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„Schonungslos Tatsachen erhoben“Kölner Strafrechtler über neues Missbrauchsgutachten

Lesezeit 9 Minuten
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Stark in der Kritik: Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki

  1. Der Kölner Strafrechtler Björn Gercke spricht im Interview ausführlich über das juristische Ringen um sein Missbrauchsgutachten im Erzbistum Köln und Pflichtverletzungen von Bistumsverantwortlichen.

KölnHerr Professor Gercke, am 18. März soll Ihr Gutachten zu Fällen sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln und dem Umgang damit vorliegen. Wie ist Ihr Stand?Björn Gercke: Wir sind auf den letzten Metern. Die Auswertung der Fälle ist abgeschlossen. Wir haben alle potenziell Verantwortlichen aus der Bistumsspitze, aber auch aus dem „Mittelbau“ der Bistumsverwaltung sowie weitere Personen, die für uns von Interesse waren, befragt und deren Stellungnahmen erhalten. Gerade sind wir in den letzten Zügen bei dem Punkt „strukturelle Ursachen“ von Missbrauch und etwaigen Handlungsempfehlungen.

Seit Monaten verbindet sich die Frage nach der Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse mit „äußerungsrechtlichen Bedenken“. Erklären Sie bitte einmal, was das heißt.

Jeder Mensch hat berechtigten Anspruch darauf, nicht öffentlich durch den Kakao gezogen zu werden. Personen des öffentlichen Lebens, zu denen Kardinäle, Bischöfe, Generalvikare eines Bistums gehören, haben in der Berichterstattung über sie einen geringeren äußerungsrechtlichen Schutz. Bei nachgewiesenen Verfehlungen müssten es aber auch andere hochrangige Funktionsträger hinnehmen, dass über sie berichtet wird. Die rechtlichen Spielräume müssen jeweils ausgelotet werden. Unser Gutachten hat zunächst schonungslos die Tatsachen erhoben. Jetzt wird abschließend äußerungsrechtlich geprüft, was davon auch öffentlich gemacht werden kann. Und ich verrate heute nicht zu viel, wenn ich sage: Die Reaktionen des einen oder anderen potenziell Verantwortlichen oder seiner Anwälte lassen erwarten, dass es äußerungsrechtlich zum Schwur kommen kann.

Wie erklärt sich die Abweichung der Zahlen von Opfern und Beschuldigten in Ihrem und – wie zu hören ist – dem nicht veröffentlichten Münchner Gutachten von den Zahlen der sogenannten MHG-Studie aus dem Jahr 2018?

Die von uns bislang genannten Zahlen sind gerundete Werte. Anders als die MHG-Studie, haben wir den Blick im Übrigen nicht nur auf Kleriker gerichtet, sondern auch auf Laien in Diensten des Bistums, also etwa auf Lehrer an erzbischöflichen Schulen. Genaueres am 18. März.

Was bedeutet die Auskunft, Ihr Gutachten werde deutlich „schmerzhafter“ für das Erzbistum als das Münchner?

Wir werden uns nicht auf eine Auswahl von Fällen beschränken, sondern alle Fälle in Kurzform darstellen. Und wir gehen eine Stufe weiter, prüfen also neben den Verantwortlichkeiten der Bistumsleitung auch den eben erwähnten Mittelbau. Derzeit erörtern wir mit den Äußerungsrechtlern die Frage, hier nicht nur Funktionen, sondern möglichst weitgehend auch Namen nennen zu können.

Wenn Sie alle Fälle darstellen, besteht dann nicht die Gefahr, dass Orts- und Personenkundige daraus auf die jeweiligen Täter oder gar auf die Opfer schließen können?

Wir haben sorgfältig darauf geachtet, dass genau das nicht passiert. Bei einer gestrafften, abstrahierenden Darstellung aller Fälle in Kurzform ist das unproblematisch. Herausfordernder sind die Fälle, in denen wir Pflichtverletzungen nachgewiesen haben und die wir deshalb auch ausführlicher schildern. Die Persönlichkeitsrechte der Täter müssen und werden wir schützen, aber bei den Opfern ist es mir – unabhängig vom Rechtsrahmen – auch ein inneres Anliegen, sie so zu schützen, dass niemand identifizierbar sind. Das gelingt insofern aber recht gut, als wir den Fokus ja nicht auf die Tathergänge selbst richten, sondern auf das jeweilige Agieren der Bistumsleitung. Es geht uns also nicht darum, „was hat Priester X dem Kind Y angetan?“, sondern „haben Kardinal, der Generalvikar, sonst ein Bistumsverantwortlicher richtig gehandelt?“

Hören Sie dieses Interview und weitere Interviews zu den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche und die Vorgänge im Kölner Erzbistum auch als Podcast unter ksta.de/podcast.

Woran messen Sie denn „richtiges“ oder „falsches“ Handeln?

An den Vorgaben des Rechts, des weltlichen und des kirchlichen Rechts. Für die kirchenrechtlichen Fragen haben wir uns als Kanzlei – wir sind keine Kirchenrechtler - zweier renommierter Experten versichert. Wir erstellen kein moralisch-ethisches Gutachten. Das können wir auch gar nicht. Wir sind Juristen und bleiben auch bei unserer Disziplin. Wir versuchen, den Leser, die Leserin in unserer relativ nüchternen Bewertung so transparent mitzunehmen, dass sie sich hinterher ein eigenes moralisches Urteil bilden können. Und natürlich – das lassen wir uns nicht ganz nehmen – nehmen wir am Ende auch noch eigene Bewertung vor, die wir aber explizit als solche kennzeichnen.

Aber in welchem Paragrafen des Strafrechts oder welchem Kanon des Kirchenrechts steht, dass Empathielosigkeit oder Kaltherzigkeit oder ein vernachlässigender, ignorierender Umgang gegenüber Opfern strafbar seien? Das sind alles moralische Kategorien, die mit dem Selbstverständnis der Kirche und ihrer Seelsorger zu tun haben.

Nachlässigkeit ist zum Beispiel bei Unterlassung eines gebotenen Handelns schon als solche rechtlich fassbar. Aber Sie haben völlig recht, dass so etwas wie „Kaltherzigkeit“ an sich kein Tatbestand ist. Der Punkt ist folgender: Solche Eigenschaften wie Kaltherzigkeit oder Empathielosigkeit führen gegebenenfalls dazu, dass kirchliche Würdenträger Pflichten verletzt haben. Sie hätten handeln müssen, taten es aber nicht.

Haben Sie solche Pflichtverletzungen von Akteuren festgestellt, die heute noch im Amt sind?

Wir haben Pflichtverletzungen noch lebender Akteure festgestellt. So möchte ich es einmal formulieren. Mehr dazu am 18. März. Dann lassen wir die Katze aus dem Sack.

Wenn Sie den Sack denn aufmachen dürfen und die Bistumsleitung nicht auch den ihren zubindet…

Da sehen Sie mich ganz gelassen. Gehen Sie davon aus, dass wir Ihnen, Ihren Kolleginnen und Kollegen und der Öffentlichkeit am 18. März ein umfassendes Gutachten präsentieren werden. Wir stehen in diesen Tagen, wie erwähnt, in einem teilweise sehr intensiven Austausch, weil wir immer noch sehr umfassend Post von Anwälten bekommen, die auf Basis von Wortlautprotokollen unserer Befragungen für ihre Mandanten bestimmte Dinge klarstellen oder anmerken wollen. Wer lesen kann, ist im Vorteil: Natürlich wird man der Art unserer Fragen anmerken, wo wir Pflichtverletzungen gesehen haben, mit denen wir die Verantwortlichen konfrontiert haben. Darin liegt der Sinn solcher Befragungen. Und dann liegt es rechtsstaatlich in der Freiheit der Verantwortlichen, Vorwürfe auszuräumen. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass das nicht in jedem Fall gelungen ist.

Das heißt: Männer aus der Kirchenleitung, denen Vertuschung und andere schlimme Verfehlungen vorgeworfen werden, tun jetzt mit rechtlichen Mitteln alles, um das nicht öffentlich werden zu lassen – mit einer Armada von Anwälten und langen Schriftsätzen?

Das ist rechtsstaatlich völlig in Ordnung. Das Verhalten der potenziell Verantwortlichen – so muss ich es ja noch formulieren – ist sehr, sehr unterschiedlich. Auch das werden wir darstellen. Die einen sind mit Anwalt erschienen, die anderen ohne. Auch der Umgang in den Befragungen war sehr verschieden.

Muss man gewärtigen, dass hochrangige Funktionäre gegen ihr eigenes Erzbistum vor Gericht gehen?

Wir wollen ja genau verhindern, dass das Erzbistum mit Klagen etwa auf Schadensersatz überzogen werden kann. Das ginge dann aus meiner Sicht auch auf die völlig falsche Ebene. Deswegen hoffe ich, dass wir nach dem 18. März nicht mehr über äußerungsrechtliche Dinge sprechen müssen. Meine Idealvorstellung ist, dass die Öffentlichkeit sich unser Gutachten und – so es irgend möglich ist – auch das Gutachten der Münchner Kollegen ansehen kann und dass man dann wirklich über die Inhalte diskutiert. Denn eines ist ja klar: Juristische Aufarbeitung ist nur ein Teilaspekt. Wir sind nicht so größenwahnsinnig anzunehmen, juristische Begutachtung sei das Allheilmittel. Ich habe von der Bistumsleitung das Gefühl – mehr kann es ja nicht sein - vermittelt bekommen, dass man sich dessen auch durchaus bewusst ist. Das hat sicher mit dem Druck der Öffentlichkeit zu tun, ist vielleicht auch Eigenerkenntnis. Das mögen andere beurteilen. Aber ich bin sicher, dass unser Gutachten nicht unter dem Motto auf den Tisch gelegt wird, „das war's jetzt“. Nicht zuletzt sind dafür auch kritische Journalisten zuständig.

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Aber Sie verstehen, dass die Vorstellung, Bischöfe oder Generalvikare könnten Schadensersatzklagen gegen ihr eigenes Bistum anstrengen, schon ein bisschen skurril anmutet?

Die Vorstellung ist skurril, aber die Äußerungsrechtler des Erzbistums haben das Selbstvertrauen, dass das nicht passieren wird – oder jedenfalls nicht erfolgreich sein wird. Aber letztlich ist das Kaffeesatzleserei.

Bei der Vorstellung eines Gutachtens in Berlin fehlten in der Mitte mehrere hundert Seiten. Nämlich genau die, in denen die Missbrauchsfälle, deren Vertuschung samt den dafür Verantwortlichen dargestellt werden.

Kann das am 18. März auch in Köln passieren – wegen der erwähnten rechtlichen Bedenken?

So ein Gutachten werden wir bestimmt nicht abliefern. Aber es ist ein Ringen mit dem Äußerungsrecht, damit die Öffentlichkeit am Ende ein Gutachten präsentiert bekommt, das Ross und Reiter nennt.

Sie sagten zurecht, juristische Aufarbeitung sei nicht alles. Wie gehen denn Fragen nach strukturellen und inhaltlichen Konsequenzen aus dem Missbrauchsskandal in Ihr Gutachten ein? Mögliche Reform der Sexualmoral, Kampf gegen Klerikalismus und Männerbünde oder Ähnliches.

Vorschläge zu Veränderungen von Organisationsstrukturen fallen durchaus in die Kompetenz von Juristen. Solche werden wir auch unterbreiten. Männerbünde oder andere Schlagworte kommen bei uns ähnlich in den Blick wie die erwähnte Kaltherzigkeit: nicht als streng juristische Regelverletzung, aber als ein Verhalten, das zu Normverstößen führen kann. Insofern lassen wir auch so etwas nicht völlig beiseite. Aber es liegt uns tatsächlich fern, Ausführungen etwa zur katholischen Sexualmoral im Allgemeinen zu machen.

Zur Person

Björn Gercke ist Partner der Kölner Anwaltskanzlei Gercke-Wollschläger. Diverse Juristen-Rankings führen ihn als Top-Anwalt im Bereich des Strafrechts und Wirtschaftsstrafrechts. Gercke ist Honorarprofessor an der Universität zu Köln. Im Herbst 2020 beauftragte Kardinal Rainer Woelki ihn mit einem Gutachten zum Umgang des Erzbistums Köln mit Missbrauchsfällen. (jf)

Zum Fall O., in dem es um den Umgang von Kardinal Woelki mit dem Missbrauchsvorwurf gegen einen mit ihm befreundeten Priesters geht…

… werde ich vor dem 18. März nichts sagen.

Aber Sie sagen etwas dazu in Ihrem Gutachten?

Ja.

Wie ist Ihnen das persönlich bei der Arbeit mit all diesen Fällen gegangen? Fasst Sie das anders an als – sagen wir – ein Wirtschaftsstrafverfahren?

Alle Missbrauchstaten sind schrecklich. Es gibt Taten, da steckt man die Lektüre nicht so ohne Weiteres weg. Manchmal ist es dann eine Lösung, so eine Akte auch mal ein, zwei Tage wegzulegen. Bei der Frage nach Verantwortlichkeiten bewegen wir uns dann eher auf gewohntem Terrain. Das ist im Grunde nicht viel anders als bei Wirtschafts- oder Steuerstrafverfahren: Wer wusste wann was? Und wer hat wie gehandelt oder eben auch nicht gehandelt?

Wenn Sie einer der Verantwortungsträger wären, mit denen Sie gesprochen haben: Würden Sie zurücktreten?

Die Frage überschreitet meine Kompetenz und Tätigkeit als Gutachter. Wir zeigen Pflichtverletzungen auf. Und dann ist die Debatte eröffnet. Es gibt sicher Situationen, in denen man sich unabhängig von persönlicher Schuld die Frage stellen muss, ob man eine „politische“ Verantwortung hat. Das muss jeder mit sich selbst ausmachen.

Das Gespräch führte Joachim Frank