Köln – Die Corona-Pandemie hat der Digitalisierung der Schulen einen starken Schub gegeben. Doch wie soll Unterricht künftig aussehen: Unterstützt von Lernsoftware oder frei von digitalen Medien? Soll über digitale Technik nur geredet oder soll sie auch eingesetzt werden? Matthias Burchardt, Bildungsforscher der Kölner Uni, und Richard Heinen, Schulentwickler bei „LearningLab Köln“ haben über diese Fragen gestritten.
Matthias Burchardt: Ich spiele hier mal gleich zu Beginn die Euphoriebremse. Ich selbst war anfangs begeistert von all den Optionen. Inzwischen bin ich skeptisch was die Verheißungen der Technik angeht. Ich sehe die Gefahr, dass wir mit der Digitaleuphorie Schaden anrichten. In dieser Übergangszeit von Distanz- und Hybridlernen erleichtert die Technologie das Kontakthalten. Aber ich möchte daraus nicht einfach Konsequenzen für den Normalunterricht nach Corona zu ziehen, sondern das gerne bildungstheoretisch reflektieren. Das ist kein Modell für normale Zeiten, da die Bedürfnisse des Schülers nach Nähe und Zuwendung auf digitaler Ebene nicht lösbar sind.
Richard Heinen: Ich plädiere dafür, das Potenzial für das Lernen zu betrachten, das in der Digitalisierung steckt. Von der Politik wird viel zu sehr der Fokus auf die technische Infrastruktur gelegt. Es geht nur darum, mit digitaler Infrastruktur hinterherzukommen. Aber wir müssen dringend reflektieren, wie wir im Unterricht mit der Technik umgehen.
Viele Schulen haben in der Krise versucht, den normalen Stundenplan digital abzubilden. Da kamen Lehrer im 45-Minuten-Takt im Frontalunterricht durch die Kamera gekrochen. Viele haben erlebt, dass das nur eingeschränkt funktioniert: Nach der dritten Videokonferenz blieben viele Kameras aus, es gab immer weniger Resonanz. Es sind nämlich nicht die Schulen gut durch die Krise gekommen, die digital gut aufgestellt waren, sondern die methodisch gut aufgestellt waren. Es waren Schulen, die schon vor der Krise auf eigenständiges Lernen und individuelle Betreuung geachtet haben. Die konnten das prima in den digitalen Raum bringen und auch soziale Nähe aufrechterhalten.
Burchardt: Ich sehe dieses neue Ideal vom selbst gesteuerten Lernen der Schüler kritisch. Ebenso wie das neue Ideal eines Lehrers, der sich wandelt vom verantwortungsvollen Unterrichtsgestalter zum Lernbegleiter, der in einer Klasse digital unterstützt und für Lerngruppen die Lernumgebung gestaltet. Dadurch wird die Klassengemeinschaft atomisiert in viele kleine Lernblasen. Das überfordert viele Kinder und die soziale Dimension des Lernens kommt zu kurz. Auch die Abkopplung vom Lehrer und die Ankoppelung an Maschinen sehe ich kritisch.
Heinen: Das stimmt doch so nicht. Der Schüler ist weiter vom Lehrer eng begleitet und die Beziehungsarbeit ist intensiver als im klassischen Unterricht. Es ist eben nur so, dass es nicht mehr 25 Kinder sind, die gerade an demselben Punkt sein müssen, an dem sie denselben Input bekommen, sondern dass die Gruppe differenzierter betrachtet wird.
Hören Sie im Schul-Check-Podcast, wie bereits benachteiligte Kinder an Brennpunktschulen in der Corona-Krise weiter auf der Strecke geblieben sind:
Es arbeitet auch nicht jedes Kind einfach nur entsprechend seiner Kompetenz an vom Algorithmus ausgespuckten Aufgaben. Der Algorithmus sagt ihm auch, was heute gut für es ist: ob es besser alleine arbeitet, eine Gruppenarbeit in der Lerngruppe macht oder zum Lehrer geht, um sich intensiv begleiten zu lassen. Mal abgesehen davon, dass diese Algorithmen in Deutschland noch Zukunft sind. Auch innerhalb einer Gruppenarbeit kann die digitale Technik mehr Zusammenarbeit ermöglichen, etwa indem ich über Online-Dokumente gemeinsam an einem Text schreibe. Das geht gar nicht auf Papier.
Burchardt: Ich behaupte, für diese Form des selbstständigen digitalen Lernens sind Schüler erst mal nicht gemacht. Es bedarf großer Voraussetzungen, um das Lernen selbst gesteuert zu übernehmen. Außerdem stört mich die Fragmentierung der Klasse als Lerngruppe. Es geht doch beim Lernen um soziale Beziehung: Der Lehrer öffnet mir die Welt, die ich teile mit meiner Klasse. Das ist die Gruppe von Menschen, mit denen ich eine Lebensphase teile und die Erfahrung eines gemeinschaftlichen Lernens mache. Es ist eine unentrinnbare Konstellation, im besten Fall milieuübergreifend, die an gemeinsamen Lebensthemen wächst.
Eine Lerngruppe ist eine zweckfunktionale Gemeinschaft, die sich wieder zerstreut: Jeder macht was anderes, mal fragmentiert, mal in der Gruppe und holt sich die Infos vom Lehrer ab – das erinnert mich eher an Prozesse von Projektarbeiten in Unternehmen.
Heinen: Ich würde andersrum die Frage stellen, ob der Schüler für einen stark Lehrer geleiteten Unterricht gemacht ist. Oder ob das nicht etwas ist, was wir genauso gelernt haben. Wenn ich sehe, wie Kinder interessengeleitet in der Grundschule lernen und wie ihnen das die Schule dann abtrainiert wird. Sie haben doch in Klassen einen Teil, der nach einem Drittel der Zeit gelangweilt da sitzt, weil er das Ziel schon erreicht hat, für die mittlere Gruppe ist das Tempo richtig und für die dritte Gruppe ist die Zeit unnütz, weil sie schon am Anfang den Faden verloren haben.
Durch digitale Unterstützung der Gruppe kann ich mir die Zeit erschließen, mich dieser dritten Gruppe intensiver zu widmen – und den anderen eigenständige Lernabenteuer ermöglichen. Es wird sichtbarer, wo die Problemfelder sind und wo die Kinder, denen man mehr Aufmerksamkeit widmen muss.
Burchardt: Dem Ressourcenargument würde ich zustimmen. Aber Sie wollen eine Veränderung der Lernkultur, ich will bessere Ressourcenausstattung für kleinere Klassen. Menschen – gerade in Problemvierteln – brauchen nicht Geräte, sondern Verbindlichkeit und menschliche Vorbilder. Wichtiger als die digitale Welt in die Schule zu holen, ist, in der Schule die digitale Welt zu reflektieren.
Die Leute im Silicon Valley schicken ihre Kinder in Waldorfschulen, weil sie wissen: Das Digitale kommt sowieso. Was ihre Kinder brauchen sind analoge Primärerfahrungen, um dann souverän mit digitalen Medien umzugehen. Die Jugendlichen müssen als Digital Natives vielleicht in der Schule erst mal auf Distanz kommen zu den Geräten, die so in ihr Körperschema integriert sind, dass sie Amputationsgefühle haben, wenn sie es kurz aus der Hand geben müssen. Vielleicht müssen ihnen die Geräte nicht nahe gebracht, sondern weggenommen werden. Vielleicht ist die Aufgabe von Schule vielmehr, den Verlust von analogen Primärerfahrungen zu kompensieren. Wir müssen beides vermitteln: mündigen Umgang mit digitalen Geräten, ebenso natürlich wie technisches Wissen, Informatik, Textverarbeitung und Tabellenkalkulation.
Heinen: Aber viele Lehrer haben doch erst jetzt in der Pandemie, da sie Schülern direktes, persönliches Feedback zu ihren Arbeiten gegeben haben, gemerkt, dass das sonst zu kurz kam. Normalerweise gehe ich aus der Klasse raus und hatte eine gute oder schlechte Stunde. Aber ich nehme den Schüler nicht in seiner Individualität wahr. Das ist ein Punkt, der ganz außerhalb der Kontroverse um digital und analog steht, die Sie da gerade aufbauen.
Es ist die Frage, wie wir bei der Schule, wie wir sie im Moment organisieren, den Schüler überhaupt in seiner Individualität wahrnehmen. Nämlich zu wenig. Im Übrigen geht es immer um eine genaue Abwägung: Wo erhöht das Analoge die Intensität der Beschäftigung mit dem Lerngegenstand und wo das Digitale. Aber grundsätzlich gilt, wir müssen die Schüler auf ein digital geprägtes Jahrhundert vorbereiten. Das tue ich, indem ich über Digitales reflektiere, aber eben auch indem ich digital gestützt arbeite.
Burchardt: Ich bin bei Ihnen, dass ich als Schüler digitale Fertigkeiten erwerben muss. Aber ich verstehe nicht, warum ich digitale Medien als Unterrichtsmedien brauche.
Heinen: Wie sähe denn Ihr Unterricht der Zukunft aus?
Burchardt: Ich würde das Digitale quer durch alle Unterrichtsfächer thematisieren, weil das die Urteilskraft stärkt. Ich würde Präsentationsmedien nutzen: Smartboards oder Filme etwa. Auch das Handy würde ich benutzen lassen, wenn es eine Bewandtnis hat. Etwa im Physikunterricht zum Messen von Erschütterungen oder zum Drehen von Filmen. Aber als digitale Unterrichtsmedien im Sinne von Lernsoftware will ich digitale Medien aus der Schule verbannen. Damit meine ich digitale Lernsoftware und Apps, die das Lernen mit Daten diagnostizieren und optimieren. Damit werden Dinge, die originär in die Souveränität des Lehrers gehören, auf digitale Unterrichtsmedien übertragen.
Ich möchte keine Lernsoftware, die Lernprozesse modelliert, die Schüler mit Learning Analytics auswertet, eine Formatierung von Aufgaben übernimmt und Performanceprofile ermittelt. Das ist eine invasive Technik, die die Integrität des Schülers verletzt. Sie stellt pädagogische Urteilskraft durch Überwachungspädagogik in Frage. Dadurch besteht die Gefahr, dass wir einen neuen Menschen produzieren mit Motivation durch Sorge vor Kontrolle. In China können Sie sehen, wohin das führen kann.
Heinen: Sie warnen vor einer Realität, die es in unseren Schulen im Moment noch relativ wenig gibt. Ich würde die digitalen Helfer nicht pauschal diskreditieren. Es geht doch darum, bei Kindern Fehler zu analysieren, herauszufinden, warum sie die machen und was sie brauchen, um sie nicht mehr zu machen. Das sind Aufgaben, die man wunderbar an die Technik delegieren kann und die einem dann Zeit geben, sich auf der anderen Seite intensiver der Betreuung von Kleingruppen zu widmen.
Wir müssen gut analysieren, wo sind Bereiche, wo ich Honig aus dem Digitalen saugen kann, um Freiräume für anderes zu schaffen. Wir müssen fragen, wo hilft Analytics und wo nicht. Was nutzt es mir als Lernender, wenn ich eine Woche später ein Feedback zu dem bekomme, was ich gerade gemacht habe. Die Technik gibt sofort Feedback. Das Digitale ist erst mal grundsätzlich neutral und die Frage ist, wie ich es einsetze. Es will ja keiner nur noch von Algorithmen gesteuert unterrichten.
Burchardt: Doch, bestimmte Firmen wollen das. Wir zahlen einen Preis für diesen Kontrollverlust. Sie sagen, das sind neutrale Instrumente. Wenn ich was Gutes daraus mache, sind sie was Gutes. Das bezweifle ich. Damit wir aus digitalen Produkten neutrale Elemente machen können, müssen wir sie herauswinden aus ökonomischen und ideologischen Interessenlagen. Das bedeutet, Lernplattformen an Schulen zu haben, die nicht von IT-Unternehmen aus dem Silicon Valley kommen.
Wir brauchen Kommunikationsplattformen in staatlicher Aufsicht. Das ist die gesellschaftliche Voraussetzung, um diese Technik so aufzubereiten, dass sie einen demokratischen und pädagogischen Mehrwert hat. Microsoft Teams wird an vielen Schulen verwendet, obwohl es von vielen Datenschutzexperten als minderwertiges Produkt dargestellt wird. Aber es funktioniert besser als die Plattformen, die wir von der Landesregierung gestellt bekommen. Das ist das Problem. Wir brauchen gute Ausstattung und Produkte, die frei sind von Konzerninteressen.
Heinen: Stimmt. Die Bundesländer müssen gute Plattformen zur Verfügung stellen, um nicht auf diese Konzerne angewiesen zu sein. Da hinken wir hinterher. Aber Bundesländer sind keine Software-Unternehmen. Es gilt, gute Verträge mit professionellen Anbietern zu erreichen. Vorrangiges Ziel ist derzeit noch, Glasfaser zu legen und den Kindern Tablets in die Hand zu drücken. Aber wir müssen auch inhaltlich reflektieren und da Impulse setzen – auch im Bereich der Aus- und Fortbildung von Lehrern.
Burchardt: Es braucht die politische Debatte, was Schule ändern muss und auf welchen Ebenen Schule beharren sollte. Nicht nur beim Thema Digitales, auch auf der Ebene der Inhalte. Lesen, Schreiben, Rechnen: das ist überzeitlich gültig. Das bleibt die Voraussetzung und das dürfen wir nicht vernachlässigen. Genauso wie die Frage nach dem Lebensglück. Da gibt es antike Texte, die zu jeder Zeit Geltung und Wert haben. Schule darf nicht verpennen, dass es Inhalte gibt, die sich ändern. Sie darf aber auch nicht vergessen, dass es Inhalte gibt, die zu jeder Zeit ihren Wert behalten und weiter vermittelt werden müssen.
Heinen: Trotzdem würde ich hinter das Lernen stur nach Kurrikulum ein großes Fragezeichen machen. Wir haben doch jetzt Eltern von Achtklässlern, die Angst haben, dass das mit dem Abitur nicht klappt, weil Zoom einen Hänger hatte und sie deshalb die Mendelschen Gesetzen in Bio nicht verstanden haben. Oder wenn Frau Gebauer (NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer, FDP, Anm. d. Red.) jetzt immer davon redet, dass Stoff nachgeholt werden muss. Da sind wir auf der falschen Ebene unterwegs.
Das Beharren auf Stoff ist schwierig, weil es viele anderen Kompetenzen gibt, die wichtig sind, denen wir wenig Aufmerksamkeit widmen. Ich will keinen Inhalt abqualifizieren, aber ich will dazu kommen, dass Kinder sich interessengeleitet auch mal bestimmtem Stoffen vertieft widmen können. Dazu gehört auch die Fähigkeit der Selbstorganisation, die wir in Schulen vernachlässigen. Und dann sind wir wieder bei der Debatte, was ist guter Unterricht…