Sind Kinder „Treiber“ der Pandemie? Oder doch eher ein Bremsklotz für die Entwicklung der Infektion? Zu diesen Fragen liefern sich Wissenschaftler seit dem vergangenen Sommer eine heftige Diskussion. Heute liegt die Inzidenz bei Fünf- bis 14-Jährigen höher als in jeder anderen Altersgruppe. Die sogenannte Notbremse des Bundes hat besonders auch die Schülerinnen und Schüler im Blick: Die Schulen müssen ab einer Inzidenz von 165 schließen, zunächst war hier der Grenzwert von 200 geplant, so wie er auch in einer vorweg genommenen Verordnung des Landes Nordrhein-Westfalen vorgesehen war.
Ziel der Landesregierung sei es, den Gesundheitsschutz und das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Bildung und Erziehung in Einklang zu bringen und den Präsenzunterricht – zumindest in Form von Wechselmodellen – so lange wie möglich bei strengen Regeln für den Infektionsschutz und die Hygiene aufrechtzuerhalten. „Der Präsenzunterricht ist die beste Form des Lernens“, meint Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP). Dennoch müssen immer mehr Schulen in NRW ab einer Inzidenz von 200 wieder in den Distanzmodus wechseln. Wie sieht die aktuelle Situation aus?
Geht die bundesweite Notbremse mit einem Wert von 165 über Landesrecht?
„Das novellierte Infektionsschutzgesetz wird unmittelbar auch Wirkung in NRW entfalten“, heißt es dazu knapp auf Anfrage aus dem Bildungsministerium in Nordrhein-Westfalen. Der Opposition in Düsseldorf reicht das nicht. „Das Land kann und muss aus unserer Sicht über die Maßgaben des Bundesgesetzes hinaus wirksamere Maßnahmen erlassen“, sagt die bildungspolitische Sprecherin der NRW-Grünen, Sigrid Beer. Es sei bedauerlich, dass es im Fall des Bundesinfektionsschutzgesetzes überhaupt zur Bundes-Notbremse kommen musste, sagt der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Landtag, Jochen Ott. „Die Bundes-Notbremse musste auch deshalb gezogen werden, weil insbesondere das einwohnerstärkste Land NRW inkonsequent gehandelt hat.“
Bei welchen Altersgruppen liegt die Sieben-Tage-Inzidenz in Köln am höchsten?
In den ersten beiden Corona-Wellen erkrankten auffallend viele ältere Kölner an Covid-19, heute ist es genau umgekehrt. Laut Robert-Koch-Institut liegt die Inzidenz Fünf- bis 14-Jähriger am Mittwoch (21. April) mit 285 am höchsten, gefolgt von den 15- bis 34-Jährigen (Inzidenzwert 233). Die Altersgruppe der 35- bis 59-Jährigen weist eine Inzidenz von 188 auf, junge Kinder und Babys zwischen null und vier liegen mit 161 knapp darunter. Etwas niedriger ist die Inzidenz bei 60- bis 79-Jährigen mit 140, am wenigsten erkranken die über 80-Jährigen (Inzidenzwert 60).
Wie sieht es in anderen Teilen von Deutschland aus?
Die Inzidenz der Fünf- bis 14-Jährigen ist in Leverkusen mit über 300 höher als in Köln. Blickt man in den Rest von Deutschland, sind Köln und Leverkusen keine Ausnahmen: Im thüringischen Sonneberg zum Beispiel hat die Inzidenz dieser Altersgruppe sogar die 600er Marke überschritten.
Wieso sind die Corona-Zahlen gerade bei Schulkindern so hoch?
Laut Gerd Fätkenheuer, Infektiologe an der Uniklinik Köln, gibt es dafür mehrere Gründe. Der erste sind die Tests: Schüler und Kita-Kinder werden mittlerweile systematisch auf Corona getestet. Die meisten Kölner Schulen bieten drei Tests pro Woche an: Zwei Selbsttests vom Land, ein gepoolter PCR Test (SCHOCO-Test) von der Stadt Köln. Als zweiten Faktor nennt Fätkenheuer den Impfeffekt. Ein Großteil der Senioren ist bereits gegen Corona geimpft, ergo sinken in dieser Altersgruppe die Corona-Zahlen. Der dritte Grund ist die britische Mutation B.117, die in Deutschland das Ursprungsvirus nahezu verdrängt hat. „Wir haben zum Beispiel in England gesehen, dass sich diese Variante auch bei Kindern und Jugendlichen stark ausbreitet“, sagt Fätkenheuer. Zudem hat die Altersgruppe der Fünf- bis 14-Jährigen mehr Sozialkontakte durch die Schulen und Freunde.
Im letzten Sommer diskutierte man vehement darüber, ob Kinder weniger ansteckend sind als Erwachsene. Ist diese Vermutung nun vom Tisch?
Fätkenheuer bezeichnet die Debatte des letzten Sommers als „eine ideologische Diskussion, bei der wir relativ wenig Daten hatten“. Da nur wenige Kinder an Covid-19 tatsächlich erkrankten, gingen einige Wissenschaftler davon aus, dass sie eine geringere Viruslast im Rachen haben und somit weniger ansteckend sind. „Bei der britischen Variante sprechen alle Daten dafür, dass Kinder genauso ansteckend sind wie Erwachsene“, sagt Fätkenheuer. Kinderarzt Anselm Bönte äußert sich ähnlich: „Es ist anzunehmen, dass die Mutante auch bei Kindern aggressiver wirkt.“
Welche Lösungen gibt es für die Eltern in dieser Situation? Vielen stehen keine zusätzlichen Urlaubstage mehr zur Verfügung.
Die Landesregierung sei sich der Tatsache sehr bewusst, dass die Pandemie insbesondere auch für Eltern mit großen Belastungen verbunden ist, heißt es dazu aus Düsseldorf. Für Schülerinnen und Schüler der Klassen 1 bis 6, die nach Erklärung ihrer Eltern an den Distanzlerntagen nicht zuhause betreut werden können, bieten die Schulen in NRW daher eine pädagogische Betreuung an. Darüber hinaus hat der Bund die Kinderkrankentage pro Elternteil erneut erhöht. „Eltern brauchen Klarheit darüber, wie und ob die Elterngeldtage verlängert werden“, sagt SPD-Politiker Ott.
Welche Konsequenzen ergeben sich für die Abschlussprüfungen?
Bildungsministerin Gebauer hält daran fest, dass Prüfungen wie in normalen Jahren abgehalten werden. Die Politik habe faire Voraussetzungen geschaffen, etwa durch eine um neun Tage verlängerte Vorbereitungszeit. Die Grünen-Politikerin Beer fordert unterdessen, die Abschlussverfahren zu überdenken. „Wer jetzt noch Lernzeit braucht, muss für die Prüfungen – auch beim Abitur – die Möglichkeit erhalten, die Prüfungen nach den Sommerferien abzulegen, um mehr Zeit zur Vorbereitung zu haben.“ Jochen Ott, bildungspolitischer Sprecher der SPD, erneuert seine Forderung nach einem „Freischuss“, also der Möglichkeit, Prüfungen zu wiederholen.
Wieso liegt auch der Inzidenzwert der 15- bis 34-Jährigen deutlich über dem Durchschnitt?
Hier hat man eine Altersspanne von 20 Jahren – würde man noch weiter differenzieren, so Fätkenheuer, käme man auf deutlich unterschiedliche Werte. In diese Altersgruppe fallen sowohl ältere Schüler, Studenten, junge Lehrer und auch einige Eltern von Grundschul- und Kitakindern. Menschen in dieser Altersgruppe, erklärt Fätkenheuer, suchen zudem deutlich mehr soziale Kontakte als Ältere, die fest in ihren Familienstrukturen bleiben. „Für mich ist das nicht überraschend, sondern ganz logisch. Diese beiden Altersgruppen sind immer sehr nah aneinander dran – das hat man in England auch beobachtet.“