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Ein anderer Blick?Was der Fall Lüdge bei Polizei und Jugendämtern verändert hat

Lesezeit 5 Minuten
Absperrung Lüdge

Nordrhein-Westfalen, Lüdge: Polizeiabsperrung steht auf einem Absperrband der Polizei, die das Gebäude auf dem Campingplatz Eichwald, eingrenzt. Auf dem Campingplatz in Lügde im Kreis Lippe waren Kinder für Pornodrehs missbraucht worden. 

Lüdge – Zuerst Lügde, später dann Bergisch Gladbach - erschütternde Fälle von schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern haben 2019 Öffentlichkeit und Politik aufgerüttelt. Vor rund einem Jahr - Ende Januar - informierte die Polizei des Kreises Lippe bei einer Pressekonferenz über hundertfachen Missbrauch von Kindern auf einem Campingplatz bei Lügde. Die Taten machten sprachlos - auch die Ermittler von Polizei und Staatsanwaltschaft. Kurz danach entpuppte sich der Fall auch als Behörden- und Polizeiversagen.

Hinweise auf den Haupttäter - ein Camper, der seine Pflegetochter missbrauchte und als Lockvogel für andere Kinder einsetzte - soll es schon Monate vorher gegeben haben. Bei der Polizei des Kreises Lippe wurden zahlreiche Posten neu besetzt. Die Ermittlungen wechselten schnell an das Polizeipräsidium Bielefeld. Der Fall sorgte bis in die Landespolitik für ein Beben, das bis heute nachwirkt.Was hat sich für Ermittler und die Mitarbeiter in den Jugendämtern verändert?

Fehler an verschiedenen Stellen

„Nach Lügde ist folgendes zu sehen: Es sind Fehler passiert, an verschiedenen Stellen. Und es gibt auch Gründe, kritisch nachzufragen. Wir wurden alle aufgeschreckt und jeder reflektiert auch bei sich mögliche Fehlerquellen“, sagt Karl Materla von der Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) der Deutschen Presse-Agentur. Aber jetzt sei zweierlei wichtig: „Wir müssen schauen, mit welchen Strukturen waren wir unterwegs. Und dazu gehört die Qualifikation der Mitarbeiter und welche Arbeits- und Rahmenbedingungen brauchen wir?“

Alles zum Thema Herbert Reul

Materla vertritt als ASD-Bundesvorsitzender die Interessen von Mitarbeitern in den Jugendämtern der Kommunen. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es in diesem Bereich über 3700 Stellen. „ASD-Arbeit war in der Politik lange nicht das Kernthema. Ich bin aber positiv gestimmt. Das Land hat seine Verantwortung erkannt und steht jetzt im Wort“, sagt Materla, ehemaliger Leiter des Kommunalen Sozialdienstes (KSD) der Stadt Münster.

Präventive Arbeit

„Minister Stamp hat im Juli ein Impulspapier präsentiert. Darin ging es auch um Fortbildung, Ausbildung, Studium und präventive Arbeit. Es ist gut, dass das Land nach Lügde nicht nur den Einzelfall im Blick hat, sondern auch die Strukturen“, sagt Materla. Zudem fordert der Experte bessere Warnmechanismen: „Und zwar auch im Zusammenspiel mit Polizei, Staatsanwaltschaft und dem Gesundheitswesen.

Wir müssen alle vorliegenden Informationen koordinierter beraten. Einzeln betrachtet sind Hinweise oft unscheinbar.“Das Landgericht Detmold verhängte im September eine Freiheitsstrafe von 13 Jahren gegen den 56-jährigen Andreas V. Der 34-jährige Mario S. erhielt 12 Jahre. Beide wurden wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt. Das Gericht ordnete außerdem die anschließende Sicherungsverwahrung für die beiden Deutschen an. Ein 49-Jähriger aus Stade in Niedersachsen erhielt im Juli wegen Anstiftung und Beihilfe eine zweijährige Haftstrafe auf Bewährung.

Strafrechtliche Folgen offen

Ob der Fall auch strafrechtliche Folgen für Polizisten und Mitarbeiter in Jugendämtern in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben wird, ist noch offen, die Ermittlungen stehen vor dem Abschluss. „Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, Fachkräfte der Jugendhilfe sind frei von strafrechtlichen Konsequenzen“, sagt Materla. Aber jede strafrechtliche Ermittlung löse in den Jugendämtern Besorgnis aus, die Dominanz des Kinderschutzes auf den Alltagsbetrieb werde allseits beklagt.

„Es kann nicht gewollt sein, dass Jugendämter aus Lügde das Fazit ziehen, nur rigide und schnelle Eingriffe schafften Sicherheit im Kinderschutz. Das Primat der Hilfe vor Intervention muss in der Sozialarbeit weiter Vorrang haben.“Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes müssen Jugendämter immer häufiger die Gefährdung von Kindern bewerten. Waren es bundesweit 2017 noch 143 275 Fälle, so stieg die Zahl 2018 um fast 10 Prozent auf 157 271 an.

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Intensiv hat in NRW auch Ingo Wünsch mit der Thematik zu tun. Er wurde von Innenminister Herbert Reul (CDU) zum Sonderermittler im Fall Lügde ernannt. Seit April 2019 leitet er zudem die neue Stabstelle Kindesmissbrauch im NRW-Innenministerium. „Wir haben heute einen völlig veränderten Blick auf das Thema Kinderpornografie und sexuellen Missbrauch“, sagt der Kriminaldirektor über die Arbeit der Ermittler im Land. Kinderpornografie sei zu einem der kriminalpolizeilichen Schwerpunkte geworden - etwa neben Clankriminalität, Rechtsextremismus und Terror.

Zudem wurde umgeschichtet. „Heute arbeiten in allen Kreispolizeibehörden 230 Ermittlungskräfte an den Ermittlungen. Zuvor waren es 104. In den Behörden wurde entschieden, von wo Personal umgeschichtet wurde“, so Wünsch. Zusätzlich gibt es 74 Stellen für IT-Ermittlungsberater, die den Kreispolizeibehörden zugewiesen wurden. Auch Planstellen für den Komplex beim LKA wurden aufgeschichtet.

Psychische Belastung

Wünsch verweist auf eine technische Voraussetzungen, die Ende 2020 abgeschlossen sein soll: Die Daten sollen zentral zusammenlaufen und von Ermittlern im Land zeitgleich bearbeitet werden. „Vor Lügde hatten wir Behörden-Inseln, die auf sich alleingestellt ermitteln mussten.“ Für die betroffenen Ermittler ist die Arbeit indes eine harte psychische Belastung. „Das ist persönlich, inhaltlich und kriminalistisch eine enorme Herausforderung, sich jeden Tag mit diesen menschlichen Abgründen in Wort, Bild und Ton auseinandersetzen zu müssen“, sagt Wünsch.

Und auch das hat Konsequenzen, Weglaufen vor dem Psychologen wie im TV-Krimi gebe es nicht. Wünsch zur der Deutschen Presse-Agentur: „Wir haben klare Standards bei der psychologischen Betreuung festgelegt. Supervision für die Kolleginnen und Kollegen ist verpflichtend. Hier gibt es keine Wahl. Und die Vorgesetzten haben die Aufgabe, Belastungen frühzeitig zu erkennen und einzugreifen.“ (dpa/lnw)