„Alle raus"Whatsapp-Nachricht verhindert in Euskirchen-Roitzheim Schlimmeres
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Euskirchen-Roitzheim – „Wir mussten Prioritäten setzen“, sagt Euskirchens Bürgermeister Sacha Reichelt. In Roitzheim hätten sie sich gewünscht, dass man ihnen das schon in den ersten Tagen nach der Flutkatastrophe so gesagt hätte und vor allem: warum. Denn da fühlten sich die Erft-Anwohner im unteren Teil des Dorfes schlicht im Stich gelassen.
Anwohner warnt Nachbarn vor Hochwasser: „Mir war klar, da kommt eine Katastrophe auf uns zu“
„Mir war klar, was da auf uns zukommt: eine Katastrophe.“ Orhan Aslan lässt kurz die Schubkarre voll Müll stehen und schaut sich in der Straße „Im Erfttal“ um. Vor ihm ist die Brücke über den Bach, der am 14. Juli zum reißenden Strom wurde. „Seit dem Nachmittag stiegen die Abflusspegel in Eicherscheid oder Arloff deutlich an. Das habe ich auf der Webseite des Erftverbandes gut verfolgen können“, so der Anwohner, der an der Uferstraße im unteren Teil Roitzheims wohnt.
Um 22 Uhr teilte er in der Nachbarschafts-WhatsApp-Gruppe die vereinbarte Warnnachricht mit: „Alle raus!“ Da stand die Erftbrücke fast unter Wasser. Auch Nachbar Maik Schulz wusste, dass es jetzt ernst wird: „Wir haben uns über die höher gelegenen Gärten hinter den Häusern gerettet.“ Ein offenbar ungesicherter Hochseecontainer, abgestellt Erft-aufwärts am Sportplatz, kam wenige Stunden später den Bach hinabgeschwommen und schrammte sein Haus: „Das Dach ist verzogen. Ich weiß nicht, ob das Haus noch bewohnbar ist.“
Nach dem Hochwasser in Roitzheim: Selbsthilfe ist das Motto
Mittlerweile sieht es auch in Roitzheim nicht mehr so katastrophal aus wie noch vor einer guten Woche. „Wenn die Landwirte nicht gewesen wären, die mit Vorderladern den Müll rausgefahren hätten, wäre das noch immer anders.“ Ein Anwohner, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, weiß, dass nur so, mit der Dorfgemeinschaft, die dringende Hilfe geleistet werden konnte. Selbsthilfe ist das Motto.
„Dass die Dorfgemeinschaft von Roitzheim da aktiv wurde, ist sehr gut“, sagt Bürgermeister Reichelt, der aufgrund der zu setzenden Prioritäten in einer für ihn unvermeidbar misslichen Situation steckte. In der Flutnacht und in den Tagen danach musste abgewogen werden, wohin die Pioniere der Bundeswehr, die Feuerwehr und das THW zuerst geschickt werden.
Schäden sind woanders noch größer: Pioniere wurden wieder abgezogen
So wurden etwa die Pioniere nach etwa einem halben Tag aus Roitzheim wieder abgezogen: In den Dörfern drumherum sind die Infrastrukturschäden noch wesentlich größer. Nur erklärt wurde das den Roitzheimern offenbar nicht ausreichend.
Auch Wolfgang Kurth, Anwohner an der Lilienstraße, der dorfseitigen Erftuferstraße, ist erst im Laufe der Tage schlauer geworden. Er und die Nachbarschaft im unteren Teil des Dorfes haben immer noch keinen Strom, aber das Trinkwasser soll vor Gebrauch bitte abgekocht werden. Nur wie? Da bewährt sich wieder die Roitzheimer Selbsthilfe.
„Jeden Tag kommt eine Frau aus dem Oberdorf vorbei und bringt uns eine warme Mahlzeit“, staunt Kurth, der für diese Geste keine Worte hat. Er ist einfach nur dankbar. Auch der Feuerwehr, die seine 85-jährige Schwiegermutter aus der unbewohnbar gewordenen Wohnung im Erdgeschoss seines Hauses nach Mechernich in eine Unterkunft evakuiert hat.
Erftbrücke muss erneuert werden
Die Sorgen, die sie hier direkt am Erftufer haben, sind auch mit der Brücke über die Erft verbunden, deren Mittelpfeiler von den Fluten mitgerissen worden ist. Nun muss das Bauwerk wie sieben andere Erftbrücken erneuert werden.
Doch wann das in Roitzheim geschieht, ist noch unklar, so eine Sprecherin der Stadtverwaltung. Elf Gas-Hausanschlüsse im Bereich des Unterdorfes müssen ebenfalls neu verlegt werden, so ein Sprecher des Versorgers e-regio. Erst danach und nach der Neuasphaltierung der Straße zur Erft kann die Brücke neu gebaut werden.
So viele Unwägbarkeiten sind an der Caspar-Müller-Straße im Ortszentrum gerade kein Thema. Hier hat „Tante Ines“ die Lage im Griff. Es müsse ja weitergehen, und da helfe auch Galgenhumor, lacht Ines Uhlenbroich, die in der seit August 2020 geschlossenen Dorfkneipe „Alt Rözem“ eigentlich eine Art Dorfladen betreibt.
Immer mehr Helfer von außerhalb
Seit einer Woche aber ist „Tante Ines Laden“ neben dem Hilfezentrum, das die Stadt im nahen Kindergarten eingerichtet hat, das Zentrum der selbstorganisierten Hilfe. „Wer helfen und spenden will, weiß, dass ich das hier im Griff habe“, sagt sie. Also klingelt ihr Handy, füllen sich die Messenger.
Im alten Schankraum wie im Saal des Dorfgemeinschaftshauses hinter dem Gebäude stapeln sich die Lieferungen. „Die Feuerwehr hat uns 10 000 Liter Mineralwasser gebracht“, freut sie sich. Auch ein Mitarbeiter des Erftverbands hat große Mengen des dringend benötigten Grundnahrungsmittels gespendet.
Gerade fährt Rainer Gernand, Inhaber eines „Rund ums Haus“-Dienstleistungsunternehmens in Euskirchen, mit dem Hänger vor. Er hat die nächste Hilfsmittelspendenfuhre des Unternehmens Procter & Gamble in Euskirchen dabei. Was fehlt? „Toilettenpapier“, sagt Uhlenbroich und fühlt sich an die Lage bei der ersten Corona-Welle erinnert.
Auch nach Roitzheim kommen so mittlerweile die Helfer. Etwa aus Frankfurt, Paderborn, Aschaffenburg oder Leipzig. Oder aus dem nahen Kirchheim wie Gabi. Mehr müsse man von ihr nicht wissen, sagt sie, begibt sich zu den Arbeitern des Gasversorgers am Erftufer unweit der zerstörten Brücke und fragt: „Möchten Sie einen Kaffee?“