Die Diplomatie-Forderungen von Papst, BSW, AfD und Rolf Mützenich wirken angesichts der Signale aus Moskau reichlich realitätsfremd.
„In Verschwörungsdenken gefangen“Warum Verhandlungen mit Putin unmöglich sind
Mit Dmitri Kisseljow hat sich Kremlchef Wladimir Putin einen seiner führenden Propagandisten als Gesprächspartner für sein jüngstes Interview ausgesucht. Der Chef der staatlichen Nachrichtenagentur „Rossiya Segodnya“ hat erst kürzlich mit Spekulationen über mögliche russische Vergeltungsschläge auf Brücken in Deutschland für Wirbel gesorgt. Auch die Kölner Hohenzollernbrücke nahm Kisseljow dabei ins Visier. Nun bat er den Kremlchef zum Gespräch – und entlockte Putin dabei nur wenig Neues. Bis auf eine Ausnahme.
Neben Putins bereits bekannten Äußerungen über angeblich „drogensüchtige Neonazis in Kiew“ und die Gefahr eines Atomkrieges sorgte vor allem ein Satz des Kremlchefs für Wirbel. „Jetzt zu verhandeln, nur weil ihnen die Munition ausgeht, wäre von unserer Seite irgendwie absurd“, erklärte Putin – und dürfte damit vor allem den jüngsten Vorstoß von Papst Franziskus indirekt kommentiert haben.
Putin kontert Pontifex: „Jetzt zu verhandeln, wäre irgendwie absurd“
Der Pontifex hatte die Ukraine am Wochenende dazu aufgefordert, die eigene militärische Niederlage einzugestehen und die „Weiße Flagge“ zu schwenken. Zu verhandeln, das sei keine Schande, befand Franziskus – und bekam dafür nicht nur scharfe Kritik im Westen, sondern nun auch die Replik Putins.
Allein ist der Papst mit derartigen Vorstößen insbesondere in Deutschland nicht. Ob das Bündnis Sahra Wagenknecht, die Alternative für Deutschland, Teile der SPD, Politikwissenschaftler wie Johannes Varwick oder Publizistinnen wie Alice Schwarzer – sie alle reihen sich seit Kriegsbeginn immer wieder im Lager der „Engel aus der Hölle“ ein. So hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) diejenigen im vergangenen Jahr bezeichnet, die „mit Friedenstauben herumlaufen“ und stets nach Verhandlungen rufen – dabei jedoch konsequent die harten Realitäten ignorieren.
SPD und der „Friedenskanzler“: Augenrollen bei Annalena Baerbock
Mittlerweile inszenieren sich Kanzler und SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich unterdessen selbst zunehmend als „Friedenstauben“ – Mützenich sprach noch am Donnerstag davon, den Krieg „einfrieren“ zu wollen. Scholz inszeniert sich in der Debatte um Taurus-Marschflugkörper unterdessen mittlerweile gerne als „Friedenskanzler“. Die jüngsten Signale aus Moskau scheinen die SPD auf ihrem Kurs ebenso wenig zu stören wie BSW, AfD, Varwick und Co.
Auch Außenministerin Annalena Baerbock scheint es mittlerweile schwer zu fallen, dem Koalitionspartner noch zu folgen. Am Mittwoch gab es von den Grünen keinen Applaus für die Rede des Kanzlers. Am Donnerstag sprach Baerbocks Mimik bei Mützenichs Worten eine klare Sprache. Kein Wunder, eine Verhandlungslösung im Sinne der Ukraine ist schließlich nicht in Sicht.
„Hauptproblem einer diplomatischen Lösung bleibt, dass es keine gemeinsame Grundlage an Fakten gibt“, erklärte der Historiker und Russland-Experte Matthäus Wehowski bei X (vormals Twitter). So habe Russland formell Territorien annektiert, die nicht einmal unter russischer Kontrolle seien. Dennoch beanspruche Putin diese Territorien, da der Kremlchef eine „ethnische Sicht“ auf die Bevölkerung in der Ukraine habe, erklärte Wehowski. Demnach werden alle russischsprachigen Menschen „prinzipiell als Russen deklariert“.
Wladimir Putin in „Paranoia und Verschwörungsdenken gefangen“
Bereits in der Vergangenheit hatte der russische Präsident stets durchblicken lassen, dass er die Ukraine nicht als eigenständigen Staat mit einer unabhängigen Bevölkerung begreift. Zuletzt hatte Putin in einem viel beachteten Gespräch mit US-Influencer Tucker Carlson einen rund 30-minütigen Vortrag gehalten, um diese Weltsicht zu untermauern. Der Kremlchef sei in „Paranoia und Verschwörungsdenken gefangen“, führte Wehowski aus. „Putin möchte Gespräche nur zu ‚seinen Bedingungen‘ und nur über, nicht mit der Ukraine.“
Die jüngste Aussage des Kremlchefs unterstreicht das eindrucksvoll. Die letzten Zweifel beseitige am Donnerstag dann schließlich der Vizechef des russischen Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew, und formulierte Moskaus Forderungen für Verhandlungen. Darunter finden sich die „bedingungslose Kapitulation“ und die „Wiedervereinigung“ des gesamten ukrainischen Territoriums mit der Russischen Föderation.
Mord, Folter, Vergewaltigung: Waffenstillstand hilft Menschen in besetzten Gebieten nicht
Wagenknecht, AfD, Mützenich und Co. hält das unterdessen nicht davon ab, immer wieder „diplomatische Lösungen“, einen „Waffenstillstand“ oder das „Einfrieren des Konflikts“ zu fordern. Wer da mit wem worüber genau verhandeln und wie bei einem Waffenstillstand die Sicherheit der Menschen in den von Russland besetzten Gebieten aussehen soll, bleibt bei den schrillen Forderungen, die sich gegen „Sesselgeneräle“ und „Bellizisten“ richten, stets offen. Dabei ist es kein Geheimnis, was die russische Besatzung bereits seit 2014 für die Menschen in der Ostukraine und auf der Halbinsel Krim bedeutet.
Noch im Februar plauderte der Chef der russischen Besatzungsverwaltung in der ukrainischen Region Saporischschja offen über ethnische Säuberungen, die von den russischen Truppen in der Region durchgeführt würden. „Diejenigen, die den Krieg nicht unterstützt haben und Russlands Fahne und Präsident Putin verflucht haben“ seien „vertrieben“ und „deportiert worden“, erklärte Jewhen Balyzkyj in einem TV-Interview. Die „Brutalität“ der Maßnahmen sei gesteigert worden, führte der Putin-Getreue aus. Die Deportationen seien notwendig, da die Ukrainer ansonsten umgebracht würden. Es sei daher besser, die diese Menschen in den Westen der Ukraine zu schicken, wo sie „ihre schwule Welt aufbauen“ könnten.
Russland spricht offen über ethnische Säuberungen in der Ostukraine
Derartige Vertreibungen sind dabei noch eines der mildesten Schicksale, die den Menschen in den besetzten Gebieten drohen: Mord, Vergewaltigung und Folter sind dort an der Tagesordnung, wo russische Truppen die Kontrolle haben.
So zitierte der ukrainische Regierungsberater Anton Geraschtschenko zuletzt aus Telegram-Nachrichten eines russischen Soldaten, der in der Ukraine gefangen genommen worden sei. Der Russe hatte demnach eine Liste darüber verfasst, „was man im Krieg erlebt haben sollte“. Es ist eine Aufzählung des Grauens. „Einen Kriegsgefangenen foltern“, „ein gegnerisches Mädchen vergewaltigen oder töten“ und „persönlich an der Exekution von Kriegsgefangenen teilnehmen“ oder „ganze Familien verbrennen“ finden sich als „To Dos“ auf der Liste.
Wladimir Putin und der Westen: Keine Verhandlungsgrundlage
Dass Putin – ungeachtet der ständigen Forderungen der „Friedensengel“ im Westen – kein Interesse an Verhandlungen hat und nicht einmal die Realität anerkennen will, ist derweil keine neue Erkenntnis. In den letzten Tagen kursierte erneut eine Aufzeichnung eines Telefonats zwischen dem Kremlchef und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron in den sozialen Netzwerken. Vier Tage vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine hatte der Franzose versucht, den Kremlchef von seinen Kriegsplänen abzuhalten – ohne Erfolg.
Bereits damals offenbarte Putin allerdings seine verschobene Wahrnehmung und behauptete, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sei für den Maidan-Aufstand in der Ukraine, den Putin als „Putsch“ bezeichnete, verantwortlich gewesen. Der spätere Präsident war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht einmal als Politiker aktiv, sondern noch als Schauspieler tätig.
„Die demokratische Wahl in der Ukraine ignoriert Putin vollständig“
„Dass 2019 eine demokratische Wahl und ein Wechsel im Amt des Präsidenten der Ukraine stattgefunden hat, ignoriert Putin vollständig“, schreibt Historiker Wehowski dazu. Das Gespräch zwischen Macron und dem Kremlchef zeige daher „eindrucksvoll, wie wenig Sinn Diplomatie ohne Grundlage gemeinsamer Fakten macht“.
Mehr als zwei Jahre später scheint sich daran nichts geändert zu haben – außer dass der Kremlchef die Forderungen der „Engel aus der Hölle“, die ungeachtet genozidaler Signale und unverhohlenen Großmachtfantasien immer wieder Verhandlungen fordern, nun sogar öffentlich als das bezeichnet, was sie sind: „irgendwie absurd“.