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„Moskau wird Europa auseinanderreißen“Selenskyj fordert europäische Armee und hält am NATO-Beitritt fest

Lesezeit 4 Minuten
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht während der 61. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC).

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht während der 61. Münchner Sicherheitskonferenz (MSC).

Bei der Münchner Sicherheitskonferenz prallen die Europäer und die USA aufeinander. Selenskyj bittet Europa, eine eigene Armee und mehr Waffenproduktion aufzubauen.

Durch die große voll besetzte Halle der Münchner Sicherheitskonferenz geht ein lautes Raunen. Einige lachen. Die Moderatorin hat gerade Friedrich Merz als „Chancellor“ (Kanzler) bezeichnet und sich dann schnell verbessert. „Chairman“ (Vorsitzender der CDU) ist die korrekte Bezeichnung.

Merz, der zurückgelehnt in dem weißen Sessel auf der Talkbühne sitzt, ergreift die Gelegenheit, bedankt sich für das „Kompliment“ und schiebt schnell hinterher, dass zwischen dieser Bezeichnung und ihm noch 60 Millionen Wähler stünden.

„Sicherheitskonferenz“ spielt für US-Administration untergeordnete Rolle

Die Sicherheitskonferenz im Bayerischen Hof in München steht im Zeichen scharfer innenpolitischer Auseinandersetzungen im Bundestagswahlkampf. Sie steht auch im Zeichen von drei Jahren Ukraine-Krieg und einer neuen US-Administration, für die der Titel der Veranstaltung „Sicherheitskonferenz“ eine untergeordnete Rolle spielt.

US-Vize-Präsident J.D. Vance jedenfalls erwähnt in seiner Rede am Freitag die Ukraine mit keinen Wort, belehrt Deutschland und Europa stattdessen über politische Werte. Er verlangt von den Mehrheitsparteien in Deutschland, mit der AfD zusammenzuarbeiten. Deren Vertreter sind im Bayerischen Hof nicht eingeladen. Vance setzt seinerseits ein Zeichen und empfängt AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel nach seinem Auftritt bei der MSC in seinem Hotel.

„Der ist eh nicht mehr lange Kanzler“

Bevor Vance die AfD-Chefin traf, hatte er bereits mit Merz gesprochen. „Es ist fast schon ein übergriffiger Umgang mit den Europäern, insbesondere mit uns Deutschen“, sagte Merz hinterher den Sendern RTL und ntv. „Wir haben eine andere Meinung.“ Das habe er Vance auch deutlich gesagt.

Auf ein Treffen mit Scholz hatte der US-Vizepräsident mit den Worten verzichtet, dieser sei „eh nicht mehr lange Kanzler“. Auch diese Art des Umgangs ist neu auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Das Treffen wird international so hoch geschätzt, weil eben jeder mit jedem spricht - auch wenn die Gegensätze große sind. Eine scharfe Antwort auf seine Rede erhielt der am Samstag bereits abgereiste Vance dennoch vom Bundeskanzler.

Scholz rüffelt Vance

Bei seinem Auftritt in München geht Scholz darauf ein, dass Vance die KZ-Gedenkstätte Dachau besucht hat. Vance habe gesagt, die Gedenkstätte zeige, „warum wir uns dafür einsetzen sollten, dass so etwas nie wieder geschieht“. Für diesen Satz sei er Vance sehr dankbar.

Denn dieses „Nie wieder!“ sei die zentrale Lehre, die die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg aus der entsetzlichen Erfahrung der nationalsozialistischen Terrorherrschaft gezogen hätten - auch dank großer amerikanischer Unterstützung.

Und dann kommt der Kanzler zur AfD. Sie sei „eine Partei, aus deren Reihen heraus der Nationalsozialismus und seine monströsen Verbrechen – Menschheitsverbrechen, wie sie in Dachau geschehen sind – als ‚Vogelschiss‘ der deutschen Geschichte verharmlost werden.“ Ein Bekenntnis zum „Nie wieder!“ sei daher nicht mit der Unterstützung für die AfD in Einklang zu bringen.

Sorge über den Kurs der Amerikaner

Jenseits der großen Bühne herrscht vor allem Ratlosigkeit und Sorge über das Vorgehen und Auftreten der Amerikaner. Am Freitag hatten sich nach entsprechender Ankündigung von US-Seite Gerüchte verbreitet, am Rande der Konferenz sollten eine ukrainische, eine russische und eine amerikanische Delegation zur Beratung über einen Friedensschluss zusammenkommen. Die Aufregung legt sich, als nach und nach klar wird, dass weder die Konferenzleitung noch die deutschen Behörden von einer russischen Delegation wissen.

Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigt sich alarmiert über das Vorgehen der Amerikaner. Er hält eine Rede, die zugleich eine dringende Warnung und eine Hymne an Europa ist. Selenskyj schildert zunächst die Lage: Tägliche russische Angriffe mit fast 100 Drohnen, zudem mit Raketen und Gleitbomben.

Selenskyj hält weiter am NATO-Beitritt der Ukraine fest

Einen Tag vor Beginn der Sicherheitskonferenz hat Russland das frühere Kernkraftwerk Tschernobyl angegriffen, die Schutzhülle wurde teilweise zerstört. „Wir sehen das als einen sehr symbolischen Akt Russlands an“, sagt der Präsident. „Ein Land, das solche Angriffe ausführt, möchte keinen Frieden.“ Selenskyj appelliert fast flehentlich an die Europäer, endlich eine eigene gemeinsame Armee und mehr eigene Waffenproduktion aufzubauen.

Einig müsse die EU auftreten, mahnt er. „Moskau wird Europa auseinanderreißen, wenn wir Europa kein Vertrauen entgegenbringen.“ Und an Trump geht der Hinweis, sich nicht von Putin bezirzen und benutzen zu lassen. Er fordert, die Ukraine müsse an Friedensverhandlungen beteiligt werden. Trump solle sich vor einem Treffen mit Putin mit ihm, Selenskyj, treffen. Am Nato-Beitritt, den die USA bereits vom Tisch genommen haben, hält er fest.

Selenskyj sagt auch, dass er Trump schon persönlich seine Ansichten mitgeteilt habe, manches habe er mehrfach wiederholt. „Ich glaube, dass das angekommen ist“, sagt er. Er habe Trump auch gesagt, dass Putin Angst vor ihm – Trump – habe, erzählt er in einer anschließenden Fragerunde. „Putin weiß das jetzt“, fügt er hinzu.

Die Moderatorin entschuldigt sich für ihr spontanes Lachen. Und der Präsident, der seit drei Jahren durch einen Krieg steuert, antwortet freundlich: „Wir müssen ja auch leben und wir müssen Gelegenheit zum Lachen haben. Das ist wichtig.“