Leverkusen – Etwas ist passiert seit dem 27. Juli vorigen Jahres. Es ist spürbar Vertrauen geschwunden bei den grundsätzlich Chemie-affinen Leverkusenern, nachdem in der Sondermüll-Verbrennungsanlage ein Tank explodiert war. Sieben Menschen kamen bei dem dadurch ausgelösten Großbrand ums Leben.
Das liegt nicht nur daran, dass auch nach einem Jahr noch nicht geklärt ist, wie es zu der Katastrophe kommen konnte, bei der weitere 31 Menschen verletzt wurden. Zumindest hat die Kölner Staatsanwaltschaft noch keine Anklage verfasst. „Die Auswertung der Unterlagen dauert noch an“, sagte jetzt auf Anfrage Lisa Klefisch, Sprecherin der Behörde. Vier Mitarbeiter der Betreiberfirma Currenta stehen im Fokus. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung in sieben Fällen und Herbeiführen einer Explosion. Seit April haben die Strafverfolger eine weitere Person auf dem Schirm. Konkreter werde das Ganze mutmaßlich in etwa drei Monaten, ergänzte Klefisch.
Currentas Chefs zeigen sich – und schweigen
Misstrauen, vereinzelt auch Wut, ist dadurch entstanden, dass dessen ungeachtet die havarierte Anlage schon vor mehr als sechs Wochen wieder angefahren wurde. Und das erst danach in einer Bürgerversammlung erläutert wurde. Übrigens nicht von den Currenta-Chefs. Die saßen schweigend in der ersten Reihe in der Bürgerhalle, einem Bayer-Bau zwischen Chempark und dem heutigen Landesgartenschau-Gelände, das einen Teil der eingesargten Leverkusener Giftmüll-Deponie abdeckt. Das Wort auf der Versammlung führte Christian Jochum, und der war „nicht glücklich“ über die Reihenfolge, sagte er jetzt dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Den früheren Chef der Störfall-Kommission hat Currenta auf Anraten der Bezirksregierung an Bord geholt. Mit einem ganzen Team – und auf Rechnung von Currenta – arbeitet der Professor, der am Beginn seiner Karriere beim längst untergegangenen Chemie-Konzern Höchst für die Sicherheit verantwortlich war, die größte Leverkusener Chemie-Katastrophe nach dem Zweiten Weltkrieg auf.
Ein öffentliches Gremium hinter verschlossenen Türen
Das soll eigentlich öffentlich und transparent geschehen. Aber ob der „Begleitkreis“ diesem Anspruch gerecht wird – darüber wird seit der ersten Sitzung im Januar gestritten: Die Experten stellten die Zwischenergebnisse jeweils in Zoom-Meetings vor, zu denen außer Behördenvertretern Politiker aus dem Leverkusener Stadtrat zugelassen wurden – und einige Bürger. Handverlesen, über die Kriterien, nach denen die Einladungen verschickt wurden, hat Jochum erst jetzt Rechenschaft abgelegt: „Wir haben uns auf Zurufe von Currenta verlassen“, sagte er. „Das würde ich so nicht mehr machen.“
Denn das Resultat sah so aus: Längst nicht jeder durfte an den Diskussionen teilnehmen, anfangs wurden auch Anwohner abgewiesen. Der Bürriger Helmut Roth ist einer von ihnen. Bezeichnend auch, dass der BUND nicht mitmachen wollte im Begleitkreis. Und Medien? Waren auch nicht erwünscht. Die Öffentlichkeitsarbeit machten und machen die Experten lieber selbst: Auf einer Internetseite stellen sie ihr Material regelmäßig vor. Darüber, wie Kritiker ihre Arbeit bewerten, kein Wort.
Die Rauchwolke zog bis ins Ruhrgebiet
Sehr ausführlich äußerte sich Jochum hingegen dazu, wie es nach seinen Erkenntnissen zu dem Unglück kommen konnte, in dessen Folge vor einem Jahr eine gigantische Rauchwolke bis ins Ruhrgebiet zog, in einem Umkreis von mehreren Kilometern Ruß in den Gärten niederging und Tausende tagelang Angst hatten, mit Dioxin verseucht worden zu sein.
Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft ist der Chemiker inzwischen sicher, dass ein aus Dänemark angelieferter Chemiemüll in Leverkusen nicht richtig behandelt wurde. Und zwar wegen falscher Daten: „Die Mitarbeiter am Ofen waren über die Gefährlichkeit des Stoffes nicht informiert.“ Die Substanz habe sich in einem 50 Kubikmeter fassenden Tank immer weiter erhitzt, bis der am Ende explodierte und den Großbrand auslöste.
Der Behälter war Teil einer Batterie aus sechs riesigen Tanks, in der alle möglichen flüssigen Substanzen zwischengelagert werden, bevor sie in zwei Drehrohr-Öfen verbrannt werden. Mit dem Import hochproblematischer Abfälle aus ganz Europa verdient die frühere Bayer-Tochter Currenta eine Menge Geld. Ein Drittel des dort verbrannten Chemie-Mülls stamme von weit her, heißt es beim Betreiber.
Ursprünglich nur für Bayer
Dabei war die Anlage am Rhein nahe der Autobahn 1 ursprünglich nur gebaut worden, um dort den Teil der Abfälle aus dem Bayerwerk zu verbrennen, der nicht auf die benachbarte Deponie darf. Die wird bis heute rege genutzt – der undefinierbare Gift-Cocktail, den Bayer zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in ein großes Loch am Rhein kippte, lagert ein paar Meter weiter im Untergrund. Eine riesige Wand und Grundwasserpumpen sollen verhindern, dass Gift in den Fluss gelangt, aus dem ein paar Kilometer entfernt Trinkwasser gewonnen wird. Zum gut fünf Jahrzehnte alten „Entsorgungszentrum“ gehört zudem eine Kläranlage, die Currenta gemeinsam mit dem Wupperverband betreibt, der dort nicht nur das Abwasser Leverkusener Haushalte behandelt, sondern aus der ganzen Region.
Zum Glück liegt das Klärwerk nebenan
Das Klärwerk nebenan war nach der Katastrophe vom 27. Juli 2021 ein Segen für Currenta: In den dortigen Tanks wurden insgesamt an die 40.000 Tonnen Löschwasser aufgefangen, in denen sich alle möglichen chemischen Substanzen befanden. Schon einen Tag nach dem Großbrand ließ Currenta 9500 Kubikmeter Wasser erst durch Aktivkohle-Filter ins Klärwerk und dann in den Rhein ab. Darin: rund 70 Kilogramm des Insektengifts Clothianidin, das in Europa längst nicht mehr verkauft werden darf. Woher die Substanz kam, das ist bis heute nicht restlos geklärt.
Misstrauen erregte aber auch, dass sich Currenta am 28. Juli 2021 keineswegs – wie es zuerst behauptet wurde – eine Genehmigung der Aufsichtsbehörden geholt hatte. Monate später wurde vielmehr klar, dass die Firma eigenmächtig gehandelt, der Bezirksregierung und dem Umweltministerium des Landes erst später Bescheid gesagt hatte. Kontrolle sieht anders aus. Rhein-Alarm wurde übrigens auch nicht ausgelöst.
Sieben Tote, 31 Verletzte: Die Explosion vor einem Jahr ist die schlimmste Chemie-Katastrophe in Leverkusen nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Gedenken ein Jahr danach fällt indes diskret aus. Zum Jahrestag ist eine Schweigeminute um 9.37 Uhr geplant – da ging der Tank 3 am Sondermüllofen in Bürrig in die Luft – und eine Veranstaltung für die Kolleginnen und Kollegen, die Angehörigen sowie die Freunde und Bekannten der Opfer, erklärt ein Sprecher von Currenta auf Anfrage. Sonst nichts. Weil Oberbürgermeister Uwe Richrath den Verantwortlichen im Chempark nicht im Weg stehen will, wird der Jahrestag in der Stadt heute kaum zu bemerken sein.
Zu den Opfern hört man nichts, Namen hat Currenta auch intern nicht genannt. Zu einer ersten Gedenkfeier gut sechs Wochen nach dem Unglück hatte das Unternehmen ausschließlich über Soziale Medien eingeladen.
Diesmal wird die Trauer noch dezenter sein. Man stehe mit den Angehörigen in Verbindung und unterstütze sie im Rahmen des Möglichen, so ein Sprecher. Das schließt Geldzuwendungen ein: „Das tragische Ereignis im Juli 2021 hat das Leben der Angehörigen von Grund auf verändert. Der Verlust eines Menschen ist nicht mit Geld aufzuwiegen – das ist uns bewusst. Dennoch war und ist es uns wichtig, die Angehörigen bereits vor Abschluss der Ermittlungen auch finanziell zu unterstützen.“
Kurz vor Weihnachten musste der Betreiber einräumen, dass seit der Havarie unbemerkt 1300 Kubikmeter Löschwasser aus einem Tank gesickert waren. Das sei aber nicht direkt in den Rhein gelangt, sondern zunächst ins Klärwerk, hieß es beschwichtigend aus Leverkusen. Doch erstmals demonstrierte die Kölner Bezirksregierung, die sowohl für die Genehmigung als auch die Überwachung des Anlagen-Konglomerats zuständig ist, Entschlossenheit und zeigte Currenta wegen des Verdachts auf „Schädigung eines Gewässers“ an. Ein Straftatbestand.
Nachträgliche Trinkwasserproben
Solche Ungereimtheiten führten im Februar dazu, dass die Energieversorgung Leverkusen sicherheitshalber dann doch das Trinkwasser beproben ließ, das sie unweit der Unglücksstelle aus Rheinuferfiltrat gewinnt. Übrigens mit Zulieferung aus dem Wasserwerk von Currenta. Warum es von dort keine Informationen gab? Der Versorger kann es sich nicht erklären. Eine Anzeige gab es auch vom Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland, ebenfalls wegen des Umgangs der Verantwortlichen mit dem „Ereigniswasser“. Diesen Begriff prägte Currenta nach der Havarie. Herausgekommen ist dabei bisher nichts.
Wie engmaschig der Betreiber einer der größten Sondermüll-Verbrennungsanlagen in Europa von der Bezirksregierung kontrolliert wird? Darüber gab es seit der Explosion immer wieder eher beunruhigende Nachrichten. Etwa diese: Die letzte Kontrolle vor der Katastrophe war lediglich eine nach Aktenlage. Wegen der Corona-Pandemie hatten die Kölner Prüfer auf die sonst zwingend erforderliche Begehung verzichtet. Sie sollte vorigen August nachgeholt werden. Zu spät, wie man weiß. Auch das Prüfintervall hatte die Bezirksregierung auf das Maximum ausgedehnt, obwohl das Entsorgungszentrum mehr als 50 Jahre alt ist. Begründung: Bei den bisherigen Prüfungen habe es ja keine gravierenden Mängel gegeben.
Zu dem, was scheibchenweise zu dem Unglück ans Licht kam, hat Currenta – das Unternehmen gehört seit drei Jahren dem australischen Finanzinvestor Macquarie – von sich aus kaum etwas beigetragen. Immer noch werden Anfragen mit Hinweis auf die laufenden Ermittlungen nicht oder nur in Teilen beantwortet. Die Bitte um ein Interview zum Jahrestag beschied Currenta abschlägig, auch der Diskussion mit den Bürgern gehen die Verantwortlichen bisher aus dem Weg.
Dass die Unglücksanlage – mit einem Ofen und 31 Stoffen, die ausschließlich von ehemaligen Bayer-Töchtern und anderen Unternehmen kommen, die als verlässlich gelten – Mitte Juni wieder angefahren wurde, erfuhren Anwohner aus Handzetteln. Eine Internetseite, die Currenta Wochen nach der Katastrophe freischaltete, blendet genauso jede Kritik aus wie eine Ausstellung zu dem „Ereignis“. Von diesem Begriff, der maximale Distanziertheit zum 27. Juli 2021 dokumentiert, hat sich das Unternehmen bis heute nicht gelöst. In Leverkusen fragen sich viele, wie „Mutter Bayer“ sich so verändern konnte.