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MissbrauchsfälleErmittler entdecken erschütternde Aufnahmen und Verbindungen zu Lügde

Lesezeit 5 Minuten

Auf dem Campingplatz Eichwald in der inzwischen eingezäunten Parzelle des mutmaßlichen Täters steht der versiegelte Campingwagen.

  1. Die Ermittlungsgruppe Berg, die im Missbrauchsfall von Bergisch Gladbach ermittelt, hat weitere erschütternde Details bekanntgegeben.
  2. Inzwischen ist die Opferzahl laut NRW-Innenminister Herbert Reul auf 36 gestiegen. Es gibt 51 Beschuldigte.
  3. Mithilfe einer Spezial-Software sind die Ermittler außerdem auf Querverbindungen zu Lügde gestoßen.

Bergisch Gladbach/Lügde – Die Aufnahmen gequälter Kinder gehen selbst hartgesottenen Kriminalbeamten nicht aus dem Kopf. Je tiefer die Ermittlungsgruppe (EG) Berg in dem monströsen Missbrauchskomplex in NRW und weiteren zwölf Bundesländern forscht, desto schlimmer wird es. Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ aus Sicherheitskreisen erfuhr, stießen die Ermittler inzwischen auf einschlägige Foren, in denen sich Männer live vor den Augen anderer Teilnehmer an Kindern vergingen. Auch sind Chats aktenkundig, in denen 1000 Teilnehmer gemeinsam Missbrauchsszenen verfolgen.

Nach und nach offenbart sich den Strafverfolgern eine kranke, voyeuristische Parallelwelt, die sich in schwer zugänglichen Messengerdiensten wie Threema zusammenfindet, um schwersten Missbrauch im Livestream zu verfolgen. Inzwischen stieg die Opferzahl laut NRW-Innenminister Herbert Reul auf 36, die Beschuldigtenliste weist 51 Namen auf. „Und das ist nicht das Ende“, fürchtete Reul.

Chatprotokolle erschüttern selbst erfahrene Polizisten

Zehntausende Chatprotokolle haben die gut 300 Beamten der EG Berg inzwischen ausgewertet. Mitunter stoßen sie dabei an ihre Grenzen. Es sind Sätze wie die folgenden, die selbst die erfahrensten Polizisten erschüttern. Er habe nur dann Sex mit seiner Tochter, soll einer der 21 mutmaßlichen Sexualstraftäter aus NRW in einem Chat mit Gleichgesinnten sinngemäß geschrieben haben, wenn sie auch selbst Lust dazu habe. Und das habe sie oft. Zum Zeitpunkt der Taten war das Mädchen keine drei Jahre alt.

Alles zum Thema Herbert Reul

„Was da geschrieben steht, ist zum Teil kaum vorstellbar“, erzählt eine Ermittlerin dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Bei der Dateienanalyse tauche man in eine Welt ein, „die einem normalen Menschen absolut fremd ist, aber andererseits auch wieder genau vor unserer Haustür liegt, in unserer Nachbarschaft, das ist schon erschreckend“.

Männer tauschen sich über Reizwäsche für Kinder aus

Als ginge es um einen Disput über das beste Waschmittel, tauschen sich die Kindermissbrauchs-Netzwerk über Reizwäsche in kleinen Größen aus oder geben Tipps, wo Sexspielzeug für Minderjährige erhältlich sei. In einem Kinderzimmer entdeckte die Polizei eine Kamera über dem Bett. Warum Ehefrauen oder Partnerinnen kein Misstrauen schöpften, ist eine der Fragen, die noch zu klären sind.

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Seit Monaten sind die Ermittler der EG Berg damit beschäftigt, anhand von Chatprotokollen, Videosequenzen, Handynummern oder auch nur Fragmenten Tatverdächtige zu identifizieren, die sich vorwiegend unter Pseudonymen ausgetauscht haben. Der Fokus liegt darauf, eventuell noch laufende Missbrauchsfälle so schnell wie möglich zu beenden, die Kinder zu retten, die Täter zu entlarven und festzusetzen.

Spezial-Software deckt Verbindungen zu Lügde auf

Dabei arbeiten die Beamten mit der Software „Case“. Ein Fallbearbeitungssystem, das wie ein überdimensionaler, besonders übersichtlicher Notizzettel funktioniert: Die Fahnder geben sämtliche Daten und Spuren in den Computer ein. „Case“ sortiert die Eingaben, gleicht sie mit anderen polizeilichen Datenbanken ab, filtert wertlose Informationen heraus und liefert im besten Fall so genannte Missing Links – schließt also Informationslücken und erkennt Zusammenhänge, die zu neuen Ermittlungsansätzen führen.

Auf diese Weise entdeckte die EG Berg auch personelle Querverbindungen zum Missbrauchsfall auf dem Campingplatz im westfälischen Lügde. So fanden sich etwa Kinderpornoaufnahmen in einigen Chatforen, die von den beiden Haupttätern aus Lügde stammten. Mario S. und Andreas V. waren im vergangenen Jahr zu Haftstrafen von zwölf beziehungsweise 13 Jahren verurteilt worden. Letzterer soll seit 1998 Dutzende Mädchen im Alter zwischen vier und 13 Jahren in seinen Wohnwagen gelockt und vergewaltigt haben. Manche Opfer ließ er in einem so genannten Eins-zu-eins-Live-Chat vor laufender Kamera auf Geheiß eines Kunden sexuelle Handlungen vornehmen.

Diese Verbindungen gibt es zwischen den Fällen

Andreas V. stellte bis zu seiner Verhaftung Ende 2018 selbst gedrehtes Kinderpornomaterial in abgeschottete Gesprächsforen ein. Die Aufnahmen nebst Datum kursierten in der Szene und landeten schließlich auch bei Tatverdächtigen aus dem neuen Missbrauchs-Komplex der EG Berg.

Zudem stellten die Strafverfolger personelle Verflechtungen zwischen beiden Verfahren fest: Angehörige von Jörg L., einem inhaftierten Hauptverdächtigen aus Bergisch Gladbach, stammen aus der Gegend um Lügde. Der Großvater des Krankenpflegers soll in den 1980er und 90er Jahren auf dem Campingplatz gelebt haben. Bereits Jahre zuvor saß der Mann im Gefängnis, weil er sich an einer seiner Töchter vergangen hatte.

Ferner veräußerte der Cousin des Beschuldigten aus Bergisch Gladbach einen Wohnwagen an einen der Sexualstraftäter von Lügde. Zufall oder nicht?

Landtag: Ermittlungen müssen als ein Fall behandelt werden

Bisher, betonte der zuständige Kölner Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn, habe es keine Hinweise auf strafrechtlich relevante Zusammenhänge gegeben.

Ungeachtet dessen schlug die Opposition im Landtag am Mittwoch eine Änderung der Ermittlungstaktik vor: Nach Ansicht von Sven Wolf, Rechtsexperte der SPD, ist die Dimension des Missbrauchs möglicherweise noch größer als bislang angenommen. Aufgrund der Querverbindungen müssten die Ermittlungen zu Bergisch Gladbach und Lügde künftig als „ein Fall“ behandelt werden. AfD-Fraktionschef Markus Wagner forderte, dass der Untersuchungsausschuss Kindesmissbrauch um den Tatkomplex Bergisch erweitert werde.

Herbert Reul spricht von einem „ungewöhnlichen Zufall“

Innenminister Reul versuchte hingegen am frühen Mittwochnachmittag, die Aufregung zu dämpfen: Nach seinen Angaben überprüft die Polizei in Bielefeld bereits seit Dezember die „Schnittstellen der Tatkomplexe Lügde und Bergisch Gladbach“. Bisher sei aber noch kein strafwürdiger Zusammenhang erkennbar.

Reul bezeichnete die Kontakte allerdings als einen „ungewöhnlichen Zufall“. Der CDU-Politiker rechnet damit, dass im Zuge der Ermittlungen weitere Zusammenhänge deutlich werden: „Der Fall Lügde war ein Weckruf. Wir knipsen jetzt das Licht an und werden noch mehr schreckliche Dinge sehen, aber auch die Gesichter der Täter.“ Der Einsatz von neuer Auswertetechnik helfe, das Dunkelfeld schneller aufzuhellen. Reuls Fazit: „Bislang haben wir nur die Spitze des Eisbergs gesehen.“