Köln – Der Kölner Mediziner Michael Hallek spricht im ausführlichen Interview darüber, wie sich die pandemische Lage in Köln durch Omikron verändert hat und wie sich die Lage auf seiner Intensivstation darstellt. Eine Entspannung sei deutlich spürbar, so der Direktor der Klinik I für Innere Medizin an der Uniklinik Köln. Hallek erklärt die Unterschiede zwischen Omikron und Delta und seine Ablehnung einer Impfpflicht. Er kritisiert aber auch die Vernachlässigung von Sicherheits-Konzepten an den Schulen, die derzeit hohe Wellen schlägt, genauso wie in Teilen nicht nachvollziehbare Corona-Maßnahmen und ein ineffizientes Corona-Management. Sie können das Interview auch als Podcast-Folge hören.
Herr Hallek, Sie hatten sich Anfang Dezember angesichts Ihrer bereits vollen Intensivstation auf den Ernstfall, möglicherweise sogar eine Katastrophe vorbereitet. Wie ist die Situation heute?
Hallek: Sehr erfreulich im Vergleich zu unseren Befürchtungen. Zurzeit haben wir auf der Intensivstation im Wochendurchschnitt zwei bis drei Corona-Patienten. Trotz der hohen Inzidenzen bleibt die Zahl der Intensivpatienten erstaunlich niedrig. Das weist deutlich darauf hin, dass Omikron ein anderes Virus ist und die Krankheit milder verläuft. Wir haben momentan eine Phase der Erholung, die wir fast ein bisschen genießen, sie tut dem Personal gut.
Ist ein Szenario denkbar, dass Omikron noch zu vollen Intensivstationen führt?
Ganz sicher wissen wir das nicht. Wir haben in Deutschland, anders als in England, Dänemark oder Südafrika, relativ viele ältere Ungeimpfte, über drei Millionen bei den über Sechzigjährigen. Was passiert, wenn bei denen Omikron durchschlägt, ist noch unklar. Es können auch wieder stärkere Ausbrücke in Altersheimen kommen. Aber ich bin auch deshalb vorsichtig, weil wir noch nicht wissen können, wie viele Menschen nach Omikron Long-Covid kriegen. Die Variante existiert ja erst seit November. Die Vermeidung von Omikron ist also weiter sinnvoll.
Sie mussten wegen Corona über viele Monate wichtige Operationen verschieben. Können die jetzt nachgeholt werden?
Ja. Allerdings haben wir derzeit sehr viel mehr Personal in Quarantäne als bislang. Würden es noch mehr, müsste wir erneut anfangen, Bereiche zu schließen. Bislang konnten wird das aber noch kompensieren, aus einem erfreulichen Grund: Die Maßnahmen haben geholfen, dass die Welle bei uns nicht so steil verläuft wie befürchtet. In Südafrika und England ging die Welle hoch wie eine Rakete. Bei uns steigt die Kurve zwar noch, aber ich bin trotzdem optimistisch. Denn in Kopenhagen und London ist das System trotz Inzidenzwerten von 2000 nicht komplett zusammengebrochen. Und Deutschland hat eine höhere Kapazität in den Krankenhäusern.
In den USA operieren derzeit Chirurgen trotz Infektion, sofern sie arbeitsfähig sind. Wäre ein derartiges Szenario auch in Köln denkbar?
Theoretisch ja. Wir haben darüber bereits diskutiert, man muss ja immer den schlechtesten Fall annehmen. Aber rein praktisch sind wir da-von meilenweit davon entfernt. Es wäre auch der letzte Weg, infizierte Ärzte oder Pflegekräfte arbeiten zu lassen, weil diese Patienten gefährden. Man müsste dann eigene Bereiche öffnen, wo sowohl Patienten als auch das Personal positiv wären.
Wie unterscheidet sich Omikron von Delta?
Die Erkrankungsphase ist bei Omikron viel kürzer, die Patienten sind häufig nach vier bis fünf Tagen wieder zuhause. Das Fieber ist nicht so hoch, auch der Geruchs- und Geschmacksverlust taucht deutlich seltener auf. Dafür ist die Übelkeit stärker. Omikron macht die Leute richtig schläfrig, benommen und unkonzentriert. Der wichtige Unterschied: Omikron spart die Lunge weitgehend aus. Es kommt zwar zu einer leichten Lungeninfektion, aber selten zur künstlichen Beatmung, die auf die Intensivstation führt.
Beschädigte Lungen führen auch nach der Infektion zu langwierigen Problemen.
Kaputtes Lungengewebe kann sich manchmal gar nicht mehr regenerieren. Dann kommt es zu Fibrosen, also Verfaserungen, was die Atemfähigkeit eingeschränkt. Bei einigen Patienten dauert dieser Heilungsprozess Wochen und Monate.
Manche kritisieren den Ausdruck „milder Verlauf“, weil er suggeriert, Omikron sei harmlos. Wie stehen Sie dazu?
Das ist eine semantische Debatte. Natürlich will man dem Zuhörer nicht suggerieren, dass die Variante harmlos ist. Sie macht aber nun mal nicht so schwer krank wie frühere Varianten. Wir wissen auch noch nicht, wie die chronischen Auswirkungen sind. Long-Covid wird insgesamt massiv unterschätzt. Ich sehe täglich viele Menschen, auch junge und sportliche, die noch lange nach ihrer Infektion richtig Probleme haben.
Derzeit werden unterschiedliche Exit-Strategien aus der Pandemie diskutiert. Die Hoffnung ist groß, dass wir uns in der finalen Phase befinden, eine deutlich gefährlichere Variante gilt nach Omikron als unwahrscheinlich. Wie bewerten Sie das?
Ich glaube, dass wir nach der Omikron-Welle ein sehr gutes Frühjahr und einen sehr guten Sommer haben werden. Aber ich würde niemals eine längerfristige Prognose machen. Wir haben das schon zu oft versucht. Wenn wir in den kommenden Monaten nicht genügend Menschen immunisieren, haben wir im Herbst eine weitere Welle. Das jetzige Virus ist aus Sicht der Virusevolution in der Tat fast optimal: Es infiziert viele, aber kaum einer stirbt daran. Für ein Virus ideal, um sich zu vermehren. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mutante kommt, die wieder schwerer krank macht, ist nicht hoch, aber sie ist auch nicht null. Und wenn wir weltweit weiter die große Ungleichheit beim Impfen haben, ist das ein echtes Problem. Noch nie gab es in der Geschichte der Menschheit eine Situation, wo Coronaviren dieser Gefährlichkeit auf eine so mobile, dichte Weltbevölkerung gestoßen sind. Keiner kann seriös vorhersagen, wann die Pandemie vorbei ist.
„Ich befürworte die Impfpflicht derzeit nicht“
Am Montag ist in der Ministerpräsidentenkonferenz entschieden worden, an den strengeren Corona-Regeln festzuhalten.
Finde ich absolut vernünftig. Es ist dabei wieder mal interessant zu sehen, dass genau in den zwei Bundesländern, in denen Landtagswahlen anstehen, die Wahlkandidaten noch ihre Duftmarken hinterlassen wollen. Das ist komplett unnötig. Dieses rein politische Manövrieren führt nur zur Verunsicherung.
Die Politik hält an einer allgemeinen Impfpflicht fest. Wie stehen Sie dazu?
Ich befürworte sie derzeit nicht. Wir sollten uns möglichst wenig in theoretischen Debatten über eine Impfpflicht verlieren und stattdessen vor allem impfen. Die parlamentarischen Prozesse dauern viel zu lange. Ich bin Befürworter von konsequenten 2G-Regeln. Macron hat es in Frankreich vorgemacht, die Impfpflicht bei den Älteren liegt dort bei über 90 Prozent. Italien und Spanien haben es ebenfalls geschafft. Ich weiß nicht, warum das Land der Impfungs-Erfinder so viel Schwierigkeiten hat, Vernunft durchzusetzen.
Die einrichtungsbezogene Impfpflicht soll Mitte März in Kraft treten. Sind Sie mit ihr einverstanden?
Es gibt auch hier ein paar Probleme. Was tun wir mit denen, die sich nicht impfen lassen? Sollen wir die entlassen? Sollen wir die nach Hause schicken und erst mal weiterbezahlen? Ich befürworte, dass dieses Personal Patienten, die bei einer Corona-Erkrankung schwerstgefährdet wären, nicht mehr betreuen sollte. Unabhängig davon: Wir haben hier an der Uniklinik eine bunte Mischung an Mitarbeitenden. Wir haben es trotzdem geschafft, nahezu jeden zu impfen. Wieso ist es woanders so schwierig? Aufklärung und Überzeugung sind immer besser als Druck und Zwang.
Es hat jüngst eine verabredete Aktion gegeben, bei der Impfgegner in Tageszeitungen Anzeigen angeblicher Pflegekräfte geschaltet haben, die jetzt den Beruf wechseln wollen. Wie schätzen Sie die reale Gefahr ein?
Eine Abwanderung von Personal ist nie ganz auszuschließen. Ich denke, dass da eine Mischung entsteht aus Frustration, allein gelassen zu werden von der Politik und aus permanenter Überlastung. Ich kenne viele, die das so erleben. Es gibt auch in Köln Krankenhäuser, die in so einem Zustand arbeiten und permanent Personal verlieren. Wir müssen dringend nachdenken über die Art, wie wir künftig Krankenhäuser betreiben wollen. Wie geht die Gesellschaft mit Menschen um, die unter diesem Druck arbeiten müssen? Das Pflegepersonal muss anständig behandelt werden.
Noch nie wurde mehr gegen die Corona-Politik demonstriert als in diesen Wochen. Bei Demonstrationen vor öffentlich-rechtlichen Sendern wurden auch Journalisten tätlich angegangen. Hat die Pandemie die Tendenzen einer Polarisierung in Deutschland rasant beschleunigt?
Ohne Wenn und Aber: Ja. Das macht mir allergrößte Sorgen. Die Krise legt unschöne Züge bei Menschen frei und geht bis hin zur Gefährdung der Demokratie. Viele, die protestieren, tun das aber auch aus echter Not. Wenn man erlebt, wie die ganze Existenz dahinschwindet und man das Gefühl hat, niemand kümmert sich, wird man einfach wütend. Auch das macht mich nachdenklich. Aber noch viel nachdenklicher machen mich die Gewaltbereitschaft, die Intoleranz in den Diskussionen und der Angriff auf essenzielle Bestandteile unserer Demokratie. Wer die Medien angreift, will eine der wesentlichen Säulen unserer Demokratie angreifen.
Es wird viel diskutiert darüber, was reine Symbolpolitik und was nach-vollziehbar ist. Zum Beispiel, warum derzeit nur 750 Fans ins FC-Stadion dürfen. Ist die Politik zu ängstlich?
Ja. Natürlich kann man Veranstaltungen in einem Freiluft-Stadion mit mehr Menschen durchführen, wenn die Sicherheitskonzepte gut sind. Pauschalisierende Grenzen sind ungerecht. Was mich grundsätzlich ärgert: Wir haben in dieser Pandemie zum Teil so ineffizient agiert, dass wir bürgerliche Freiheiten über Gebühr beschneiden mussten und von bestimmten Berufsgruppen Sonderopfer verlangt haben. Das ist nicht in Ordnung. Stattdessen hätte man sich viel stärker darum kümmern müssen, diese Pandemie stärker zu kontrollieren.
Wie denn zum Beispiel?
Wenn wir es geschafft hätten, mit dem effizienteren Einsatz elektronischer Werkzeuge die Kontaktnachverfolgung steuern, hätten wir die zweite, dritte und wahrscheinlich auch die vierte Welle verhindern können. Stattdessen wurde eine für einige Bürger nicht mehr nachvollziehbare Diskussion über Freiheit gegen Gesundheit geführt. Ein Teil der Pandemie-Maßnahmen wurde als inkonsequent oder ungerecht empfunden, auch weil bestimmte Berufsgruppen besonders hart davon betroffen wurden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass selbst die einfachsten Dinge nicht funktionieren. Dieses ineffiziente Pandemie-Management gepaart mit strengen Auflagen in bestimmten Bereiche macht die Menschen kirre. Das Beispiel der Schulen finde ich am allerschwierigsten.
Inwiefern?
Ich möchte beantwortet bekommen, warum es einerseits nicht möglich ist, bestimmte Schutzmaßnahmen in Schulen zu installieren und andererseits gerade Politiker, die Freiheit sonst ganz stark propagieren, Familien dazu zwingen, ihre Kinder in die Schule zu schicken, auch wenn sie die zuhause gut beschulen könnten. Es gibt einige Familien, die haben schwerstkranke Angehörige zu Hause. Die haben deshalb riesige Angst, dass das Kind eine Infektion mitbringt. In solchen speziellen Situationen muss man doch individuelle Lösungen suchen können und nicht unter Androhung von Strafe darauf bestehen, dass jedes Kind in die Schule muss. Andere Kinder müssen natürlich unter allen Umständen in Präsenz beschult werden, weil sie sonst riesige Lern-Rückstände haben. Es werden aber in schneller Abfolge allgemeine Regeln erlassen, während die Schutzmaßnahmen in den Schulen vernachlässigt oder aufgeweicht werden. Solche Schlampigkeiten passieren ständig. Viele Menschen, die eigentlich gut gewillt sind, macht das wütend.
In Köln sollen die Luftfilter an den Schulen größtenteils erst im Frühjahr kommen.
Im Prinzip also, wenn es vorbei ist. Das kann keiner mehr nachvollziehen.
Im Dezember haben Sie gesagt, wir befänden uns in der Geiselhaft der Ungeimpften. Gilt das umso mehr in einer Zeit, in der Geimpfte und Geboosterte vor dem Virus keine Angst mehr haben müssen?
Ja, leider. Die Pandemie wäre selbst mit Omikron fast schon ausgestanden, wenn deutlich mehr Menschen geimpft wären. Auch meine Sorge, dass sich über 60-Jährige ungeimpfte Menschen noch mal schwer infizieren, wäre in einer durchgeimpften Gesellschaft sehr viel kleiner. Dann wäre die Omikron-Gefahr vergleichbar mit der einer Influenza.
In Köln wird jetzt auf Eigenverantwortung gesetzt. Das Gesundheitsamt kontaktiert nur noch in Ausnahmefällen. Sehen Sie Probleme?
Ich finde das nicht gut, weil sich jetzt wahrscheinlich noch weniger Menschen so verhalten, wie sie es tun sollten. Die Kontaktnachverfolgung war schon ein Werkzeug, um die Bürger zu kontrollieren und zu informieren. Wir haben in Köln anscheinend das größte Gesundheitsamt der Bundesrepublik. Warum es ausgerechnet bei uns nicht mehr gehen soll, verstehe ich nicht ganz. Die Arbeitslast wäre natürlich deutlich kleiner, hätte man längst bessere elektronische Werkzeuge installiert.
Was auch wegen des Datenschutzes nicht möglich ist.
Ich verstehe nicht, warum wir die Datenschutzauflagen nicht zumindest für kurze Zeit bei Menschen so gestalten können, dass sich die Quarantäne ohne einen Anruf des Gesundheitsamts überwachen lässt. Warum man nicht intelligente digitale Lösungen kreiert hat wie in Südkorea, wo viel weniger Menschen an Corona gestorben sind. Wir opfern lieber ein paar zehntausend Menschenleben, weil der Datenschutz ein goldenes Kalb geworden ist. In vielen Gesundheitsämtern wird nach wie vor sehr viel mit Papier und Telefon gearbeitet. Natürlich ist man da schnell überfordert. Hier muss im öffentlichen Gesundheitswesen nachgebessert werden.
Der neue Gesundheitsminister heißt Karl Lauterbach. Wie bewerten Sie seine Arbeit?
Positiv. Er versucht mit großer Ernsthaftigkeit und sehr großem Fachwissen, mit der Pandemie klarzukommen und Dinge zu verbessern. Ich kenne viele große Skeptiker auch anderer politischen Couleur, die das anerkennen. Etliche Entscheidungen, die jetzt getroffen worden sind, auch im Expertenrat, sind nachvollziehbar sind und wissenschaftlich begründet. Ich sehe das starke Bemühen, die Pandemie zu beenden. Ungeschickt finde ich lediglich den Umgang mit der Diskussion um die Impfpflicht. Das dauert zu lang, ist umständlich und schwach begründet.
„Wir werden einander viel verzeihen müssen“ hat Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gesagt. Was fällt Ihnen spontan zu diesem Satz ein?
Das ist eine absolut berechtigte Aussage. Leider hat Deutschland nicht als Weltmeister im Pandemie-Management abgeschnitten. Wir sind irgendwo im unteren Mittelfeld. Für ein so reiches Land mit diesen irr-sinnigen Ressourcen sind wir der Aufgabe nicht gerecht geworden. Da werden wir einander in der Tat viel verzeihen müssen. Ich kann als Optimist nur hoffen, dass wir daraus die richtigen Lehren ziehen, um für künftige Krisen besser gerüstet zu sein. Ich hoffe, dass die Empörung der Bürger, die auch daraus resultiert, dass sie sich schlecht regiert gefühlt haben, wieder nachlässt. Ich kämpfe dafür, dass wir unsere öffentlichen Institutionen modernisieren, so dass nachvollziehbare Entscheidungen getroffen und dann effizient praktisch umgesetzt werden. Es geht um nichts weniger als um den Erhalt unserer demokratischen Strukturen. Wenn die Bürger den Staat ablehnen, weil er ihnen nicht mehr hilft, wenn sie ihn brauchen, bekommen wir eine Demokratiemüdigkeit, die mir wirklich Sorge macht.