Genf/London/Berlin – Nur eine rasche und drastische Senkung des Treibhausgas-Ausstoßes kann die Erderwärmung nach Einschätzung des Weltklimarats noch auf maximal 1,5 Grad begrenzen.
Die Zeit zum Handeln sei gekommen, heißt es in einem aktuellen Bericht des Weltklimarats (IPCC). „Wir sind an einem Scheideweg. Die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, können eine lebenswerte Zukunft sichern”, erklärte der IPCC-Vorsitzende Hoesung Lee. „Wir haben die Werkzeuge und das Wissen, um die Erwärmung zu begrenzen.” UN-Generalsekretär Antonio Guterres erhob schwere Vorwürfe gegen Wirtschaft und Politik.
Die Vereinten Nationen hatten im vorigen Jahr ihr Ziel bekräftigt, die Erderwärmung im Vergleich zum späten 19. Jahrhundert auf 1,5 Grad zu begrenzen, um katastrophale Folgen des Klimawandels abzuwenden. Es seien mittlerweile effektive Klimaschutzmaßnahmen, gesetzliche Regulierungen und Marktmechanismen bekannt, betonte Lee. „Wenn diese entsprechend skaliert und breiter angewendet werden, können sie tiefgreifende Einsparungen von Emissionen unterstützen und Innovationen ankurbeln.” So seien etwa die Kosten für Solar- und Windenergie seit 2010 um bis zu 85 Prozent gesunken, was den Ausbau der erneuerbaren Energien angekurbelt habe.
Bericht: Unverzügliche Verringerungen der Emissionen nötig
Im Durchschnitt lag der weltweite Ausstoß von Treibhausgasen zwischen 2010 und 2019 so hoch wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Allerdings habe sich die Wachstumsrate verlangsamt, heißt es im Bericht. Aber ohne unverzügliche Verringerungen der Emissionen sei das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr zu erreichen.
Dazu gehört etwa im Energiesektor, erheblich weniger fossile Energieträger zu nutzen, den Verkehr und andere Sektoren weitgehend zu elektrifizieren, die Energieeffizienz zu verbessern und alternative Kraftstoffe wie Wasserstoff zu nutzen.
Politische Rahmenbedingungen entscheidend
Der Weltklimarat beleuchtete außerdem, welchen Einfluss es hat, weniger Fleisch zu essen oder sich klimafreundlicher fortzubewegen - und kommt zu dem Schluss: Lebensstil und persönliches Verhalten spielen zwar eine wichtige Rolle fürs Klima. Doch brauche es die richtigen Rahmenbedingungen durch die Politik, betonen die Autoren. Die Verantwortung dürfe nicht auf den Einzelnen abgewälzt werden. Mit Richtlinien, neuen Technologien und passender Infrastruktur könne man die Treibhausgas-Emissionen bis 2050 um 40 bis 70 Prozent reduzieren, heißt es - „ein erhebliches ungenutztes Potenzial”.
Die Wissenschaft hält es für immer wahrscheinlicher, dass die Erhitzung der Erde zeitweise die kritische Schwelle von 1,5 Grad übersteigen wird, bevor sie durch entsprechende Maßnahmen wieder sinken könnte. Dabei wird auch die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre eine Rolle spielen, die vom Weltklimarat erstmals ausführlicher betrachtet wurde. Die Experten befürworten zwar die Erforschung solcher Techniken, warnen aber davor, sich darauf zu verlassen. Keine Technologie dieser Art könne auffangen, was an notwendigen Einsparungen in anderen Bereichen ausbleibe.
Zehntausende Studien ausgewertet
Für den Bericht hatten Hunderte Wissenschaftler aus 65 Ländern in den vergangenen Jahren Zehntausende Studien ausgewertet. Er ist Teil des 6. Sachstandsberichts des Weltklimarats, dessen Veröffentlichungen als umfassendster und international anerkannter Stand der Klimaforschung gelten. In dem Bericht, dem 195 IPCC-Mitgliedstaaten jetzt zustimmten, geht es um Maßnahmen zur Abschwächung des Klimawandels.
„Wir haben die Emissionskurve der Treibhausgase nicht nach unten gebogen, wir haben nur ihren Anstieg etwas abgeflacht”, sagte Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Nun müsse die Politik zupacken. Die Organisation Germanwatch erklärte, die für die Bewältigung der Klimakrise entscheidende Dekade habe begonnen.
Die Klima-Allianz Deutschland, ein Bündnis vieler Organisationen, rief zu einer Drosselung des Verbrauchs fossiler Energien auf. „Zur Eindämmung der Klimakrise ist ein Sprint beim Abschied von Kohle, Öl und Gas notwendig”, erklärte Chefin Christiane Averbeck. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine zeige, dass ein solcher Abschied auch die Abhängigkeit von autoritären Regimen verringere.
FFF: „Zeitfenster schließt sich rasant”
Die Bewegung Fridays for Future zeigte sich alarmiert. Der Bericht zeige: „Das Zeitfenster für die Einhaltung des Pariser Klimaabkommen schließt sich rasant.” Bereits jetzt müsse zum Einhalten der 1,5-Grad-Grenze Kohlenstoffdioxid wieder aus der Atmosphäre entfernt werden. Doch das Warten auf ein „technologisches Wunder” werde vergebens sein. „Es gibt keine Möglichkeit zur CO2-Entfernung, die die Notwendigkeit radikaler Emissionsreduktion ersetzt.”
Die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg warnte vor falschem Optimismus. „Wenn ihr den neuen IPCC-Bericht lest, behaltet im Hinterkopf, dass die Wissenschaft vorsichtig ist und dass das hier in den Verhandlungen von Ländern verwässert worden ist”, schrieb die 19-Jährige auf Twitter. Vor der Veröffentlichung des Teilberichts zur Begrenzung des Klimawandels hatten die Forscherinnen und Forscher rund zwei Wochen lang mit Staatenvertretern um finale Formulierungen gerungen. Thunberg kritisierte, manchen scheine es eher darum zu gehen, den Verursachern des Klimawandels falsche Hoffnung zu geben anstatt „die unverblümte Wahrheit auszusprechen, die uns eine Chance zum Handeln geben würde”.
„Dokument der Schande”
UN-Generalsekretär Antonio Guterres erhob schwere Vorwürfe gegen Wirtschaft und Politik. „Es ist ein Dokument der Schande, ein Katalog der leeren Versprechen, die die Weichen klar in Richtung einer unbewohnbaren Erde stellen”, betonte er in einer Videobotschaft. „Sie ersticken unseren Planeten”, sagte Guterres über Regierungen und Firmen, die für hohe Treibhausgas-Emissionen verantwortlich sind.
Ähnlich äußerte sich der Klimaschützer und frühere US-Vizepräsident Al Gore: Der IPCC-Bericht mache es mehr als klar, dass die Zeit der leeren Versprechungen vorbei sei. Es bestehe eine atemberaubende Kluft zwischen den Versprechungen von Politik, Wirtschaft und Banken und den Handlungen, die nötig seien, um die Ziele des Pariser Weltklimaabkommens zu erreichen.
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