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JA, „Aufbruch Leverkusen“, NeonazisWie sich die rechtsextreme Szene in Nordrhein-Westfalen laut Verfassungsschutz entwickelt

Lesezeit 4 Minuten
Blick auf das Gebäude des Verfassungsschutzes in Köln.

Das Innenministerium stellte jüngst den Verfassungsschutzbericht für den Beobachtungszeitraum 2023 vor.

Erstmals taucht auch die Jugendorganisation der AfD im jährlichen Verfassungsschutzbericht auf. Was dort über die rechtsextreme Szene steht.

Der Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2023 in Nordrhein-Westfalen zeigt: Die politisch motivierten Straftaten sind weiter auf einem Höchststand. 7596 solcher Taten zählte der Inlandsgeheimdienst im vergangenen Jahr, knapp die Hälfte davon, nämlich 3549, gehen auf das Konto von Rechtsextremisten. Der Bericht zeigt: Die Rechtsextremisten in NRW befinden sich im Umbruch – und es gibt Neuzugänge.

Die Zahl der Rechtsextremen in Nordrhein-Westfalen ist demnach leicht angestiegen. Der Geheimdienst schätzt das Personenpotenzial der Szene auf 3745, das sind 200 Menschen mehr als im Vorjahr. Grund dafür ist offenbar die Einstufung des NRW-Landesverbands der Jungen Alternative als rechtsextremer Verdachtsfall. Der Jugendorganisation der AfD rechnet der Inlandsgeheimdienst 200 Menschen zu. Die Zahl der gewaltorientierten Rechtsextremisten sank dafür auf 1800 Menschen – 100 weniger als 2022.

Ex-„Die Rechte“-Neonazis radikalisieren die NPD

Teile der Neonazi-Szene versuchten im vergangenen Jahr, sich neu zu strukturieren. Lange waren gerade in Dortmund viele Neonazis in der Partei „Die Rechte“ organisiert – eine besonders aggressive, fremdenfeindliche und antisemitische Kleinstpartei. Durch verstärkte Polizeikontrollen sowie Widerstand in der Zivilgesellschaft und seitens der Stadt geriet die örtliche Szene jedoch unter Druck. Im Januar 2023 löste sich der Landesverband auf, nur zwei Kreisverbände blieben übrig. Diese spielen „im rechtsextremistischen Spektrum nur noch eine Nebenrolle“, schreibt der Verfassungsschutz.

Einen Tag nach der Auflösung gründete der frühere Kopf von „Die Rechte“ NRW den Kreisverband Dortmund von „Die Heimat“ (früher NPD). Die ehemalige NPD versucht offenbar mit dem neuen Namen einen Neustart – und bildet ein Sammelbecken für die ehemaligen Mitglieder von „Die Rechte“. Dadurch nimmt ihre Bedeutung in der nordrhein-westfälischen Szene zu. „Zugleich radikalisieren die Neumitglieder den Landesverband“, warnt der Verfassungsschutz. Seit der Auflösung von „Die Rechte“ bilden „Die Heimat“ und die Kleinstpartei „Der III. Weg“ die strukturelle Basis der nordrhein-westfälischen Neonazis.

Im vergangenen Jahr setzte das Bundesinnenministerium zwei Verbote von rechtsextremistischen Vereinigungen durch: Im Juli traf es die sektenartige „Artgemeinschaft“, zwei Monate später verbot das Ministerium die „Hammerskins Deutschland“. Der Verfassungsschutz in NRW hofft damit auf eine Abschreckung, gibt jedoch zu: Die Wirkung solcher Verbote sei begrenzt. Erst Anfang April dieses Jahres erhob die Bundesanwaltschaft Anklage gegen Mitglieder von „Combat 18“, die trotz Verbot die Strukturen der Organisation aufrechterhielten. Einer der Angeklagten zählt zu der Dortmunder Neonazi-Szene.

AfD-Vorfeld vernetzt sich weiter mit Neuen Rechten

Die rechtsextreme „Identitäre Bewegung“ verfügt weiterhin über keinen Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen. Ähnlich wie in Deutschlands Nachbarländern löst sich die Organisation in Nachfolgestrukturen auf: In NRW sind dies „Revolte Rheinland“ und die Gruppierung „Lukreta“, der ausschließlich Frauen angehören. Beide versuchten 2023, durch fremden- und queerfeindliche Aktionen, Aufmerksamkeit zu generieren: „Revolte Rheinland“ mit Banner- und Klebeaktionen im öffentlichen Raum, „Lukreta“ hauptsächlich über Social-Media-Kanäle. „Die Nachfolgegruppierungen sind Bestandteil eines Netzwerkes der rechtsextremistischen Strömung der Neuen Rechten“, schreibt der Verfassungsschutz.

Beide Gruppierungen sind gut vernetzt mit der AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“ (JA). Der Verfassungsschutz ernannte den nordrhein-westfälischen Landesverband der JA im Dezember zum „rechtsextremen Verdachtsfall“. „In den vergangenen Jahren ist die JA NRW ideologisch auf den politischen Kurs des Bundesverbandes der JA eingeschwenkt“, schreibt der Verfassungsschutz. „Dieser zeichnet sich durch ein völkisch-ethnisches Volksverständnis und Fremdenfeindlichkeit aus.“ Auch die JA habe sich zu einem Bestandteil der Neuen Rechten entwickelt.

Ebenfalls beobachtet wird in NRW der „Völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss“ innerhalb der AfD, ehemals „Flügel“. „In Nordrhein-Westfalen stellt er einen relevanten – jedoch nicht dominierenden – Faktor im Landesverband der AfD dar“, steht es im Jahresbericht.

„Aufbruch Leverkusen“ scheint Anhänger durch neue Bündnispartner zu verlieren

Auch die neu gegründete Partei „Aufbruch Frieden-Souveränität-Gerechtigkeit“ um die prorussische Aktivistin Elena Kolbasnikova und den Rechtsextremisten Markus Beisicht landete direkt im Gründungsjahr im Verfassungsschutzbericht – in einer Unterrubrik zu der rechtsextremen Partei „Aufbruch Leverkusen“. Die Funktionäre der neuen Partei kommen aus dem prorussischen, rechtsextremen und islamistischen Spektrum. Gemeinsamer Nenner ist der Antiamerikanismus.

Eine große Bedeutung scheint der Geheimdienst beiden Parteien nicht zuzuschreiben: Zu einer pro-palästinensischen Kundgebung im Oktober seien nur vier Teilnehmer erschienen, schreibt der Verfassungsschutz. „Die bisherigen Anhänger von Aufbruch Leverkusen folgen dem ‚Themenhopping‘ und neuen extremistischen Kooperationspartnern der Führungsfigur Beisicht weitgehend nicht.“