Auch wenn es noch die Ausnahme ist: Der Fachkräftemangel in Deutschland ebnet zunehmend auch Menschen mit einem Handicap den Weg auf den regulären Arbeitsmarkt.
Die „Cölner Hofbräu P. Josef Früh KG“ beschäftigt 16 Menschen mit einem Handicap.
Unsere Autorin stellt zwei davon vor und schildert außerdem, wie schwierig die Jobsuche für die rund 3,1 Millionen Schwerbehinderten im „erwerbsfähigem Alter“ in Deutschland immer noch ist.
Köln – Eigentlich reiche ein Blick ins Grundgesetz, sagt Konstantin Pieper. „Darin steht, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf.“ Womit aus seiner Sicht alles gesagt ist. Piepers Blick geht knapp an der Reporterin vorbei. Auch sie meidet den Augenkontakt. Konstantin Pieper, 31 Jahre alt und Bürokraft im Personalbüro der „Cölner Hofbräu P. Josef Früh KG“, hat eine „Autismus-Spektrumsstörung“. Asperger-Autisten nannte man Menschen wie ihn bis vor wenigen Jahren. Kommunikationsprobleme gehören zum Erscheinungsbild der Störung, und auch Pieper musste erst lernen, die Gestik und Mimik anderer Menschen richtig zu deuten. Das hat er, wie vieles andere auch, längst gemeistert. Allein seinen Gesprächspartnern in die Augen zu schauen ist ihm bis heute nicht angenehm.
Pieper ist einer von 16 Menschen mit einem Handicap, die in dem Kölner Unternehmen arbeiten. Am 1. Juli 2014 wurde er nach einem erfolgreichen Praktikum übernommen, erst mit einem Zeitvertrag, schließlich in einer Festanstellung. „Bei manchen Beschäftigten wissen wir nicht einmal, welche Behinderung sie haben“, sagt Pieper. Was er bedauerlich findet, „denn wir können jemandem nur helfen, wenn wir wissen, wo das Problem ist“. Der gelernte Bürokaufmann ist einer von mehreren Ansprechpartnern für Fragen, die sich bei der Einstellung von Behinderten ergeben: „Für Zuschuss-Angelegenheiten, das Aufsetzen von Verträgen und die Beschaffung fehlender Unterlagen“, erzählt er.
„Ich bin mitunter noch unsicher, wie eine Aussage gemeint ist. Ernst oder weniger ernst?“
Die Zusammenarbeit mit dem Team funktioniere gut, beteuert Pieper. „Ich bin mitunter noch unsicher, wie eine Aussage gemeint ist. Ernst oder weniger ernst? Ist eine Sache dringlich, oder kann man sie auf die lange Bank schieben? Doch Kommunikation und die Frage, welches Signal bei wem ankommt, ist natürlich auch bei Menschen ohne meine Erkrankung ein Thema. Bei mir kommt lediglich hinzu, dass es vergleichsweise leichter zu Missverständnissen kommen kann und daher beide Seiten stets bemüht sein sollten, sich möglichst klar und verständlich auszudrücken.“
Im Untergeschoss des Gebäudes wuchtet derweil Mehmed Atila Güven leere Frühstückstabletts in ein Regal. Metall scheppert auf Metall, im Hintergrund klappern Teller, klirren Gläser, doch der Mann in der roten Latzhose verzieht keine Miene. Güven ist gehörlos, seit ihm vor 56 Jahren ein Fieber die Fähigkeit zu hören nahm. Da war er erst wenige Wochen alt und fortan der einzige in seiner Familie, der sich nicht auf seine Ohren verlassen konnte. Sich in Lautsprache zu artikulieren fällt ihm schwer – sein Kommunikationsmittel sind seine Hände, seine Mimik, sein ganzer Körper.
Flink schildert Güven so seinen Lebensweg, eine Dolmetscherin übersetzt die Gebärden in die Sprache der Hörenden: 1981 mit der Familie aus der Türkei nach Deutschland gekommen, eine Ausbildung als Mechaniker, Heirat, zwei Söhne, die hören können und auf die Güven sehr stolz ist. Zwei Jahre bei „Ford“, elf Jahre bei „Ikea“. Seit dem 29. Juni 2020 festangestellter Spüler bei „Früh“. Morgenschicht von 6.30 bis 15.30 Uhr, Spätschicht von 15.30 nachmittags bis ein Uhr nachts. Einsätze in den verschiedenen Küchen des Hauses und als Reinigungskraft im kompletten Gebäude.
Einen Platz auf dem regulären Arbeitsmarkt mit Handicap zu finden ist keine Selbstverständlichkeit
Spaß mache das, gebärdet Güven und unterstreicht die Aussage seiner Hände mit einem breiten Lächeln. Natürlich gebe es schon einmal Verständigungsprobleme mit den hörenden Kollegen. Zumal wenn bei der Arbeit Tempo gefordert sei und er manchmal eine Anweisung nicht sofort verstehe. „Aber das Zeigen funktioniert alles in allem gut.“
Mehmed Atila Güven und Konstantin Pieper gehören zu den Glücklichen, die trotz ihrer Handicaps einen Platz auf dem regulären Arbeitsmarkt gefunden haben. Selbstverständlich ist das nicht. „Die Erwerbsbeteiligung schwerbehinderter Menschen ist deutlich niedriger als bei der Bevölkerung insgesamt“, fasste die Bundesagentur für Arbeit das Dilemma im Juni 2019 in einem Bericht über die berufliche Situation von Schwerbehinderten zusammen. Menschen mit einer Einschränkung von mehr als 50 Prozent haben größere Probleme als andere, einen Ausbildungsplatz zu finden. Die Stellensuche ist für sie mühsamer als für die Arbeitsfähigen ohne Handicap. Und verlieren sie einmal ihre Anstellung, dann brauchen sie rund 16 Wochen länger, um eine neue Stelle zu finden.
Knapp 8 Millionen schwerbehinderte Personen leben in Deutschland, mehr als 1,8 Mio davon in NRW
Knapp acht Millionen schwerbehinderte Personen leben in Deutschland, mehr als 1,8 Millionen davon in NRW: Menschen mit angeborenen neurologischen Störungen wie Konstantin Pieper. Menschen mit schweren Depressionen wie Birgit Rose, von der hier zu lesen ist. Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen, die ihnen die Körperkraft und mitunter auch die Lebenslust rauben. Es sind mehr Männer als Frauen, die von der Diagnose „schwerbehindert“ betroffen sind.
Nur knapp vier Prozent der Einschränkungen sind angeboren. Die große Mehrheit der Betroffenen ist erst im Laufe ihres Lebens durch Krankheiten oder Unfälle schwer zu Schaden gekommen und muss sich mühsam einfinden in einen Alltag, in dem nichts mehr so ist, wie es vorher war. Probleme, sich dauerhaft im Berufsleben zu behaupten, hat die Mehrzahl von ihnen. Von den rund 3,1 Millionen Schwerbehinderte im „erwerbsfähigen Alter“, also Personen zwischen 15 und 65 Jahren, hatten 2017 nur knapp 47 Prozent einen Job auf dem regulären Arbeitsmarkt. Trotz zumeist guter beruflicher Qualifikation. Vor allem die Älteren sind bedroht von Arbeitslosigkeit. Von den 60- bis 65-Jährigen waren nur noch knapp 30 Prozent in Lohn und Brot, bei ihren nichtbehinderten Altersgenossen dagegen mehr als 58 Prozent.
Großes Problem bei der Einstellung: Unwissenheit und Berührungsängste
„Das große Problem bei der Einstellung von Personen mit Einschränkungen ist Unwissenheit. Die Menschen haben bestimmte Bilder im Kopf, die sie abschrecken“, erklärt Christian Münch die Berührungsängste zwischen Menschen mit und ohne Handicap. „Diese Bilder müssen wir durchbrechen und lernen, den einzelnen zu sehen statt zu katalogisieren.“ 24 Jahre hat Münch in einer Behinderteneinrichtung gearbeitet und schon dort gegen Vorurteile und die Ignoranz der schlecht Informierten angekämpft. Seit sieben Jahren ist er einer von 13 Inklusionsberaterinnen und -beratern der Landwirtschaftskammer sowie der Handwerks- und der Industrie- und Handelskammern in NRW und versucht, Unternehmen für die Bedürfnisse und erst recht für die Fähigkeiten und Stärken von Schwerbehinderten zu sensibilisieren.
Der Bedarf an fachkundigem Rat ist groß. Unternehmen mit mindestens 20 Arbeitsplätzen müssen „auf wenigstens fünf Prozent der Arbeitsplätze“ Menschen mit einer schweren Behinderung beschäftigen. So steht es im Sozialgesetzbuch. Weigern sie sich, ist je nach Anzahl der nicht besetzten Stellen eine Abgabe zwischen 125 und 320 Euro pro Monat fällig. Ein Betrag, der sich summieren kann. So mussten 2017 in Bayern 16.000 von 27.000 Firmen und Ämtern kräftig in die Tasche greifen, weil sie unter dem Soll geblieben waren: Die Ausgleichsabgabe, die sie zu zahlen hatten, betrug 113.000 Millionen Euro.
„Wir müssen aufeinander zugehen, und das gilt für beide Seiten“
Verglichen damit ist NRW nahezu ein Musterknabe. Zwar blieben 2017 auch dort fast 59.000 der 285.000 Pflichtarbeitsplätze unbesetzt. Dennoch knackte NRW, gemeinsam mit Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, die Fünf-Prozent-Hürde. Zwischen Rhein und Ruhr waren 5,2 Prozent der Arbeitsplätze mit gehandicapten Personen besetzt.
Münch ist optimistisch, dass hier noch Luft nach oben ist. „Wenn wir ein Unternehmen erst einmal mitgenommen haben, ist es in der Regel bereit, weitere Schwerbehinderte einzustellen“, so seine Erfahrung. Der Personenkreis werde dann nicht mehr als „Problem“ gesehen. Auch die Behinderten selber sieht Münch in der Pflicht, zum Barriere-Abbau in den Köpfen beizutragen. „Wir müssen aufeinander zugehen, und das gilt für beide Seiten.“
Eine Forderung, die Christoph Tacken und unsere drei anderen Gesprächspartnerinnen und -partner, die hier zu Wort kommen, längst verinnerlicht haben. Man solle offen und ehrlich mit seinen Einschränkungen umgehen, rät Christoph Tacken allen Betroffenen. Der 38-Jährige, seit seiner Jugend sehbehindert durch eine fortschreitende Degeneration der Netzhaut, arbeitet im Kölner „Kompetenzzentrum für selbstbestimmtes Leben“, einer Beratungsstelle von Behinderten für Behinderte. Bloß nicht sein Licht unter den Scheffel stellen, ist hier die Devise. Vor allem junge Leute müssten lernen, ihre Krankheit anzunehmen und sich bei Bewerbungen selbstbewusst mit ihrer Behinderung zu präsentieren, weiß Tacken aus eigener Erfahrung.
Wachsender Fachkräftemangel Chance für Menschen aus Randgruppen
Ihre Chancen, den Weg auf den regulären Arbeitsmarkt zu finden, stehen heute besser als noch vor zehn Jahren. Generell sei die Aufgeschlossenheit von Unternehmen, Menschen mit einem Handicap zu beschäftigen, in den letzten Jahren gewachsen, sagt Inklusionsberater Christian Münch. Der wachsende Fachkräftemangel mache sie offen auch für Bewerber jenseits ihrer Idealvorstellungen. „Der Markt wird kleiner, die Bereitschaft der Firmen, Menschen aus Randgruppen zu beschäftigen, dementsprechend größer.“
Christoph Beyer, Leiter des Inklusionsamts beim Landschaftsverband Rheinland, sieht das ähnlich. „Die Unternehmen setzen verstärkt auf Menschen mit Einschränkungen, weil sie merken, dass sie sonst bestimmte Stellen gar nicht mehr besetzen können.“ Großes Plus sei die Fortentwicklung technischer Hilfsmittel. „Bei körperlichen Problemen lässt sich mit entsprechender Hilfe fast alles kompensieren.“ Nach wie vor groß seien aber die Vorbehalte gegenüber geistig Behinderten. Ihnen bliebe oft nur der Weg in eine Behindertenwerkstatt.
„Wir brauchen ihn dringend“
Auch Mehmed Atila Güven profitiert vom Fachkräftemangel in der Gastronomiebranche. „Wir brauchen ihn dringend“, sagt Guido Fussel, der mit weiteren Kollegen zwei Jahre um den Mann an der Spüle kämpfte. 2018 hatte Güven im Rahmen eines mehrmonatigen Praktikums schon einmal bei Früh gearbeitet. „Er war klasse“, erinnert sich Fussel. „Alle mochten ihn. Er selber war hochmotiviert und wollte den Job unbedingt.“ Geklappt habe es dennoch nicht. „Wir konnten nicht die nötigen Sicherheitsvorkehrungen vorweisen.“ Der Knackpunkt: Güven ist aufgrund seiner Gehörlosigkeit auf optische statt auf akustische Signale angewiesen, um bei einem Feueralarm entsprechend reagieren zu können. Kein Problem, dachte Fussel. Und gibt zu, dass er da wohl etwas zu optimistisch gewesen sei. Einige Jahre zuvor war bereits der vergleichsweise überschaubare Arbeitsbereich von zwei hörgeschädigten Frauen, die im Housekeeping beschäftigt sind, entsprechend umgerüstet worden. Anders im Fall Güven. Hier geriet die Übernahme der Kosten für einen „Pieper“, einen körpernahen Vibrationsalarm, und die Ausstattung der Feuermelder mit Blitzleuchten schnell zum Zankapfel zwischen dem Unternehmen und der Rentenversicherung Bund. Ohne Warnsystem jedoch konnte der Spüler nicht eingestellt werden. Schließlich finanzierte der Landschaftsverband die Installation des optischen Meldesystems.
Am 29. Juni 2020 war Güvens erster Arbeitstag. Spätestens bis Ende Dezember 2020 sollen die Blitzsignale montiert sein – später als geplant zwar, denn eine frühere Fertigstellung habe Corona vereitelt, sagt Fussel. Auch das „technische Kommunikationssystem“, der vibrierende Alarm, den Güven am Gürtel tragen soll, ist aus nämlichen Gründen noch nicht im Einsatz. Bis sich das ändert, stellt ihm das Unternehmen einen Mitarbeiter zur Seite, der ihn schon während seines Praktikums betreute.„Die beiden verstehen sich ausgezeichnet“, sagt Fussel. Ohnehin seien die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr aufgeschlossen ihren behinderten Kollegen gegenüber. „Das Miteinander in einem Betrieb funktioniert nur dann gut, wenn jeder einzelne dahintersteht.“ Er sei froh, endlich hier arbeiten zu dürfen, sagt auch Güven. Was seien da schon ein paar Verständigungsprobleme. „Ich versuche in den Pausen, den Kollegen ein bisschen Gebärdensprache beizubringen. Damit wir uns irgendwann unterhalten können.“