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Studentin lebt mit Seniorin in WG„Wir sind schon wie ein altes Ehepaar“

Lesezeit 8 Minuten
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Karin Butt hat Tien zum Spielen gebracht. „Skippo“ und „Phase 10“ zählen zu den Lieblingsspielen der beiden.

Köln – Für den Ausflug in den Garten hat Thuy Tien May sich schnell die schwarzen Badelatschen von ihrer Mitbewohnerin Karin Butt übergestreift. Die beiden wollen uns eben noch den kleinen Garten hinter dem Haus in Köln-Neuehrenfeld zeigen. Außer feuchter, umgegrabener Erde gibt es hier aber nicht viel zu sehen. Noch nicht. Denn bald sollen hier Tomaten, Weißkohl, Gurken, Kohlrabi, Kräuter und vieles mehr wachsen. Die Samen hat Tien schon in kleinen Blumentöpfen ausgesät, auf der Fensterbank im Wohnzimmer sollen sie keimen. „Früher bestand mein Garten aus Rheinkieseln. Doch dann hatte Tien die Idee mit dem Gemüsegarten“, erzählt Karin Butt. Also ließ Butt die Steine entfernen, ein Beet aufschütten und umgraben. Seit die 26-jährige Tien bei Karin Butt eingezogen ist, hat sich so einiges im Leben der 85-Jährigen Kölnerin geändert.

Ihre ungewöhnliche Wohngemeinschaft haben die Studentin und die Seniorin dem Projekt „Wohnen für Hilfe“ zu verdanken. 2005 hat die Seniorenvertretung der Stadt Köln es gegründet, seit 2009 kooperiert die Seniorenvertretung mit der Stadt Köln und der Universität zu Köln. Die Idee: Senioren und Seniorinnen, Familien, Alleinerziehende oder Menschen mit Behinderung stellen Studierenden einen Teil ihres Wohnraums kostengünstig zur Verfügung – im Gegenzug helfen die Studierenden bei Aufgaben im Haushalt oder der Kinderbetreuung. Das Projekt lindert die Wohnungsnot der Studierenden etwas, welche klassische Formen wie Studentenwohnheime oder private Wohngemeinschaften längst nicht mehr decken können.

Stress bei der Wohnungssuche

„Ich habe erst einige Wochen vor Semesterbeginn erfahren, dass ich für den Studiengang Neurowissenschaften zugelassen bin und mich dann auf Wohnungssuche begeben“, erzählt Tien. „Ich habe überall geschaut, aber nichts Passendes gefunden. Das hat mich ganz schön gestresst.“ Schließlich stieß sie bei ihrer Suche zufällig auf das Projekt Wohnen für Hilfe. Der Gedanke, mit einem älteren Menschen zusammenzuwohnen, habe sie überhaupt nicht abgeschreckt, sagt Tien. „Ich bin ausgebildete Krankenschwester, daher liegt mir der Gedanke, Hilfe zu leisten, sehr nah.“ Angst davor, in ihrem Studentenleben eingeschränkt zu werden, hatte sie auch nicht. „Meine Eltern waren auf eine liebevolle Art sehr bevormundend, deshalb konnte ich mir nichts vorstellen was dem nahe kam“, sagt sie und lacht. Mit neun Jahren kam Tien mit ihrer Familie aus Vietnam nach Berlin, nach dem Abitur zog sie aus der elterlichen Wohnung aus, suchte sich eine eigene Bleibe in der Hauptstadt und machte ihre Ausbildung.

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Thuy Tien May studiert in Köln Neurowissenschaft.

Natürlich könne Tien Freunde in ihr Zimmer einladen, sobald Corona es wieder zuließe. Sie könne auch feiern gehen und nachts um fünf nach Hause kommen, sagt Butt, schließlich habe Tien einen Schlüssel. „Und sie kann gerne auch mal einen jungen Mann mit hierherbringen“, sagt die 85-Jährige und lacht. Zurzeit aber kann Tien überhaupt niemanden mitbringen, denn in dem halben Jahr, in dem sie in Köln wohnt, hat sie noch niemanden kennengelernt. Tiens Studium findet ausschließlich digital statt. „Zum Glück hat Karin mich in ihre Familie integriert“, sagt die Studentin. Wenn Geburtstage oder Gartenfeste anstehen, ist es selbstverständlich, dass Karin Butt Tien mitbringt. Mit den Enkeln, einige davon in Tiens Alter, versteht sie sich gut. Tien ist Karin Butt sehr dankbar. Die erwidert: „Ich teile nicht nur meine Wohnung mit dir, ich teile auch mein Leben mit dir.“

Enkelin vermittelte Kontakt zu Wohnen für Hilfe

Schon länger spielte die Seniorin mit dem Gedanken, ein Zimmer ihrer Dreizimmer-Wohnung unter zu vermieten. „Das hier sind 85 Quadratmeter, früher habe ich hier mit meinem Mann und meinen beiden Söhnen gewohnt“, sagt sie. Die Söhne sind längst ausgezogen, ihr Mann starb im Jahr 2003. „Ich dachte mir: Es ist doch eine Schande, dass ich alleine so viel Platz habe, während die Studenten ein Riesen-Wohnraumproblem haben.“ Einzig die Kraft es anzugehen fehlte. Schließlich vermittelte ihre Enkelin den Kontakt zum Projekt und ermutigte sie, mitzumachen. Butt ließ sich darauf ein – und hat es bis heute nicht bereut. Im Gegenteil: Sie wünscht sich, sie wäre diesen Schritt schon früher gegangen: „Es gibt so viele Witwen, die alleine in großen Häusern wohnen – und die wundern sich, dass sie einsam sind. Nochmal mit jemandem zusammenzuwohnen, ist eine Herausforderung, die man annehmen sollte. Das ist eine Chance, im Alter nochmal ein Abenteuer zu erleben. Und es hält jung im Geist.“

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Karin Butt auf ihrem Balkon in Neu-Ehrenfeld.

Viermal die Woche haben die Seniorin und die Studentin „English Day“, dann unterhalten sie sich ausschließlich auf Englisch. Das ist Butt wichtig. Schließlich führt sie auch viele Telefongespräche auf Englisch, denn durch ihren pakistanischen Mann, den sie bei einem Au-Pair-Jahr 1958 in London kennengelernt hat, hat sie Freunde und Verwandte auf der ganzen Welt. Tien hat, so könnte man es vielleicht sagen, Karin Butts eingerosteten Entdeckergeist ein bisschen geölt. Nicht nur der Garten wird neu gestaltet. Butt schaut jetzt auch Filme auf Netflix. Sie nutzt den Stepper und den Ergometer jetzt wieder häufiger (weil Tien ja auch so viel Yoga und Pilates macht). Sie interessiert sich für Neurowissenschaften, das Fach, das Tien studiert. Als nächstes möchte Butt sich mit dem Thema Podcasts beschäftigen. „Meine Augen werden immer schlechter. Wenn ich irgendwann keine Zeitung mehr lesen kann, will ich ja trotzdem informiert sein“, begründet sie.

Mehr als 800 Wohnpartnerschaften vermittelt

Tien wiederum ist durch Karin Butt ans Spielen gekommen: Oft sitzen sie am Küchentisch zusammen und spielen „Skip-Bo“ oder „Phase 10“. Und die Seniorin hat die Studentin sogar dazu gebracht, „Rosamunde Pilcher“-Filme mit ihr zu schauen. „Ja, ich lerne viel von Karin“, sagt Tien und lacht. „Nein, ernsthaft, Karin ist immer offen für Neues und hat eine so ausgereifte Persönlichkeit. Das beeindruckt mich.“ Tien nimmt sich Karin Butts Lebensweisheiten in einer Art und Weise zu Herzen, wie es die eigenen Enkel, die die olle Familiengeschichte schon zehn Mal gehört haben, vielleicht nicht tun würden.

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Mehr als 800 Wohnpartnerschaften hat Wohnen für Hilfe in den vergangenen zwölf Jahren vermittelt, zu etwa zwei Dritteln sind es ältere Menschen, die ihren Wohnraum anbieten. Die beiden Mitarbeiterinnen des Projekts sammeln die Anfragen aller Interessenten, schauen sich den Wohnraum vor Ort an, befragen die Bewohner nach ihren Wünschen und treffen sich vorab auch mit den Studierenden. „Wenn wir zwei Personen ausgewählt haben, deren Profile zueinander passen, werden sowohl wohnraumanbietende als auch studierende Person voneinander informiert“, erklärt Heike Bermond, die für das Projekt arbeitet. „Wenn beide Parteien zustimmen, tauscht man Kontaktdaten aus und arrangiert ein erstes Treffen. Danach hat jeder die Möglichkeit offen zu sagen, ob er sich ein Zusammenleben mit der anderen Person vorstellen kann oder nicht.“

Kinderzimmer wird zum WG-Zimmer

Nach dem ersten Treffen war Karin Butt und Tien sofort klar, dass es mit ihnen passt. Das Probe-Wohnen, das die Projektmitarbeiter empfehlen, haben die beiden Frauen sich geschenkt. Tien zog in das 16-Quadratmeter große Zimmer, das einst Kinderzimmer und später Gästezimmer war. Die große Schlafcouch und den Schreibtisch nutzt Tien heute noch, das weiße Kleiderschrank-Element stand früher in Karin Butts Schlafzimmer. Einzig die Musikinstrumente und die Dekoration hat Tien aus Berlin mitgebracht. Sie seien schon wie ein altes Ehepaar, sagt Butt nach diesem ersten halben Jahr des Zusammenlebens.

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Hier entsteht bald ein Gemüsegarten.

Einen Nebenjob braucht Tien nicht. Vier Stunden pro Woche hilft sie Butt im Haushalt, so steht es im Wohnraumüberlassungsvertrag. Und sie beteiligt sich mit 100 Euro an den Nebenkosten. Doch ganz so eng sehen die beiden es nicht mehr. Mittlerweile zahlt Tien nur noch 80 Euro, dafür isst Butt aus der Gemüsekiste, die Tien bestellt, mit. Um den Garten will Tien sich kümmern, pro Woche kocht sie zwei Mal für Butt, die selbst gar nicht kochen kann, sie backt Brot, macht Joghurt selbst, auch das Einkaufen übernimmt sie. „Das war gerade jetzt in der Corona-Zeit eine große Hilfe“, sagt Butt. Die restliche Hausarbeit machten sie Hand in Hand: „Eine befüllt die Waschmaschine, die andere macht den Trockner an, wie es gerade kommt.“ Denn es ist gar nicht so sehr die konkrete Hilfe, die Butt an ihrer jungen Mitbewohnerin so sehr schätzt. Es ist ihre Anwesenheit. Die Tatsache, dass jemand da ist, sollte sie mal stürzen. Dass jemand ihr hilft, wenn die Technik mal wieder streikt. Dass sie sich in ihrer Erdgeschosswohnung nun wieder sicherer fühlt. „Früher ist mein Sohn einmal pro Woche aus Deutz hierher geradelt, um nach dem Rechten zu sehen. Jetzt muss er das nicht mehr. Meine Familie ist beruhigt, weil sie wissen, dass jemand da ist.“

Als Witwe nicht alleine sein

Das Wichtigste für Karin Butt ist es, unter Menschen zu sein, nicht alleine zu sein. „Ich hätte auch kein Problem damit, in ein Seniorenheim zu ziehen, wenn es hier nicht mehr geht“, sagt die 85-Jährige. Doch jetzt ist ja erstmal Tien da. Sie tritt aus dem Beet heraus, klopft sich die Erde von den Schlappen, hakt Karin Butt wie selbstverständlich unter und hilft ihr, die Betonstufen zu Balkon und Wohnung heraufzusteigen. „Die Latschen musst du aber gleich noch putzen, ja?“, sagt Butt, als sie vom Balkon in die Küche tritt. „Die nutze ich ja nur im Haus.“ „Klar“, sagt Tien, streift sich die Schuhe von den Füßen und läuft auf Socken durch die Küche. Eben wie zu Hause.