Den Mann kann man nicht in die Irre führen. Sobald sein Gegenüber den Mund aufmacht, durchschaut Prof. Dr. Walter Sendlmeier diesen Menschen. Die fast perfekte Einschätzung seines Gegenübers schafft er auch bei einem Telefonat, ohne dass er den Gesprächspartner sieht. Ihm reicht es, die Stimme und die Sprechweise zu hören, denn sie spiegeln Charakter und Gemütszustand eines Menschen wider und liefern reichlich Hinweise auf die Persönlichkeit. Die Stimmung des Gegenübers ist dank der Stimme wie ein offenes Buch für ihn. Für Prof. Dr. Walter Sendlmeier sind solche „Übungen“ Alltag. Er ist Sprach- und Kommunikationswissenschaftler und war bis Ende 2020 geschäftsführender Direktor des Instituts für Sprache und Kommunikation an der TU Berlin. Übrigens die einzige Universität deutschlandweit, an der sich Wissenschaftler mit der Psychologie, Akustik und den physiologischen Voraussetzungen der Stimme beschäftigen.
Walter Sendlmeier bezeichnet die Stimme als Seele des Menschen, als weitgehend fälschungssichere Visitenkarte. Mit einer sympathischen Stimme kann man sich der Zuneigung seiner Zuhörer sicher sein. Dagegen hat man mit einer unsympathischen Stimme einen deutlich schwereren Stand. Insgesamt werden entspannte Stimmen als angenehmer empfunden. Die Anspannung beim Sprechen überträgt sich unmittelbar auf die Zuhörenden und führt bei diesen zu geradezu körperlichen Verspannungen. Das und vieles mehr hat der 66-jährige Experte an seinem Institut wissenschaftlich erforscht. Er kann auch an der Stimme erkennen, wie alt derjenige ist, der gerade mit ihm spricht. Das gelingt ihm in der Regel mit einer Abweichung von fünf Jahren. Wie wichtig die Stimme ist, sieht man auch in der Gegenüberstellung von äußeren Merkmalen, wie beispielsweise einem schönen Gesicht. Sendlmeier kann anhand seiner wissenschaftlichen Studien so manch attraktiven Menschen desillusionieren: „Sehr attraktive Menschen, die aufgrund eines Fotos als schön eingestuft werden, verlieren an Attraktivität, wenn sie eine unangenehme Stimme haben oder eine merkwürdige Sprechweise an den Tag legen.“
Lafontaine und Merkel: Die Art und Weise ist wichtiger als der Inhalt
Erstaunlicherweise klappt aber eins so gut wie immer: Auf den Inhalt dessen, was man sagt, kommt es nicht unbedingt in erster Linie an. Sendlmeier: „Die Art und Weise, wie man spricht, ist häufig wichtiger als der Inhalt. Das wird oft unterschätzt.“ Salopp formuliert kann man also hohle Phrasen produzieren, Hauptsache es hört sich gut an. Der Wissenschaftler sagt es präziser: „Jemand mit angenehmer Stimme und einer eloquenten Art zu sprechen, mit einer lebendigen Satzmelodie und guter Betonung kann sehr gewinnend auftreten, auch wenn inhaltlich nicht viel dahinter steckt.“
Manfred Stolpe (SPD), der damalige Brandenburger Ministerpräsident nach der Wiedervereinigung, ist für Sendlmeier so ein Fall. „Wenn er gesprochen hat, waren meist alle beeindruckt. Hat man jedoch nachgelesen, was er gesagt hat, war das inhaltlich nicht sonderlich gehaltvoll.“ Den starken Effekt der Sprechweise konnte man auch auf dem SPD-Parteitag im November 1995 bei dem Sozialdemokraten Rudolf Scharping und Oskar Lafontaine, damals noch SPD, beobachten. Beide Politiker hielten inhaltlich fast die gleichen Reden. Doch Scharping, laut Beliebtheitsgrad mit den allerbesten Chancen auf den Parteivorsitz ausgestattet, fiel bei den Delegierten gnadenlos durch, während Lafontaine überraschend den Sieg davon trug. Walter Sendlmeier: „Lafontaine hielt eine emotionale und kämpferische Rede, bei Scharping klangen die vergleichbaren Sätze resigniert und emotionslos.“ Folglich hielten ihn die Delegierten für ungeeignet, die Partei aus dem damaligen Tief zu holen.
Veranstaltung
„Die Stimme -Visitenkarte des Menschen“Termin: Freitag, 29. April 19 Uhr, studio dumont, Breite Straße 72, KölnDer Experte: Prof. Dr. Walter Sendlmeier, Sprechwirkungsforscher, Sprach- und Kommunikationswissenschaftler an der TU BerlinModeration: Marie-Anne SchlolautTickets: 16 Euro, Forum-Blau-Vorzugspreis 13 Euro; erhältlich unter forumblau.de/akademie oder bei Kölnticket unter 0221/28 01
Nicht viel anders erging es Deutschlands erster Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in ihren politischen Anfängen. Als „Helmut Kohls Mädchen“ und mit ihrer mädchenhaften Stimme nahm man ihr Durchsetzungsvermögen und Glaubwürdigkeit nicht ab. Später, als ihre Stimme tiefer wurde – was alle Frauen in den Wechseljahren erleben – und ihre Sprechweise ruhiger war, wirkte sie vertrauenswürdig, volksnah und konnte bei Katastrophen stimmlich das Katastrophale abmildern. Die Aussagen basieren auf den wissenschaftlichen Untersuchungen von Merkels Stimme, die der Sprechwirkungsforscher Sendlmeier machte.
Frauen mit hoher Stimme haben es in Führungspositionen schwerer
Sogenannte Kleinmädchenstimmen, die manche Frauen bewusst einsetzen, werden sowohl von Männern als auch von Frauen längst nicht mehr als positiv eingestuft. In den 1950er und -60er Jahren galten solche Stimmen als schön und weiblich. In den westlichen Industrieländern hat sich diese Einschätzung ab den 1970er Jahren mit dem zunehmenden Grad der Emanzipation gelegt. Ab da durften Frauen auch erstmals im Radio und Fernsehen an die Mikrofone, um Nachrichten zu sprechen. In der DDR war man mit Annerose Neumann, die die Hauptnachrichten in der Aktuellen Kamera sprach, schon zehn Jahre früher so weit. Besonders hartnäckig wehrte sich in Großbritannien die BBC gegen Frauen am Mikrofon, weil man „der Meinung war, dass eine hohe Frauenstimme keine Katastrophen verlesen könne, das klinge nicht seriös und werde nicht ernst genommen“.
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Eine Einschätzung, die sich in abgewandelter Form bis heute gehalten hat, nämlich für Frauen in Führungspositionen. „Eine Frau mit hoher Stimme hat es umso schwerer, sich als Führungsperson durchzusetzen und akzeptiert zu werden.“ Männer haben es generell leichter. „Eine Männerstimme kann nie zu tief sein. Tiefe Stimmen führen zu einer positiven Bewertung.“ Das kippt erst, wenn die Männerstimme zur Knarrstimme absinkt wie beim Republikaner Henry Kissinger, ehemaliger Außenminister der Vereinigten Staaten. Tiefe Frauenstimmen klingen jedoch nur so lange sympathisch und gewinnend, so lange das Weibliche noch zu hören ist. Was sympathisch und was unsympathisch klingt, darin sind sich rund 80 Prozent beider Geschlechter erstaunlich einig.
Dunkle Rauigkeit bei Männern, Behauchtheit bei Frauen
Welche Stimmen sympathisch klingen und welche nicht, ist ein komplexer Vorgang. Sendlmeier: „Es gibt Stimmen, die nüchtern betrachtet gar nicht so toll sind, aber trotzdem sympathisch wirken. Nicht unbedingt Stimmen mit einem klaren, reinen Stimmton und sauberer, deutlicher Artikulation sind sympathisch. Das kann sogar, wenn es übertrieben daher kommt, elitär wirken, was als unsympathisch eingestuft wird. Oft sind sympathische Stimmen markant und dadurch interessant.“
So ein Fall ist für den Wissenschaftler der Schauspieler und berühmte Synchronsprecher Christian Brückner, der eine relativ raue Stimme hat. Die „lieh“ er Filmgrößen wie Robert de Niro, Robert Redford, Henry Fonda und vielen anderen. „Aber rau ist nicht gleich rau. Es gibt eine dunkle Rauigkeit, die klingt bei Männern sympathisch. Bei Frauenstimmen ist es eine Behauchtheit, die positiv bewertet.“ Die extreme Behauchtheit einer weiblichen Stimme demonstrierte die Filmschauspielerin Marylin Monroe in ihrem Song für John F. Kennedy „Happy Birthday, Mr. President“. „Diese Behauchung wird absichtlich eingesetzt und wirkt erotisch“, so Sendlmeier, der auch drei Jahre in einer HNO-Klinik geforscht hat. Die Behauchung entsteht, erklärt Sendlmeier, wenn viel Luft ungenutzt zwischen den Stimmlippen entweichen kann. Ein Vorgang, den Frau bewusst steuern kann. „Bei älteren Frauen“, so der Wissenschaftler, „entweicht Luft durch die altersbedingt nie ganz geschlossenen Stimmlippen. Das ist nicht gesteuert und kann nicht bewusst kontrolliert werden, sondern ist dem Alterungsprozess geschuldet. Das hat aber nichts mehr mit Erotik zu tun.“
Die Stimme, egal ob bei Männern oder Frauen, altert, „weil Muskeln und Bänder erschlaffen, das Knorpelgerüst verkalkt. Die Stimmlippen, zwei kleine Muskeln, verlieren ihre Elastizität und können nicht mehr so frei schwingen. Das Lungenvolumen verringert sich.“ Zudem schaffe es die Zunge beim Artikulieren nicht mehr, komplexe feinmotorische und wahnsinnig schnelle Bewegungen in Millisekunden auszuführen. Dem Altern der Stimme kann man einiges entgegensetzen. „Wer sich fit und gesund hält, dessen Stimme klingt jung.“ Die beste Medizin ist Bewegung. „Sparen Sie sich den Stimmtrainer und gehen Sie lieber spazieren. Das aktiviert Kreislauf und Durchblutung.“ Eine junge Stimme lässt denjenigen jünger erscheinen. Ein Effekt, der deutlich preisgünstiger ist als eine Botox-Behandlung und länger anhält. „Insgesamt gibt es mehr alte Menschen als alte Stimmen, da es viele fitte alte Menschen gibt.“
Buchtipp
Walter Sendlmeier: „Sprechwirkungsforschung“, Logos Verlag Berlin, Taschenbuch, 342 Seiten, 29,80 Euro
Die Stimme sollte auch bei der Partnerwahl eine gewichtige Rolle spielen. „Es ist ratsam, alle Informationen zu nutzen, die Hinweise auf die Innerlichkeit eines Menschen liefern. Diese Hinweise sind zahlreich und weitgehend unverfälscht in Stimme und Sprechweise eines Menschen enthalten“, sagt Sendlmeier. Das werde oftmals vernachlässigt, weil „die Dominanz der visuellen Medien dazu beigetragen hat, dass der Mensch oberflächliche visuelle Informationen in den Vordergrund rückt. Harmoniert eine Partnerschaft nicht oder kommt es gar zu einer Trennung, so liegt das in aller Regel nicht an ein paar Zentimetern zu viel oder zu wenig, sondern eher an Einstellungen und Verhaltensweisen der Partner.“ All das also, was eine Stimme, die Seele des Menschen, widerspiegelt.