Leichlingen – Dominik Lange ist seit seinem zwölften Lebensjahr bei der DLRG im Einsatz, mit Booten in manches Hochwasser gestartet und als Strömungsretter im Neoprenanzug in viele reißende Gewässer abgetaucht. Als Notfallsanitäter hat der 38-Jährige auch beruflich ungezählte Unfälle, Brände und Tragödien erlebt. Aber das, was er in der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 in Leichlingen beim Kampf um Menschenleben in dem brennenden Haus an der Neukirchener Straße durchlitten hat, geht über alles hinaus, was er bislang verkraftet hat.
„Selbst erfahrene Einsatzkräfte sind in dieser besonderen Nacht an ihre Grenzen gestoßen und darüber hinaus gegangen“, sagt der Familienvater. Das Geschehen dieser schrecklichen Nacht hat er aufgeschrieben – auch um sich die Eindrücke von der Seele zu schreiben, die ihn noch lange danach verfolgt haben. Sein Erfahrungsbericht ist das eindrücklichste Dokument der Hochwasser-Katastrophe, die als Unglück des Jahrhunderts in die Stadtgeschichte eingehen wird. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ veröffentlicht das Zeitzeugnis daher heute leicht gekürzt.
„Hätte sich jemand meine Erlebnisse als Übung ausgedacht, hätte ich ihn gefragt, ob er eine etwas zu blühende Fantasie hat!“ blickt Lange auf den Einsatz zurück: „Was ich in dieser Nacht erlebte, habe selbst ich mir nicht vorstellen können.“ Es begann mit einer SMS-Alarmierung, die den Ehrenamtler an jenem Mittwoch um 16 Uhr auf dem Handy erreichte. An dem Tag regnete es stark, aber Lange ging bei dem Hilferuf aus Leichlingen zunächst noch von einem gewöhnlichen Einsatz aus.
Es kam anders. Der 38-Jährige schildert, was dann geschah:
Ich verabschiedete mich von meiner Familie mit den Worten „Tschüss und bis später!“, setzte mich in mein Auto und machte mich auf den Weg zum Stützpunkt der Wasserrettung. Schon auf dem Weg dorthin sah ich überschwemmte Straßen und Bäche, die zu Flüssen angeschwollen waren.
Zur Person
Dominik Lange (38) ist seit 1995 ehrenamtlich bei der DLRG, stellvertretender Einsatzleiter und Strömungsretter der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft im oberbergischen Lindlar, Einsatzleiter in Köln und im Rheinisch-Bergischen Kreis aktiv. Der gelernte Dachdeckergeselle arbeitet hauptberuflich seit 18 Jahren als Notfallsanitäter im Rettungsdienst. Die Hobbys des Familienvaters sind neben der DLRG seine Kinder, sein Boot, Wasserski und er taucht und klettert gerne. (hgb)
Ich telefonierte kurz mit einer langjährigen Freundin, die in der Nähe der Wupper in Opladen wohnt, ob die Straße noch passierbar sei. Sie sagte, dass die Wupper zwar sehr voll sei, aber noch viel Luft nach oben wäre. Da hätten wir beide wohl nicht gedacht, dass auch ihr Haus, später in der Nacht, ein Opfer der Fluten werden würde...
Nach 40 Minuten und einigen Umwegen erreichte ich unseren Stützpunkt. Ich zog mich sofort um und rüstete mich als Strömungsretter aus. Kollegen trafen ein und bildeten mit mir einen Trupp. Sofort rückten wir aus. Der erste Einsatz brachte uns nahe Witzhelden. Hier hatte ein kleiner Bach einen Bauernhof hüfttief überspült. Schafe drohten zu ertrinken, wurden von der Feuerwehr gerettet und wir brachten das alte Bauernpaar mit Hilfe eines „Raft“ in Sicherheit zu den Nachbarn.
Sofort ging es für uns weiter. Wir fuhren in ein zwei Kilometer entferntes Altenheim, welches drohte vollzulaufen. Dort angekommen fanden wir ein ertrunkenes Schaf von dem Bauernhof, wo wir kurz zuvor noch waren. Mittlerweile hatte sich die Situation an der Wupper verschlimmert. So fuhren wir in eine Ortschaft oberhalb von Leichlingen. Dort stand das Wasser stellenweise über einen Meter tief.
Suche nach zurückgelassenen Tieren
Trotz eindringlicher Aufforderungen weigerten sich einige Bewohner, ihre Häuser zu verlassen. Dort wo es ging, evakuierten wir Menschen, ebenso Hunde und Katzen. Während der Suche nach einem zurückgelassen Hund entdecken wir einen verzweifelten alten Mann, der brusttief im Wasser stand. Sowohl ihn als auch den Hund konnten wir vor den steigenden Fluten retten. Irgendwann mussten wir die Evakuierung abbrechen, da der Strom durch den Energieversorger nicht abgestellt werden konnte. An anderer Stelle retteten wir Menschen aus ihren Autos oder von deren Dächern, oder von einem Campingplatz nahe der Wupper. Manche brachten sich selbst in Gefahr. So holten wir um 0 Uhr zwei Männer von einer bereits überfluteten Wupperbrücke.
Irgendwann mussten wir das Raft gegen ein Hochwasserboot mit Motor eintauschen, da das Wasser und die Strömung so sehr zunahmen. Wir fuhren immer wieder Adressen im überfluteten Bereich an, auf der Suche nach „Lost Contacts“ – Menschen, die von Angehörigen nicht erreicht werden konnten. Wir brachen Türen oder Fenster auf und durchsuchten die überfluteten Häuser.
Auf einem dieser Einsätze erreichte uns ein Hilferuf aus einem nahe gelegenen Haus. Dort angekommen, sahen wir Taschenlampen im zweiten Obergeschoss. Wir legten unser Boot an einem Haltestellenschild fest und stiegen aus. Das Wasser stand uns dort wortwörtlich bis zum Hals. Wir schwammen zum Eingang auf der Rückseite und riefen, dass uns jemand öffnen sollte. Eine Frau antwortete, dass sie zur Haustür komme. Im Schein meiner Lampe bemerkte ich, dass so etwas wie Trockeneisnebel aus dem Türspalt waberte. Auch hörte ich ein seltsames Brummen. Merkwürdig, denn der Strom war ja abgestellt. Die Frau öffnete die Türe und ich trat einen Schritt in den Hausflur. Dort sah ich, wie ein medizinischer Sauerstofftank im Wasser trieb und seinen Inhalt abblies. In der gesamten Wohnung lag ein Sauerstoffnebel über der Wasserfläche, gepaart mit dem bestialischen Gestank von ausgelaufenem Heizöl.
Neben mir stand eine ältere Dame, eine weitere Frau auf dem Treppenabsatz. Ich forderte beide auf, mit uns das Haus zu verlassen. Sie entgegneten, dass wir noch den Mann aus dem zweiten Stock holen müssen. Ich sagte, wir würden erst sie in Sicherheit bringen und dann ihren kranken Mann holen. Dem stimmte sie zu. Sie wollte gerade die Treppe zu uns runterkommen, als das Unvorstellbare passierte. Die Frau auf der Treppe sah mich an und sagte, hinter mir würde es anfangen zu brennen. Ich drehte mich um und sah wie ein heller Funke aufs Wasser fiel. Dann ging alles ganz schnell. Ich griff mir die Dame, die uns die Tür geöffnet hatte, zog sie mit mir vor die Haustür und schloss diese hinter mir. Im gleichen Moment gab es eine heftige Explosion. Wir zogen uns mit der Geretteten in den Vorgarten zurück und hörten dort die Schreie der Frau im Hausflur. Ich war mir sicher, ihr beim Sterben zuhören zu müssen. Auf Hilfe brauchten wir auch nicht warten. Wir waren die einzigen zu diesem Zeitpunkt, die das Haus erreichen konnten. Wir fühlten uns in diesem Moment unglaublich hilflos. Im kompletten Untergeschoss brannte das Wasser und das Feuer breitete sich rasend schnell aus. Geistesgegenwärtig rief mein Kollege, sie solle auf den Balkon gehen.
Ich hätte nie erwartet, dass sie das schafft. Doch einen Moment später sahen wir die Frau an einem Fenster zum Balkon. Mein Kollege kletterte über ein Rankgitter auf den Balkon und ich folgte ihm, während unser dritter Mann bei der unverletzten Frau im Vorgarten blieb. Auf dem Balkon sahen wir, wie schwer verbrannt die alte Dame war. Wir zogen sie aus dem Fenster, da sie das aus eigener Kraft nicht schaffte. Dann sprangen wir mit ihr über das Balkongeländer gemeinsam ins Hochwasser. Wir ließen sie niemals los. So schwammen wir dann mit beiden Frauen, vorbei an ihrem brennenden Haus, zu unserem Boot. In diesem Moment wussten wir alle, dass wir ihren Mann verloren hatten...
Es war ein unglaublicher Kraftakt, beide Frauen aus dem strömenden Wasser ins Boot zu hieven. Doch es gelang uns. Wir fuhren so schnell es ging an Land, versorgten die verbrannte Frau, bis wenig später ein Rettungswagen eintraf. Dann rüsteten wir unser Boot mit einer Pumpe der Feuerwehr aus und schützten bis in die Morgenstunden das Nachbarhaus vor einem Übergreifen des Feuers, während mittlerweile eingetroffene Kollegen mit Boot eine junge Familie mit Kleinkind und ein älteres Ehepaar aus den angrenzenden Häusern evakuierten.
Das Haus brannte bis auf die Grundmauern nieder, bis ein Löschhubschrauber das Feuer eindämmen konnte. Die Bilanz dieses Abends: Einen Menschen konnten wir nicht mehr retten. Aber allein mein Trupp hat mindestens zehn Menschen vor dem Ertrinken gerettet, neben diversen Hunden und Katzen. Zwei Menschen konnten wir vor dem sicheren Tod durch Verbrennen retten. Von den unzähligen Geretteten der anderen Trupps gar nicht gesprochen.“
Ausrüstung auf eigene Kosten
Dominik Langes Bericht endet mit dem Hinweis, dass alle diese Hilfseinsätze ehrenamtlich erfolgten und die Aktiven der DLRG sogar einen Mitgliedsbeitrag zahlen, damit sie Leben retten können. Auch ihre Ausrüstung müssen sie teilweise auf eigene Kosten anschaffen.
Dass die Vereine in anderen Bundesländern staatliche Unterstützung erhalten, wurde auch NRW-Heimatministerin Ina Scharrenbach deutlich gemacht, als sie sich nach der Katastrophe mit den Helfenden in Leichlingen getroffen hat.
Nach der Flutnacht war Langes persönliche Schutzausstattung kontaminiert und musste komplett entsorgt werden. Den Ersatz habe in dem Fall die Unfallversicherung der Stadt Leichlingen bezahlt. Sein Report, wünscht sich Lange, solle Freiwillige auch dazu bewegen, ebenfalls „einer solch überragenden Truppe“ beizutreten.