte die Landespolitik doch ins Nachdenken und insbesondere schnell ins Handeln kommen“, so Volland-Dörmann.