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50 Jahre GesamtschuleSchulstart mit Plastiktellern und acht Noten

Lesezeit 6 Minuten
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  1. Die Gesamtschule ist Vorreiter in vielen Bereichen gewesen, jetzt feiert sie 50-jähriges Bestehen.
  2. Was ein kleiner Anfang war, hat sich zu einer regelrechten Welle ausgewachsen. Keine Schulform ist heute so gefragt wie die Gesamtschule.
  3. Im zurückliegenden Schuljahr 2018/19 lernten an 340 Gesamtschulen 319.587 von insgesamt rund 2,5 Millionen Schülern.

Kierspe – Jahrelang knatterte Johannes Heintges (54) mit seinem Auto auf der Autobahn 4, um sich einen pädagogischen Traum zu erfüllen: Lehrer an einer Gesamtschule zu sein. Deshalb machte er sich morgens von Köln nach Kierspe auf, nachmittags ging es zurück. Mittlerweile lebt Pädagoge Heintges unter der Woche in der 17.000 Einwohner zählenden Kleinstadt im Sauerland; nur am Wochenende fährt er noch nach Köln, „um das Leben in der Großstadt zu genießen“, wie er sagt. In diesem Jahr feiert seine Schule ihr 50-jähriges Bestehen. Im Jahr 1969 wurden in Dortmund, Fröndenberg, Gelsenkirchen, Kamen, Oberhausen, Münster und eben in Kierspe die ersten sieben Gesamtschulen Nordrhein-Westfalens gegründet.

Was ein kleiner Anfang war, hat sich zu einer regelrechten Welle ausgewachsen. Keine Schulform ist heute so gefragt wie die Gesamtschule. Im zurückliegenden Schuljahr 2018/19 lernten an 340 Gesamtschulen 319.587 von insgesamt rund 2,5 Millionen Schülern. „Eine bemerkenswerte Geschichte“, findet der bildungspolitische Sprecher der SPD im Landtag, Jochen Ott. „Wenn man sieht, wie viele Gesamtschulen dazugekommen sind, ist das schon eine wahnsinnige Leistung.“

1350 Schüler besuchen die Gesamtschule an der Otto-Ruhe-Straße 2 in Kierspe. Und wenn es nach Schulleiter Heintges geht, gibt es hier die optimalen Möglichkeiten für die Pennäler, ihr Potenzial abzurufen. Aus diesem Grund wundert sich der Pädagoge, warum so wenig Notiz von dem runden Geburtstag genommen wird. „Das Jubiläum spielt landesweit keine Rolle“, sagt er. Ein kurzer Beitrag im Fernsehen, ein paar kleinere Texte in den Zeitungen, „das war’s“, klagt er. „Ich werde da nicht ganz schlau draus, warum unser Jubiläum öffentlich nicht stattfindet. Das habe ich mich das ganze Jahr über gefragt. Vielleicht wissen Sie das?“, fragt er. „Es ist gar nicht so präsent, dass die Gesamtschule eine unheimlich erfolgreiche Arbeit leistet“, findet Heintges.

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„Sie sind so etwas Heiliges“

„Ich war enttäuscht“, sagt er. „Ich habe gedacht, diese 340 Schulen in NRW leisten einen unglaublich hohen Anteil an der Integration in der Gesellschaft, wir sind die Speerspitze in der Bildungsgerechtigkeit und werden nicht wahrgenommen.“ Das sei bei den Gymnasien anders, „sie sind so etwas Heiliges“.

Dabei habe sich das, was vor fast 50 Jahren als Versuchsprojekt gestartet ist und vor allem in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Rahmen des sogenannten „Schulkampfes“ stark umstritten war, heute längst etabliert. „Insgesamt hat man es geschafft, mehr Kinder nach oben zu bringen“, sagt Ott. „Wir brauchen wie 1969 eine neue Verabredung, dass Kinder nach ihren Möglichkeiten gefördert werden. Da ist die Gesamtschule vorbildlich“, sagt er auch in Bezug auf die jüngsten Pisa-Ergebnisse.

Der Grundgedanke der Gesamtschulen geht zurück auf Wilhelm von Humboldt. Schüler aus allen gesellschaftlichen Gruppen sollen gemeinsam Unterricht haben, miteinander und voneinander lernen. Ganztagsunterricht mit Mensa und Nachmittagsbetreuung waren Ende der 60er und in den 70er Jahren noch etwas ganz Neues.

Erster Versuch nach dem Zweiten Weltkrieg scheitert

Der erste Versuch, die Gesamtschule zu etablieren, war noch nach dem Zweiten Weltkrieg gescheitert. Die Besatzungsmächte wollten das Schulsystem in Deutschland einführen, was von deutschen Politikern jedoch abgelehnt wurde. Als dann in den 1960er Jahren der Philosoph und Pädagoge Georg Picht Alarm schlug und einen Bildungsnotstand ausrief, schlug zugleich die Stunde der Gesamtschule. Eine kleine bildungspolitische Rebellion. Die sozialliberale Koalition in NRW hatte den Gedanken Pichts aufgegriffen, dass soziale Zukunft nicht durch soziale Herkunft bestimmt werden dürfe. Nach einem Beschluss des Bildungsrates in NRW wurden dann die sieben Schulen aus der Taufe gehoben.

In Kierspe gab es zu dieser Zeit keine Möglichkeit, Abitur zu machen. Dafür hatte man zwei Hauptschulen, eine staatliche und eine konfessionelle, die nur durch eine Straße getrennt einander gegenüber lagen. Dieter Aderhold, Professor für Politikwissenschaft und Landtagsabgeordneter, gab mit den entscheidenden Anstoß. Alle unterstützten die Idee, in Kierspe eine Gesamtschule zu errichten. „Der erste Jahrgang der Hauptschule war schon an den Start gegangen“, berichtet Heintges, „die Eltern ließen die Kinder extra sitzenbleiben, damit sie auf die Gesamtschule gehen und Abitur machen konnten. Man startete elfzügig.“ Am Anfang experimentierten viele Gesamtschulen noch mit einem alternativen Notenmodell. Es gab zunächst acht statt der üblichen sechs Noten, und mittags wurde auf Plastikgeschirr serviert.

„Wir unterrichten Schüler, nicht Fächer!“

1969 kamen aus ganz Deutschland hochmotivierte Lehrer nach Kierspe, aus Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Norddeutschland. Heintges folgte 1999. „Ich hatte keinen blassen Schimmer von Kierspe“, sagt er. Schule und Schulform sollten komplett neu erfunden werden. Reformpädagogische Überlegungen gab es schon in der Weimarer Republik, jedoch wenig Erfahrung hinsichtlich deren Umsetzung. „In Kierspe gab es ganz viel Sinn für Pragmatismus.“ Wir unterrichten Schüler, nicht Fächer!, lautete das Anfangsmotto, dem man sich verpflichtet fühlte.

Leistungsstarke Schüler sollen an ihre Grenzen kommen, leistungsschwache nicht entmutigt werden. Das auf die Beine zu stellen, sei eine Frage der richtigen Methodik, sagt Heintges. Aufgaben mit unterschiedlichem Niveau. Eine Win-win-Situation nennt Heintges das.

Konzentration auf weniger Schulfächer

„Die Schüler werden hier einfach mehr gefördert“, findet Thomas (20), der von einem Gymnasium in Bergneustadt auf die Gesamtschule im benachbarten Eckenhagen gewechselt war und nun sein Abitur in der Tasche hat. „Es wird mehr kommuniziert, wie man sich verbessern kann“, sagt er. „Auf dem Gymnasium ist das Abitur das logische Ziel, auf der Gesamtschule motiviert der Entschluss, Abitur machen zu wollen die Schüler vielleicht im Vergleich mehr. Den 60-minütigen Unterricht finde ich auch besser als den 45-minütigen auf dem Gymnasium. Man kann sich auf weniger Fächer konzentrieren.“

Es sei aber auch die Nachmittagsbetreuung, die Gesamtschulen in NRW so attraktiv machten, sagte die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Maike Finnern, dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. In Köln mussten sich 2019 rund 750, im Jahr 2018 sogar rund 1000 Kinder, die eine Gesamtschule besuchen wollen, eine andere Schulform suchen, weil Plätze fehlen. Auch im Ruhrgebiet gibt es viel mehr Anmeldungen als Plätze.

Heterogenität ist wichtig

„Die Gesamtschulen werden wie ein ungeliebtes Kind nur stiefmütterlich behandelt“, heißt es hingegen in einem von SPD-Landtagsfraktion und Lehrergewerkschaften verfassten Aufruf, den neben Finnern unter anderem auch Ott unterzeichnet hat. „Ein klares Bekenntnis zum längeren gemeinsamen Lernen fehlt völlig“, wird hier massive Kritik an der Landesregierung geübt.

Lob gibt es vom „Klassenfeind“. Sabine Mistler, Vorsitzende des Philologen-Verbands NRW, würdigt das Engagement an den Gesamtschulen. Nachbesserungsbedarf sieht sie hier jedoch auch: Im Bereich der personellen Ressourcen sowie der Rahmenbedingungen der täglichen Arbeit der Lehrkräfte. „Für ein erfolgreiches Arbeiten in einem integrierten Schulsystem sind deutlich kleinere Lerngruppen unabdingbar“, erklärt sie.

Der Ganztag, das kooperative Lernen, Freizeit- und Mittagsangebote – all das hat Einzug gehalten in andere Schulformen. Die Gesamtschule funktioniere am besten, wenn die Heterogenität stimme, Kinder aus allen Bevölkerungsschichten und Leistungsbereichen vertreten seien, sagt Heintges. „Wir haben Kinder mit 25 bis 30 unterschiedlichen Muttersprachen, Integration ist hier selbstverständlich.“ Insofern sei die Gesamtschule die richtige Antwort auf die Herausforderungen einer Zeit, die geprägt sei von sozialer Ungleichheit und unfairen Bildungschancen.