In Europa steigen die Zahlen der Masernfälle sprunghaft an. Auch in NRW haben sich die Fälle im Vergleich zu 2023 verfünfzehnfacht. Was nun zu tun ist.
Ungewöhnlich viele InfektionenFünfzehnmal so viele Masernfälle wie 2023 – Schon zwölf Fälle in Köln
Halsschmerzen, Schnupfen, trockener Husten sowie kleine rote Flecken, die bald den gesamten Körper übersäen. Gesellt sich zum Grundwort „Krankheit“ das Bestimmungswort „Kinder“, dann taucht unser Gehirn die Bedeutung meist in eine verharmlosende Wolke. Ein gefährlicher Irrtum, wie Kinder- und Jugendarzt Axel Gerschlauer aus Bonn im Gespräch mit dieser Zeitung sagt. Vor allem, wenn es sich um die Masern handelt, denn die „sind prinzipiell immer besorgniserregend, weil sie zu den gefährlichen Krankheiten gehören“.
Eine Maserninfektion zieht schwere Krankheitssymptome nach sich und heilt erst nach zwei bis drei Wochen aus. Aber es kann bei der hochansteckenden Kinderkrankheit auch zu Komplikationen wie einer Encephalitis kommen und die ist laut Gerschlauer lebensbedrohlich. Weltweit kommt die WHO wegen fehlender Schutzimpfungen in vielen Ländern auf 136.000 Todesfälle für das Jahr 2022.
In diesem Jahr warnt die WHO vor einem sprunghaften Anstieg der Masernfälle in Europa. Von Januar bis März 2024 zählte man offiziell fast 57.000 Masernfälle und hat damit in drei Monaten schon fast ebenso viele Infektionen registriert wie im gesamten Jahr 2023. Verglichen mit dem Jahr 2022 ist das laut Ärzteblatt ein Anstieg um das 60-Fache. Mehr als die Hälfte der betroffenen Menschen in Europa – meist Kleinkinder – musste laut WHO ins Krankenhaus eingeliefert werden, 19 starben allein 2024 bislang.
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Auch für NRW meldet das Robert-Koch-Institut (RKI) für das laufende Jahr einen deutlichen Anstieg im Infektionsgeschehen. Wie sind die Zahlen zu bewerten? Welche Gefahren bestehen? Wie kann man sich schützen? Wir beantworten die wichtigsten Fragen.
Wie viele Menschen sind in diesem Jahr in NRW als masernerkrankt gemeldet worden?
Im laufenden Jahr zählt das RKI 223 Masernfälle in Nordrhein-Westfalen. Im Bundesländervergleich ist NRW damit mit Abstand Spitzenreiter, auf Platz zwei folgt Berlin mit nicht einmal halb so vielen Masernfällen. Andere Bundesländer sind kaum oder gar nicht betroffen, wie Sachsen-Anhalt mit zwei Fällen, Schleswig-Holstein mit derzeit drei im laufenden Jahr, Brandenburg mit vier, Mecklenburg-Vorpommern gar mit keinem.
Auch im Vergleich zur jüngeren Vergangenheit zählen die Gesundheitsämter in NRW einen deutlichen Anstieg der Infektionszahlen. Im vergangenen Jahr gab es 15 Infizierte, in 2021 und 2022 fanden sich je nur zwei. In der letzten Augustwoche und den ersten drei Septemberwochen registrierte das RKI aktuell ein Infektionsgeschehen im Aufwind: 85 Neuerkrankungen kamen landesweit in diesem Zeitraum hinzu. Ungewöhnlich auch, weil das Maserninfektionsgeschehen in den vergangenen zehn Jahren zum Sommerende immer auf einstelligem Niveau lag. Hohe Infektionszahlen verzeichnete man bisher eher im Frühling und Frühsommer mit einem Spitzenwert im April 2017: 46 Neuinfektionen innerhalb einer Woche.
Wie sind die Zahlen in Köln und der Region?
Für das laufende Jahr meldet das Gesundheitsamt Köln für das Stadtgebiet zwölf Masernerkrankte, die meisten konzentrierten sich „auf den Kölner Süden“. Alle sind aktuell wieder genesen. Betroffen waren vor allem Minderjährige, sechs waren unter zehn Jahre alt, drei Fälle im Teenageralter, weitere drei Fälle betrafen junge Erwachsene bis 33 Jahre.
Die Altersverteilung in Köln entspricht dem Infektionsgeschehen in NRW. 198 Infizierte waren in diesem Jahr unter 30 Jahre alt, nur 25 älter. Die größte Gruppe findet man mit 113 bei den Kindern bis neun Jahre. Die meisten Infektionsfälle im laufenden Jahr zählt in der Region Euskirchen mit 27; auch Oberberg ist mit zehn Fällen vergleichsweise stark betroffen. Spitzenreiter ist der Märkische Kreis mit bislang 38 Masernerkrankten.
Ist die Zahl der Erkrankten besorgniserregend hoch?
Sieht man sich allein die Zahlen der vergangenen Jahre an, ist ein deutlicher Anstieg erkennbar. „Die Meldedaten gemäß Infektionsschutzgesetz zeigen seit Juni 2024 ein dynamischeres Maserngeschehen als in den Wochen davor. Auch im Vergleich zu den Vorjahren sind die Zahlen deutlich höher“, schreibt das Gesundheitsministerium NRW auf Anfrage. So gesehen liegt schon jetzt eine Verfünfzehnfachung vor.
Allerdings waren die Zahlen in den vergangenen vier Jahren durch die Einführung des Masernschutzgesetz und die Pandemie deutlich zurückgegangen. Noch im Jahr 2017 zählte NRW 521 Masernfälle, im Jahr 2006 sogar 1760. Axel Gerschlauer vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) zufolge sei „ein gewisses Auf und Ab schon immer zu beobachten gewesen“. Eine Entwarnung will er damit nicht geben. Schließlich gelte: „Jede Masernerkrankung ist eine zu viel, da es sich um eine Krankheit handelt, die man mit einer gut erprobten Impfung leicht verhindern könnte.“
Einem aktuellen Bericht des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) zufolge wurde im Jahr 2023 zumindest weltweit zudem ein erheblicher Anstieg der Zahl der Masern-Fälle und -Ausbrüche beobachtet. Auch in Europa schnellten die Zahlen dieser Statistik zufolge in der ersten Jahreshälfte 2024 vor allem in Rumänien, Belgien, Italien, Deutschland und Österreich in die Höhe. Als Gründe für den jüngsten Anstieg nennen die ECDC-Experten saisonal bedingte Trends, die Einschleppung von Fällen aus Drittländern und die unzureichenden Impfquoten in einigen EU-Ländern. EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides bezeichnete die Auswertung als „besorgniserregend“ und forderte die Mitgliedsstaaten dazu auf, das Ziel einer Durchimpfungsrate von 95 Prozent ehrgeiziger zu verfolgen.
Wie gefährlich ist eine Masernerkrankung?
Die Masern zählen zu den gefährlichsten Kinderkrankheiten. Axel Gerschlauer warnt vor allem vor einer Encephalitis „einer Entzündung, die das ganze Gehirn betrifft“. Diese Komplikation tritt bei jedem 1000. Erkrankten auf und ist nicht heilbar. Besonders gefürchtet ist die Subakute Skleriosierende Panenzephalitis (SSPE). Sie führt zunächst zu Konzentrationsschwierigkeiten, später zu Krampfanfällen und am Ende zu einer Gehirnstarre, die tödlich ausgeht. „Die Krankheit ist grausam, das Kind stirbt Stück für Stück“, sagt Gerschlauer. Betroffen ist etwa eines von 3000 infizierten Kindern unter fünf Jahren. Jeder 300. Masernerkrankte hat laut Experten zudem mit Folgekrankheiten, wie zum Beispiel einer Lungenentzündung, zu kämpfen. Ein Drittel ist von Ohrinfektionen oder Durchfall betroffen.
Aber auch wenn eine Maserninfektion ohne Komplikationen verläuft, verursache sie schwere Krankheitssymptome wie hohes Fieber und eine Augenentzündung. Ungeimpfte Erwachsene sind dabei genauso schwer betroffen wie Kinder. Besonders gefährlich ist das Virus aber für Säuglinge, die noch nicht geimpft werden konnten oder Menschen mit geschwächtem Immunsystem.
Wie hoch ist die Ansteckungsgefahr?
Sehr hoch. Masernviren werden durch das Einatmen infektiöser Tröpfchen übertragen. Und zwar durchaus „drei bis fünf Tage bevor ein Hautausschlag zu sehen ist“, sagt Gerschlauer. Das Gesundheitsamt Köln schreibt auf Anfrage: „Nahezu jeder Kontakt zwischen einer Person ohne entsprechenden Immunschutz und einer erkrankten Person führt zu einer Ansteckung, selbst aus einigen Metern Entfernung.“ Ein Infizierter überträgt die Krankheit laut European Vaccination Information Portal an etwa 14 bis 18 andere.
Wem wird eine Impfung gegen Masern empfohlen?
Folgt man der Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) ist eine Impfung für fast alle Menschen eine gute Idee. Kleinkinder sollten zweimal jeweils im Alter von 11 und 15 Monaten geimpft werden. Die Kosten übernehmen seit 2010 alle gesetzlichen Krankenkassen. Auch Erwachsene, deren Impfstatus unklar ist, oder die jünger als 55 Jahre alt sind, rät die Stiko zu einer einmaligen Impfung. Gerade bei dieser Altersgruppe spricht das RKI von einer „Impflücke“.
Wie effektiv ist die Impfung?
Das RKI gibt an, dass 92 Prozent aller Geimpften bereits nach der ersten Impfung eine Immunität entwickeln. Nach der zweiten Impfung, die keinen Booster darstellt, sondern nur die Immunitätslücke schließen soll, ist das bei 98 bis 99 Prozent aller Geimpften der Fall. Die Wirksamkeit der Impfung gilt damit als hoch.
Wer unterliegt in Deutschland der Impfpflicht?
Spätestens, wenn Kinder in die Kita oder zur Tagesmutter kommen, ist ein vollständiger Masernschutz seit dem Frühjahr 2020 verpflichtend. Als geschützt gelten Menschen mit zweifacher Impfung oder einer belegbar durchgemachten Erkrankung. Das damals eingeführte Masernschutzgesetz gilt für alle nach dem 31. Dezember 1970 Geborenen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung betreut werden oder dort arbeiten.
Geimpft sein müssen deshalb auch Bewohner oder Mitarbeiter in Flüchtlingsunterkünften, Krankenhäusern oder Arztpraxen. Das Gesetz verbessere die Lage insoweit, dass Säuglinge, die für eine Impfung noch zu jung sind oder immunsupprimierte Kinder, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können, „eigentlich ohne Angst in Gemeinschaftseinrichtungen am sozialen Leben teilnehmen können“, sagt Gerschlauer.
Kann die Impfpflicht für Gemeinschaftseinrichtungen umgangen werden?
Ja, sagt Axel Gerschlauer. „Das Masernschutzgesetz ist aus rechtlicher Sicht nicht so hoch angesetzt wie die Schulpflicht. Letztlich müssen auch Ungeimpfte in die Schule.“ Es könne aber ein Bußgeld sowohl für die Familie als auch die Einrichtung in Höhe von 2500 Euro verhängt werden.
Wie hoch ist die Masern-Impfquote in NRW?
Das Gesundheitsministerium spricht davon, dass die angestrebte Rate von 95 Prozent erreicht werde. „Ab diesem Wert wird die Verbreitung des Virus in der Bevölkerung effektiv unterbrochen.“ Punktuell würden dennoch Masernfälle oder Masernausbrüche auftreten, „wenn Personen(gruppen) nicht ausreichend geschützt sind“.
Sieht man sich die Zahl der jährlich in Anspruch genommenen Masernimpfungen an, so liegt sie 2021 auf einem so niedrigen Wert wie seit 2011 nicht mehr. Weit höher waren die Zahl der immunisierenden Spritzen während eines Masernausbruchs 2015 sowie 2020 nach Inkrafttreten des Masernschutzgesetzes. Laut WHO sank die Impfquote durch verpasste Impftermine während der Pandemie weltweit zuletzt auf 83 Prozent.
Ist nach Corona eine Impfmüdigkeit zu spüren?
Laut RKI hat die Pandemie „keinen negativen Effekt auf die bundesweite Inanspruchnahme der Routineimpfungen“ gehabt. Dennoch „erscheint die Nutzung von Impfstoffen im Erwachsenenalter insgesamt weiterhin verbesserungswürdig“.
Impflücken entstünden nach Auskunft von Gerschlauer oft durch Schludrigkeit, in manchen Fällen liege aber auch Impfskepsis zu Grunde. Einigen Eltern oder Patienten könne man durch Aufklärungsgespräche und rationale Argumente gut erreichen. „Hardcore-Impfgegner“ dagegen seien „keinen wissenschaftlichen Argumenten zugänglich. Unsere Erfolgsaussichten, die Impfung durchführen zu dürfen, sind hier sehr gering.“