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„Ich werde diese Nacht nie vergessen“Euskirchener Landrat Markus Ramers zur Flut

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„In Sachen Hochwasserschutz hat sich leider noch nicht viel getan“, sagt Landrat Markus Ramers.

Kreis Euskirchen – Landrat Markus Ramers will den Jahrestag der Flut auch in Ruhe aufarbeiten. Gleichzeitig sieht er den Wiederaufbau auf einem guten Weg, spricht aber auch Missstände an.

Wie fällt Ihre Bilanz ein Jahr nach der Flutkatastrophe aus?

Ramers: Das Ausmaß der Zerstörung hat mich in den Tagen nach der Flut fassungslos gemacht. Mir kamen einfach nur noch die Tränen, als ich die Menschen vor ihren zerstörten Häusern gesehen habe. Schnell war klar, dass der Wiederaufbau Jahre dauern wird. Aber ich hätte damals nicht gedacht, dass wir jetzt schon so weit sind. Es gibt bereits im ganzen Kreis Lichtblicke – Orte, an denen die Schäden weitgehend behoben sind und das Leben zurückkehrt.

Alles zum Thema Herbert Reul

Welche Lichtblicke stechen heraus?

Insgesamt sind wir im Bereich der Infrastruktur sehr weit. Wir hatten relativ schnell fast wieder alle Straßen befahrbar. Und dass jetzt schon wieder Züge bis Kall fahren, hätte ich zu Beginn auch nicht gedacht. Auch der Wiederaufbau der Gas- und Strominfrastruktur ist relativ schnell gegangen. Bei der Telekommunikation wurde zusätzlich die Chance genutzt, die Anschlüsse direkt mit Glasfaser zu erneuern. Das sind echte Lichtblicke. Darüber hinaus freue ich mich über jeden Betrieb, der wieder produzieren kann, über jedes Geschäft, Hotel und Restaurant, das wieder am Start ist. Und jede Familie, die wieder in ihrem Haus leben kann.

Wo Licht ist, ist meist auch Schatten…

Natürlich sind längst noch nicht alle Betroffenen soweit. Sorge bereitet mir beispielsweise, dass längst noch nicht alle Menschen einen Antrag auf Wiederaufbauhilfe gestellt haben, die die Soforthilfe erhalten haben – auch wenn man die Versicherten davon abzieht. Vor allem haben sehr wenige Betriebe diese Aufbauhilfe beantragt, nicht mal zehn Prozent. Als Kreis haben wir bisher mehr als 5000 Beratungsgespräche für die Flutopfer durchgeführt – und wir werden den Menschen auch weiterhin zur Seite stehen.

Wie haben Sie den 14. Juli in Erinnerung?

Ich werde diese Stunden, diese Nacht nie vergessen. Es ging Schlag auf Schlag. Im Krisenstab hat sich in kürzester Zeit eine immer dramatischere Lage aufgebaut. Die Informationen kamen in Teilen nur bruchstückhaft bis zu uns durch, weshalb uns im Kreishaus lange ein vollständiges Lagebild fehlte. Krankenhäuser ohne Strom, Behälter mit Gefahrgut auf der Erft, die eskalierende Lage an der Steinbachtalsperre, dazu die schwer beeinträchtigte Kommunikation und Menschen auf Hausdächern – das ganze Ausmaß der Katastrophe hat sich erst im Laufe der Nacht wie ein Puzzle zusammengesetzt.

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In der Katastrophennacht leitete Landrat Markus Ramers den Krisenstab im Euskirchener Kreishaus.

Wie für die Einsatzkräfte vor Ort, galt für Einsatzleitung, Führungs- und Krisenstab, dass die Menschenrettung oberste Priorität hatte. Also haben wir die Entscheidung getroffen, die Orte unterhalb der Steinbachtalsperre zu evakuieren. Aber auch da musste ständig improvisiert und nachgesteuert werden. Zunächst waren wir froh, dass die Menschen kurzfristig im Thomas-Eßer-Berufskolleg untergebracht waren. Kurz danach kam die Nachricht, dass auch diese Schule überschwemmt ist. Nächstes Ausweichquartier war dann die Gesamtschule Weilerswist. All das musste innerhalb kürzester Zeit organisiert werden.

Was würde Sie heute anders machen?

Schwer zu sagen, weil ich die Entscheidungen immer auf Basis der mir vorliegenden Informationen getroffen habe. Wir haben frühzeitig Maßnahmen ergriffen und überörtliche Hilfe angefordert. Rückblickend muss man sagen: Wenn wir das Ausmaß der Katastrophe hätten absehen können, dann hätten wir uns natürlich das Befüllen von Sandsäcken gespart und uns frühzeitiger auf Warnungen und Evakuierungen konzentriert.

Was nehmen Sie aus dieser Katastrophe mit - als Landrat, aber auch persönlich?

Wenn ich das vergangene Jahr Revue passieren lasse, dann sind es vier Oberbegriffe, die mir besonders wichtig sind: Verletzbarkeit, Demut, Dankbarkeit und Stolz. Ich glaube, wir alle mussten lernen, wie verletzbar wir sind. Wenn Menschen in ihrem eigenen Zuhause in Gefahr geraten, ist das schlimm.

Auch auf politischer Ebene haben wir lernen müssen, wie Naturgewalten uns in unserem hochzivilisierten Land treffen können. Ich habe vieles, was ich als selbstverständlich erachtet habe, infrage gestellt. Plötzlich leben wir in einer Region, die zeitweise wie ein Kriegsgebiet ausgesehen hat. Das hat auch meine Vorstellungskraft gesprengt. Ich habe mehr Demut gelernt, kleine Dinge wertzuschätzen. Und ich spüre seitdem eine noch stärkere Verbundenheit mit der Region. Ich bin allen Helferinnen und Helfern, egal ob Einsatzkräfte oder Spontanhelfer, unendlich dankbar. Alle haben mit angepackt. Darauf können wir sehr stolz sein.

Haben Sie das Gefühl, dass die Bundes- und Landesregierung die Katastrophe noch auf dem Schirm haben?

Zunächst einmal finde ich es sehr bemerkenswert, dass Bund und Länder sehr schnell einen Wiederaufbaufonds in Höhe von 30 Mrd. Euro freigegeben haben. Ich habe meine Zweifel, dass eine solch gewaltige finanzielle Unterstützung in anderen Ländern möglich gewesen wäre. Anders als vielfach behauptet, sind wir also nicht alleingelassen worden.

Was wir aber auch gelernt haben in den vergangenen Monaten: Die Tatsache, dass Geld zur Verfügung steht, heißt noch lange nicht, dass dieses Geld auch schnell und unkompliziert bei den Menschen ankommt. So unbürokratisch wie versprochen war das Auszahlungsverfahren am Anfang nicht. Aber solch eine Hilfe für Menschen ohne Versicherungsschutz zeigt, dass wir in einem funktionierenden Sozialstaat leben.

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Auch im Flut-Talk der Redaktion zog Landrat Markus Ramers eine erste Bilanz zum Stand des Wiederaufbaus im Kreis Euskirchen.

Die Katastrophe selbst ist – abgesehen vom Jahrestag – sicherlich nicht mehr überall so präsent in den Köpfen wie noch von einem halben oder dreiviertel Jahr. Es ist die Aufgabe aller staatlichen Ebenen, jetzt auch nachhaltige Lehren aus dieser Katastrophe zu ziehen. So gibt es gute Pläne zur Weiterentwicklung des Katastrophenschutzes im Bundesinnenministerium und von NRW-Landesinnenminister Herbert Reul.

Das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Klimawandelvorsorge ist gewachsen. Doch all dies – besserer Bevölkerungsschutz und mehr Klimaschutz - muss jetzt auch zu einer zeitnahen Umsetzung kommen. Und es kann nicht sein, dass dies allein der Job von Kreisen und Kommunen mit ihren überschaubaren finanziellen wie personellen Ressourcen bleibt.

Sind wir als Region besser vorbereitet als vor einem Jahr?

Wir waren im Bevölkerungsschutz auch im vergangenen Jahr für Ereignisse im bisher bekannten Maße gut aufgestellt. Der 14. Juli hat alle Dimensionen gesprengt. Jetzt gilt es, die Lücke nach und nach zu schließen und den Bevölkerungsschutz so auf- und auszubauen, dass wir künftig besser aufgestellt sind. Aber so ehrlich müssen wir sein: Einen hundertprozentigen Schutz vor solchen Naturkatastrophen wird es nie geben können.

In einigen Bereichen sind wir im vergangenen Jahr schon vorangekommen. Ein großes Plus ist sicherlich generell die verbesserte Aufmerksamkeit und Sensibilisierung der Bevölkerung. Dies unterstützen wir noch mit einer neuen Hochwasserbroschüre, die in diesen Tagen an alle Haushalte im Kreisgebiet verteilt wird.

Auch der Aus- und Aufbau der Sirenen läuft gerade. Aktuell liegen 168 Förderanträge aus unseren Kommunen vor, wovon der Bund bereits über 1,3 Mio. Euro zugesagt hat.

Auf dem Gebiet der Kommunikation sind wir deutlich besser aufgestellt, weil wir das Satellitenkommunikationssystem „Starlink“ angeschafft haben. Dadurch verringern wir die Abhängigkeit von nur einem Kommunikationskanal. Bei der psychosozialen Notfallbetreuung sind wir ebenfalls einen großen Schritt weitergekommen.

Neben diesen Sofortmaßnahmen entwickeln wir derzeit ein Maßnahmenpaket, das in umfangreiche Investition in den Bevölkerungsschutz münden soll.

Stichwort Sensibilisierung. Warn-Apps schlagen mittlerweile gefühlt Alarm, wenn es nur wenige Tropfen regnet. Kann ein solches „Warn-Gewitter“ nicht auch dazu beitragen, Warnungen nicht mehr so ernst zu nehmen?

Ja, diese Gefahr besteht. Ich habe das Gefühl, dass mitunter eine gewisse Angst herrscht, auf übergeordneten Ebenen oder beim Deutschen Wetterdienst Verantwortung zu übernehmen und dass Warnungen/Informationen deshalb ungefiltert weitergegeben werden. Für uns ist wichtig, dass Warnungen so klar und konkret wie möglich sind. Und nicht inflationär kommen.

Vor Ort haben wir keine Meteorologen, die die Wetterdaten einordnen können. Es hilft wenig, wenn ich einen Status-quo- Pegelstand erhalte, ohne zu wissen, was das bedeutet und wie es konkret weitergeht. Es ist wichtig, dass die entscheidenden Daten – und nicht einfach alle Informationen – weitergegeben werden. Das führt letztlich dazu, dass die Bevölkerung abstumpft.

Wo haben wir nach einem Jahr noch Nachholbedarf?

In Sachen Hochwasserschutz hat sich leider noch nicht viel getan. Die Bevölkerung erwartet zu Recht, dass man erste Ergebnisse sieht. Es ist zwar richtig, dass Kreis, Kommunen und Wasserverbände jetzt Hochwasserschutzkooperationen gebildet haben, um die Einzugsgebiete der Flüsse von der Quelle bis zur Mündung in den Fokus zu nehmen. Allerdings sind die Förderprogramme des Landes dafür noch nicht ausgelegt. Zudem gibt es noch keine finanzielle Unterstützung für die Kommunen, die sich gegen Starkregen wappnen möchten.

Generell sind die Verfahren ausgesprochen langwierig und kompliziert. Es dauert mir einfach zu lange, bis die Planungen konkret umgesetzt werden. Es muss möglich sein, Sofortmaßnahmen auch sofort umzusetzen – ohne dass man dadurch die finanzielle Förderung verliert. Auf diesem Gebiet haben wir großen Nachholbedarf.

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Auch die vom Land angekündigten Prognose-Tools für Hochwasserereignisse an kleineren Gewässern oder das Cell-Broadcast-System des Bundes für Warnungen aufs Handy stehen uns bisher nicht zur Verfügung.

Eine Sache, die mich auch geärgert hat: Bund und Land stellen uns großzügig Geld für den Wiederaufbau zur Verfügung, aber die zusätzlichen Personalkosten für Verwaltungen werden nicht übernommen. Viele Mitarbeitende in den kleineren Verwaltungen arbeiten seit Monaten am Limit.

Was machen Sie an diesem 14. Juli?

Mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser und NRW-Innenminister Herbert Reul werden wir eine Gedenkstunde am Kreishaus abhalten. Wir haben hier eine Gedenkstele für die Opfer der Flut errichten lassen, die am 14. Juli im Beisein vieler Einsatzkräfte enthüllt wird. Am Gedenkgottesdienst mit Bundespräsidenten Steinmeier und Ministerpräsident Wüst nehme ich ebenfalls teil.

Im Anschluss, wie auch an den Tagen danach, werde ich im gesamten Kreis bei verschiedenen Gedenkveranstaltungen dabei sein. Ich möchte mir aber auch die Zeit nehmen, durch betroffene Orte in Ruhe und ohne mediale Begleitung zu spazieren und das Geschehene Revue passieren lassen.