Ein Arzt in Charkiw, einer in OberbergHitzewelle macht Menschen in der Ukraine zu schaffen

Lesezeit 37 Minuten
Der Psychiater Igor Prudkov telefoniert mit seinem Freund Dr. Vitaliy P. in Charkiw. Dieser ist auf dem Handybildschirm zu sehen, den Prudkov in der Hand hält.

Igor Prudkov, der im Gummersbacher Krankenhaus als Psychiater arbeitet, telefoniert regelmäßig mit seinem Freund und Dr. Vitaliy P. aus Charkiw.

Auch im zweiten Teil unseres Blogs erzählen zwei Studienfreunde regelmäßig von ihren Erlebnissen zum Angriffskrieg Russlands in der Ukraine.

  1. Zahlreiche Hilfstransporte mit Medikamenten sind seit Kriegsbeginn aus Oberberg in die ostukrainische Stadt Charkiw gefahren.
  2. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine war zu Beginn stark vom Angriffskrieg Russlands betroffen. Inzwischen wurde die Stadt wieder etwas freigekämpft.
  3. Der Kontakt kam durch zwei Studienfreunde zustande – einer ist Arzt in der Ukraine, der andere in Oberberg.
  4. In unserem Blog erzählen die beiden regelmäßig von der Lage im Krankenhaus in der heftig umkämpften Stadt, aus der Ferne in Oberberg und von ihren Eindrücken im Krieg.

Im zweiten Teil unseres Online-Blogs (ab dem Jahr 2024) erzählen zwei Studienfreunde im Gespräch regelmäßig von ihren Erlebnissen zum Angriffskrieg Russlands in der Ukraine.

Igor Prudkov (Oberberg) hat für Dr. Vitaliy P. (Charkiw) und seine Kollegen seit Kriegsbeginn zahlreiche Transporte mit Medikamenten in Oberberg zusammengestellt und die Lieferung durch gefährliches Gebiet organisiert.

Während P. den Krieg und seine Verletzungen aus nächster Nähe erlebt und das Krankenhaus kaum noch verlässt, hilft Prudkov nicht nur aus der Ferne, sondern auch den in Oberberg ankommenden Landsleuten.

Alles zum Thema Angela Merkel

Zum ersten Teil unseres Online-Blogs mit Berichten aus den Jahren 2022 und 2023 geht es hier

Mittwoch, 17. Juli

Dr. Vitaliy P.

Die Internetverbindung an diesem Mittwochnachmittag ist schlecht, als Dr. Vitaliy P. aus der ukrainischen Stadt Charkiw seinen Gummersbacher Freund Igor Prudkov anruft. Per Video am Bildschirm sehen können sich die beiden an diesem Tag nicht, sonst würde die Verbindung sofort zusammenbrechen. Denn: Der Strom in Charkiw ist durch die ständigen Bombardierungen und die damit verbundenen Reparaturarbeiten sowie Sparmaßnahmen mal wieder ausgefallen, berichtet der Gefäßchirurg am Telefon. 

Darüber hinaus macht ihm aber auch die Hitze weiterhin zu schaffen, die sich seit einiger Zeit in der Ukraine breit gemacht hat und alle schwitzen lässt. 39 Grad zeigt auch an diesem Tag wieder das Thermometer an. Die Klimaanlagen laufen wegen des Stromausfalls nach wie vor auf einem absoluten Minimum. In der Klinik, in der P. arbeitet, wird sie über das Notstromaggregat betrieben. Kühle Luft bekommen allerdings nur die Patienten, denen es wirklich schlecht geht. Alle anderen müssen, obwohl sie krank sind, irgendwie mit der Hitze klarkommen. 

Dr. Vitaliy P., Arzt aus Charkiw, ist im Rahmen eines Videotelefonats auf einem Handybildschirm zu sehen.

Per Videotelefonat mit seinem Gummersbacher Freund berichtet Dr. Vitaliy P. aus Charkiw von den dortigen Kriegsereignissen.

Schon vor längerer Zeit waren zwei große Elektrizitätswerke in Charkiw bei Anschlägen durch die russischen Soldaten getroffen worden. „Das bedeutet, dass uns seit April keine Energie mehr aus diesen beiden Werken zur Verfügung steht“, erläutert P. am Telefon. Man sei für Strom aktuell auf Atomkraftwerke angewiesen. „Und natürlich bereiten wir uns schon jetzt auf den Winter vor, denn damals hatten wir noch die Energiewerke zusätzlich zur Verfügung. Dieser Winter wird noch härter als die letzten beiden Winter im Krieg“, befürchtet der Arzt.

Der Krieg habe sich stark verändert. „Er ist zu einem Krieg der Drohnen geworden. Panzer sieht man nur noch selten. Nun kommen die Angriffe nicht nur aus der Luft, sondern die Ziele werden wegen der Drohnen auch präziser getroffen“, erklärt der Gefäßchirurg die Lage in Charkiw. Viele Soldaten hätten ihre Lager in Bunker und Keller unter die Erde verlegt. „Zumindest ist es dort unten nicht allzu heiß“, so P. müde. Die Drohnen nutze man zudem dafür, um Wasser an die Front zu fliegen. 

Ein Bild habe in dieser Woche zudem die Runde in den ukrainischen Medien gemacht. Unter der Erde eines Feldes sitzen die Soldaten in voller Montur – vorbereitet auf den nächsten Angriff. Über ihnen pflügt ein Traktor das landwirtschaftliche Feld. „Es ist absurd, aber es muss auch irgendwie weitergehen“, meint P.

Zahlreiche Menschen ertrinken wegen fehlender Hilfe in den Gewässern

Und dann erzählt P. eine Geschichte, die man fast nicht glauben möchte. „Meine Tante hat in Woltschansk gewohnt. Dort ist jedoch alles zerstört. Nichts steht mehr. Also hat sie sich mit 75 Jahren auf den langen Weg nach Charkiw gemacht. Zu Fuß durch die Hitze. Unterwegs ist ihr das Wasser ausgegangen. Und dann flog plötzlich auch noch eine Drohne über ihren Kopf. Es ist schwer zu unterscheiden, ob es unsere eigenen Drohnen sind oder die der Russen“, berichtet P. und erzählt weiter: „Zum Glück waren es unsere eigenen. Und durch die Kamera konnten unsere Soldaten sehen, dass dort eine ältere Frau erschöpft ist und ohne Wasser. Mit der Drohne haben sie Wasserflaschen über ihr abgeworfen. Sie hat es bis nach Charkiw geschafft“, beendet er seine Geschichte. 

Während sich im Oberbergischen, wo Prudkov arbeitet, viele bei hohen Temperaturen einfach im kühlen Nass erfrischen, wurde in der Ukraine ein Badeverbot ausgesprochen, berichtet P. am Telefon. Denn Menschenansammlungen, auch an Seen, sollen möglichst vermieden werden – zu groß ist die Gefahr, dass eine solche Ansammlung ins Visier eine Drohne fällt und ein Angriffsziel werden könnte.

„Außerdem befinden sich nach wie vor überall Minen, auch in den Gewässern“, berichtet P. weiter und ergänzt traurig: „Natürlich halten sich bei der Hitze nicht alle an das Verbot. Allein letztes Wochenende sind in der gesamten Ukraine 60 Schwimmer ertrunken – nicht wegen Anschlägen, sondern weil es durch das Verbot auch keine Rettungskräfte am Wasser gibt. Wer einen Krampf im Bein bekommt oder Kinder, die nicht schwimmen können, denen kann nicht geholfen werden“, sagt er traurig. 

Ärger über Geschäfte mit Russland

Dazu kommt die ständige Gefahr aus der Luft. Innerhalb einer Woche seien in der gesamten Region Charkiw 700 Bomben mit je einem Gewicht von drei Tonnen gefallen, erzählt P. Das Ausmaß dieser Zerstörung muss er seinem Freund nicht weiter erläutern. Was ihn am meisten ärgert: „Schon vor zehn Jahren, als 2014 ein Flugzeug über der Ukraine abgeschossen wurde, wusste alle, dass es die russischen Soldaten waren. Aber es gab kaum Reaktionen und andere Nationen machen bis heute Geschäfte mit Russland, als ob nichts wäre. Als ob dieser Krieg nicht existiert. Geld regiert halt die Welt.“

Igor Prudkov

Über diese Ignoranz anderer Nationen ärgert sich auch Igor Prudkov. Er sagt: „Auch Angela Merkel hat all diese früheren Angriffe mitbekommen. Und auch sie hat viel zu lange weggeguckt und nichts unternommen und weiterhin Geschäfte mit Russland gemacht. Diese Provokationen und die scheinbare Unstrafbarkeit von Russland ärgern mich so sehr.“

Das Telefonat mit seinem ukrainischen Studienfreund findet an diesem Tag in Hückeswagen statt, denn dort arbeitet Prudkov neben seinem Einsatz im Gummersbacher Kreiskrankenhaus nun auch tageweise in der psychiatrischen Ambulanz. Es ist eine herausfordernde Arbeit mit vielen Patienten. „Ich hätte gerne viel mehr Zeit, um meinen Patienten länger zuhören zu können. Aber die Zeit haben wir leider oftmals nicht“, sagt er.

Igor Prudkov in seinem neuen Büro in der psychiatrischen Ambulanz in Hückeswagen.

Igor Prudkov in seinem neuen Büro in der psychiatrischen Ambulanz in Hückeswagen.

Zeit möchte sich Igor Prudkov dagegen die nächsten Tage nehmen. Ein Urlaub in Kroatien steht unmittelbar bevor. „Ich werde mit meiner Enkelin schnorcheln gehen und viel schwimmen. Auf diese Auszeit freue ich mich sehr“, betont der Psychiater.

Und dennoch wird Prudkov auch in diesem Urlaub das ein oder andere Telefonat mit seinen Landsleuten aus der Ukraine führen. Denn der nächste Hilfstransport aus dem Oberbergischen Kreis mit medizinischen Gütern macht sich Ende der Woche auf dem Weg in die Ukraine und wird voraussichtlich Anfang der nächsten Woche in Charkiw ankommen. Ende Juli soll dann, in Zusammenarbeit mit der Caritas Oberberg, der nächste Hilfstransport starten. 

Donnerstag, 4. Juli 2024

Dr. Vitaliy P.

Es ist warm in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw an diesem Donnerstagnachmittag. 36 Grad zeigt das Thermometer an, berichtet Dr. Vitaliy P. während des Telefonats mit seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov. In der Klinik, in der P. als Gefäßchirurg arbeitet, hat er die Patientensprechstunde etwas schneller beendet, damit er zügig nach Hause kann. Denn in der Klinik ist die Klimatisierung ausgefallen, da mal wieder der Strom abgestellt werden muss. Zu Hause ist es dagegen kühl, denn das Wohnhaus von P. steht nahe einem Wald und die Bäume spenden wertvollen Schatten.

Seit etwa drei Wochen werde Charkiw wieder täglich angegriffen – vor allem mithilfe von Drohnen oder per GPS gesteuerten Bomben, die bis zu einer halben Tonne schwer sind. „Es gibt zurzeit mindestens vier Angriffe pro Tag“, berichtet P. weiter. Riesig ist die Zerstörung, viele Menschen in der Ukraine haben in den letzten Tagen und Wochen ihr Leben verloren, berichtet der Mediziner.

Viele Eindrücke des Kongresses in Porto klingen noch nach

Noch immer klingen bei P. die Eindrücke des Kongresses in der Stadt Porto in Portugal nach, an dem er kürzlich teilgenommen hat. „Ich konnte dort endlich mal richtig ausschlafen und hatte nicht jeden Tag den Krieg vor Augen. Innerlich konnte ich allerdings auch in Porto dem Krieg nicht entfliehen“, berichtet der Arzt. Denn in Charkiw habe er viel mehr die Kontrolle über das, was passiert. Dort höre er jeden Alarm und jede Explosion und erkundige sich demnach auch viel schneller nach seiner Familie. So weit weg von der Familie zu sein und nicht kontrollieren zu können, ob es allen gut gehe, das sei schwergefallen, gibt er zu. Diese Anspannung habe er nie ganz weglegen können.

Emotional anstrengend sei die Aus- und Einreise in die Ukraine gewesen. Mit dem Flugzeug konnte er zwar aus Porto ausreisen. In die Ukraine geht es seit Kriegsbeginn aber nur noch per Bus und Bahn. „Dabei bin ich auch durch Ortschaften gefahren, in denen die Gefahr von Angriffen nicht so groß ist wie in Charkiw. Dort bauen die Menschen Häuser und Wohnungen und es sieht ganz anders aus als bei mir zu Hause“, beschreibt er die großen Unterschiede in der Ukraine. In diesen Zonen gebe es auch keine Sperrzeiten wie in Charkiw.

Bericht über die Behandlung von kriegsbedingten Gefäßverletzungen

Der internationale Kongress in Porto zum Thema Gefäßchirurgie, auf dem auch P. einen Vortrag hielt, habe ihn beeindruckt – ganz besonders allerdings ein Vortrag. Darin waren die Erfahrungen eines Arztes, der sich in der Ukraine zum freiwilligen Militärdienst gemeldet hatte, zu hören und wie er an der Front Menschen mit kriegsbedingten Gefäßbehandlungen behandelt. Da der Arzt selbst wegen seines Dienstes an der Front selbst nicht ausreisen konnte, hatte er einer Kollegin seinen Bericht mitgegeben, die diesen beim Kongress vortrug. Der Bericht landete am Ende der Veranstaltung auf Platz eins.

Froh zeigt sich P. dagegen, dass er einem russischen Mediziner, der ebenfalls auf dem Kongress gewesen sein soll, nicht über den Weg gelaufen sei: „Den habe ich zum Glück nicht getroffen!“ Beeindruckt sei er dagegen von dem Angebot eines 65 Jahre alten Professors gewesen, der sofort bereit wäre, als Arzt in der Ukraine bei der Behandlung von Verletzten zu helfen.

Krankenwagen aus Oberberg dient als Reanimationsmobil an der Front

Bestätigen kann P. die aktuellen Medienberichte, dass die russischen Soldaten in Charkiw derzeit nicht vorankommen. „Im Donbass haben wir einige Gebiete verloren, aber dort gibt es Gebiete, in denen sich unsere Soldaten freiwillig zurückziehen. Die Dörfer sind so zerstört, da gibt es nichts mehr zu verteidigen“, berichtet der Gefäßchirurg. In Orten, wo vor drei Wochen noch Mehrfamilienhäuser gestanden hätten, gebe es nun nur noch Schutt und Asche.

Nach wie vor an der Frontlinie zum Einsatz kommt der vor einiger Zeit in die Ukraine gelieferte Krankenwagen aus dem Oberbergischen. Ein Kumpel von Prudkov und P. arbeitet mit weiteren Medizinern in einem Sanitätsbataillon des Militärs und schildert, dass es 150 Angriffe pro Tag gebe. Den Krankenwagen haben man einige Kilometer zurückgefahren, damit dieser nicht beschossen werde, denn dieser diene zurzeit als vollausgestattetes Reanimationsmobil.

Igor Prudkov

Mitte Juli wird sich der nächste große Lkw von Gummersbach aus auf den Weg in die Ukraine machen. Diese gute Nachricht kann Igor Prudkov am Donnerstag zufrieden verkünden. An Bord des Lkw werden zahlreichen Kisten mit Hilfsmitteln sein, darunter medizinische Güter für die Ärzte in der Ukraine, die täglich zahlreiche Verletzte, auch mit Kriegsverletzungen, behandeln müssen. Zum anderen ist aber auch humanitäre Hilfe an Bord, darunter Kleidung und Spielsachen für ein Kinderheim in der Ukraine. Denn den Hilfstransport haben Klinikum Oberberg um Igor Prudkov und die Caritas Oberberg erneut Hand in Hand organisiert.

Igor Prudkov im Stadion in Düsseldorf beim Spiel der Ukraine gegen Slowenien. Prudkov hat sich eine Ukraine-Fahne umgehängt.

Igor Prudkov feuerte im Stadion in Düsseldorf die ukrainische Mannschaft an, die gegen Slowenien spielte.

Igor Prudkov, der am Gummersbacher Krankenhaus als Psychiater arbeitet, hat unterdessen seine Stimme wiedergefunden. Es hatte vor wenigen Tagen im Düsseldorfer Fußballstadion die EM-Partie der Ukraine gegen Slowenien verfolgt und seine ukrainischen Landsleute dabei lautstark angefeuert. Unterstützung hielt er dabei von seiner Enkelin. Dass es für ein Weiterkommen der Ukrainer trotz vier erreichten Punkten am Ende nicht gereicht hat, findet er schade. „In anderen Gruppen sind Mannschaften mit weniger oder gleich vielen Punkten weitergekommen. Schade, das wäre so toll gewesen“, sagt er.

Freitag, 14. Juni 2024

Angela Altz und Lars Lemmer vom Klinikum Oberberg stehen mit einer Ukraine-Flagge, Urkunden und einem Verdienstorden nebeneinander.

Angela Altz und Lars Lemmer vom Klinikum Oberberg sind für ihre Hilfe für die Klinik in Charwik in der Ukraine ausgezeichnet worden.

Für ihre große Unterstützung für die Menschen in der Ukraine und dort insbesondere für die Klinik in Charkiw sind Angela Altz, Pressesprecherin des Klinikums Oberberg, und Chefapotheker Lars Lemmer kürzlich ausgezeichnet worden.

Den besonderen Dank sowie offizielle Urkunden und einen Orden in den Farben der Ukraine übergab in den Farben der Ukraine übergab Igor Prudkov, der am Krankenhaus in Gummersbach arbeitet und gebürtig aus der Ukraine stammt, an die beiden.

Igor Prudkov überreicht die Urkunden und Orden, hier an Angela Altz.

Igor Prudkov überreichte die Urkunden und Orden, hier an Angela Altz.

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine vor mehr als zwei Jahren unterstützt das Klinikum Oberberg die Menschen im Kriegsgebiet und konnte dank Spenden sowie dem Einsatz von Angela Altz, Lars Lemmer, Igor Prudkov sowie weiteren Mitarbeitern und der Geschäftsführung des Klinikums zahlreiche Hilfstransporte mit medizinischen Gütern nach Charkiw organisieren.

Mittwoch, 12. Juni 2024

Dr. Vitaliy P.

Es ist das erste Mal seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, dass sich Dr. Vitaliy P. am Mittwochmorgen nicht aus seiner ukrainischen Heimat meldet, als sein Gummersbacher Freund Igor Prudkov ihn anruft. Noch etwas verschlafen hebt P. aus dem portugiesischen Porto ab. Dorthin ist er wegen eines Symposiums angereist, wo er einen Vortrag über Gefäßchirurgie halten soll.

Für seinen Vortrag und nur, weil er Professor ist, habe er eine Sondergenehmigung für die Ausreise aus der Ukraine erhalten, berichtet er. „Der Rektor unserer Hochschule und mein Chef aus der Klinik, an der ich arbeite, haben mich beide gefragt, ob ich wiederkomme“, berichtet P. am Telefon. Darüber müssten sie sich jedoch keine Sorgen machen. „Natürlich gehe ich in die Ukraine zurück. Meine Frau und meine zwei Söhne sind dort. Ich würde sie niemals zurücklassen“, betont der Arzt aus Charkiw.

Sohn darf nicht aus der Ukraine ausreisen

Sein Sohn, der mit ihm zusammen nach Portugal reisen wollte, da er deutlich sicherer in der englischen Sprache ist als P. selbst, habe keine Ausreisegenehmigung bekommen, berichtet P. geknickt. Und seine Frau, die habe ausreisen dürfen, sei nicht mit nach Portugal gekommen, weil sie ihre Kinder nicht in der Ukraine zurücklassen wollte. „Sie hat es nicht geschafft, weil sie zu große Angst hatte, dass ihnen etwas passiert und wir dann nicht da sind.“

Das Gefühl, für ein paar Tage nicht im Krieg zu leben, sei unbeschreiblich. „Es fühlt sich an wie in einem Traum“, erzählt P. weiter. Kein Luftalarm, keine Raketenbeschüsse und acht Stunden Schlaf am Stück – am Abend zuvor habe er einen Spaziergang gemacht inklusive Konzert über den Dächern Portos, erzählt der Mediziner. Aber: Den Kopf ausschalten kann P. auch im friedlichen Porto nicht. Oft denke er an zu Hause, an seine Familie und Kollegen und mache sich Sorgen, denn auf seinem Handy gehen nach wie vor Warnmeldungen zu Angriffen ein.

Noch nie von der Ukraine und vom Krieg gehört?

Ein Erlebnis in Porto hat den Mediziner aus Charkiw zudem besonders nachdenklich gemacht. In einem Restaurant seien er und ein Kollege des Symposiums am Abend von einem Kellner angesprochen worden, der vor vier Jahren aus Brasilien nach Portugal gekommen sei. Dieser habe wissen wollen, aus welchem Land die beiden Männer kommen.

Als sie mit „aus der Ukraine“ geantwortet hätten, habe der Kellner gestutzt und gemeint, dass er nie von dem Land gehört habe. Wie so ein Unwissen, auch über den aktuellen Krieg in Europa, überhaupt möglich sein kann, kann P. nicht verstehen. „Darüber bin ich natürlich entsetzt, aber auch ein ganz kleines bisschen neidisch, dass es Menschen gibt, die komplett ohne Sorgen und Probleme zu leben scheinen.“

Sein Symposium starte am Donnerstag, berichtet der Mediziner aus Charkiw. Dabei hoffe er, dass ihm bei seinem Vortrag auch Zeit bleibe, über militärische Gefäßverletzungen und deren teils komplizierte Behandlungen zu berichten. Denn, was die Ärzte teilweise an seiner Klinik in Charkiw schaffen, sei definitiv erwähnenswert. „Ein Soldat kam letztens zu uns. Er war von einem Bombensplitter getroffen worden, nur wenige Millimeter neben der Aorta. Er hat es irgendwie ins Krankenhaus geschafft und dort haben wir ihn erfolgreich operiert. Das war eine einzigartige OP und ein Wunder, dass der Soldat überlebt hat“, berichtet P. aus seinem Arbeitsalltag als Gefäßchirurg in der Ukraine.

Auch die Ukrainer sind im EM-Fieber

Derweil schauen auch viele Ukrainer, auf die in Kürze beginnende Fußball-Europameisterschaft. „Auch bei uns sind alle verrückt danach. Ich kenne jemanden, der hat ein Ticket ergattert für 150 Euro – für ein Spiel der ukrainischen Mannschaft. Doch er hat keine Ausreisegenehmigung aus der Ukraine erhalten. Nun muss er sein Ticket abgeben“, berichtet P. am Telefon.

Für die Menschen in seiner Heimat seien die Spiele und Erfolge der Mannschaft besonders wichtig. „Auch die Soldaten an der Front werden, wenn möglich, die Spiele gucken. Wir assoziieren einen Sieg im Fußball auch mit unserer Stärke und einem Sieg im Krieg“, fasst P. zusammen.

Igor Prudkov

Auch Igor Prudkov hat sich ein Ticket für die Fußball-EM gesichert. „Ich werde mir das Spiel der Ukraine gegen Slowenien in Düsseldorf anschauen“, erzählt er erfreut. Ins Stadion werde er auch seine elf Jahre alte Enkelin mitnehmen, für die das ganze sicher ein ganz besonderes Erlebnis werde. Mit ihr zusammen will er die Mannschaft auf seiner ukrainischen Heimat anfeuern, berichtet Prudkov, der schon lange in Deutschland lebt und am Krankenhaus in Gummersbach arbeitet.

Dass die Fußballer aus der Ukraine bei dem Turnier dabei sind, ist auch für Prudkov ein wichtiges Zeichen für die Stärke seiner Heimat. Dabei sieht es an vielen Orten nahe der russischen Grenze derzeit nicht gut aus. „Es fehlt zurzeit an Abwehrsystemen. Wir brauchen mehr Patriots“, fordert Prudkov. Denn seit einigen Monaten setzten die russischen Soldaten auch Flugzeuge ein, mit denen sie 500 bis 1500 Kilogramm schwere Bomben auf die Ukraine abwerfen. Das tückische: „Die Bomben haben Flügel, mit denen sie noch rund 70 Kilometer fliegen können, ehe sie einschlagen“, erklärt Prudkov.

Der Psychiater Igor Prudkov telefoniert mit seinem Freund Dr. Vitaliy P. in Charkiw. Dieser ist auf dem Handybildschirm zu sehen, den Prudkov in der Hand hält.

Igor Prudkov, der im Gummersbacher Krankenhaus als Psychiater arbeitet, telefoniert regelmäßig mit seinem Freund und Dr. Vitaliy P. aus Charkiw.

In Zusammenarbeit mit dem Klinikum Oberberg erstellt Igor Prudkov zurzeit erneut eine Liste mit medizinischer Ausrüstung, die im aktuell stark beschossenen Charkiw dringend benötigt werde. Doch diese Hilfsmittel zu beschaffen, werde zunehmend schwerer, denn es fehle an Spendengeldern, sagt er. Deshalb hofft Prudkov erneut auf Unterstützung, damit er den Menschen in seiner ukrainischen Heimat auch weiterhin helfen kann.

Nach wie vor ist ein Spendenkonto des Klinikums Oberberg für die Finanzierung medizinischer Hilfsmittel vorhanden. Weitere Informationen dazu gibt es auf der Internetseite der Caritas Oberberg. Der Caritasverband nimmt die Spenden in Kooperation mit dem Klinikum auf einem eigens dafür eingerichteten Konto unter dem Verwendungszweck „Ukraine/Krankenhaus“ entgegen.

Donnerstag, 23. Mai 2024

Dr. Vitaliy P.

Die Internetverbindung nach Charkiw in der Ukraine stockt am Donnerstagmorgen. Aber sie läuft, wenn auch etwas langsamer. Dr. Vitaliy P. sitzt in seinem Büro in einer Klinik der ukrainischen Millionenstadt, als ihn sein Gummersbacher Freund Igor Prudkov erreicht. Wie ernst die Lage in Charkiw aktuell ist, wird während des Videotelefonats sehr schnell deutlich.

„Wir haben wegen der vielen Raketen- und Bombenangriffe oft Stromausfälle. Es gibt viele verletzte Soldaten, aber auch viele Verletzte aus der normalen Bevölkerung. Es ist dramatisch“, berichtet P. aus Charkiw. Bereits nach wenigen Minuten des Gesprächs hält P. das erste Mal inne. „Gerade ist eine Rakete explodiert. Ich kann es hören“, berichtet der Arzt. Täglich gebe es derzeit Raketenangriffe auf Charkiw. Auch Fliegerbomben setzen die russischen Soldaten gegen die Ukrainer ein, berichtet P. weiter.

Russischer Luftangriff auf ein Café

Erst am Vortag sei durch einen russischen Luftangriff ein Café an einem Bahnhof für Elektrobusse getroffen worden – zur Mittagszeit um 14 Uhr. „Zum Glück waren nicht viele Menschen dort. Aber es gab trotzdem mehrere Verletzte. Ob und wie viele Tote es genau gab, das wissen wir nicht. Darüber wird öffentlich nicht gesprochen.“

Es sind die Ziele der Raketen und Bomben, die zurzeit alle in Charkiw fassungslos machen. So sei am vergangenen Sonntag, dem Gedenktag der Toten in der Ukraine, ein Friedhof inmitten des Zentrums von Charkiw getroffen worden, während Angehörige um Verstorbene trauerten, berichtet der Gefäßchirurg. Eine weitere Bombe schlug in einem benachbarten Park ein – genau dort, wo Kinder spielen. Eine dritte traf ein Sanatorium. Mindestens sieben Menschen starben, darunter eine schwangere Frau. Insgesamt ist von etwa 20 Toten die Rede. Am Montag nach den drei schweren Anschlägen auf Charkiw wurde ein Trauertag angeordnet.

Immer wieder gibt es an diesem Donnerstag Explosionen in Charkiw

Immer wieder muss P. das Gespräch unterbrechen, denn im Hintergrund schlagen an diesem Donnerstagmorgen gleich mehrere Raketen in der Nähe seiner Klinik ein. Ab und zu stockt er in seinen Erzählungen und sagt „schon wieder eine“, dann erzählt er weiter, nur um wenige Minuten später erneut zu sagen „wieder eine“. Am Ende sind es allein während des Telefonats mit Prudkov sechs Raketen, die im Hintergrund in der Stadt explodieren.

„Wir bekommen zu wenig Waffen. Während Russland über viel Munition für Angriffe verfügt, steht uns fast nichts zur Verfügung, mit dem wir uns richtig verteidigen können. Das, was wir momentan haben, reicht bei weitem nicht aus“, berichtet P., warum die russische Offensive derzeit so stark ist und immer näher rückt.

Was P. und Igor Prudkov außerdem mit Unverständnis zurücklässt: „Wir dürfen unsere militärische Ausrüstung, die wir beispielsweise aus Amerika oder Deutschland bekommen haben, nicht auf russischem Territorium einsetzen. Obwohl wir teilweise auf Radargeräten schon erkennen können, wo eine Rakete zum Abschuss bereitsteht, die wir vernichten könnten, bevor sie losgeschickt wird. Solange sie nicht in der Ukraine ist, dürfen wir nichts machen. Und wenn sie bei uns ist, dann ist es zu spät“, erklären die beiden Männer. „Das ist so ärgerlich und ich könnte nur noch darüber schimpfen“, ergänzt Prudkov.

Zahlreiche Explosionen nahe der Klinik in Charkiw

Kurz darauf muss Dr. Vitaliy P. das Telefonat mit seinem Gummersbacher Freund für einen Moment unterbrechen. Seine Frau ruft ihn auf dem Handy an, um sich zu erkundigen, ob es ihm gut geht. Die vielen Raketen, die kurz zuvor nahe der Klinik eingeschlagen sind, haben sie beunruhigt. P. kann zum Glück schnell Entwarnung geben.

„Es ist leerer geworden in Charkiw. Viele Menschen sind in Gebiete geflüchtet, die zurzeit sicherer sind als unsere Stadt“, berichtet der Arzt weiter. Auch einer seiner Kollegen sei derzeit nicht im Dienst. Zweimal schlugen Raketen nahe seines Wohnhauses ein. Nun bringe er seine zwölfjährige Tochter weiter weg zu den Großeltern. „Natürlich ist die Stimmung verzweifelt, vor allem wegen der verzögerten Hilfen, ohne die wir uns nicht richtig verteidigen können“, berichtet der Arzt weiter. Den Optimismus, dass eines Tages doch noch alles gut werde, habe er aber auch jetzt nicht verloren, betont er, ehe im Hintergrund die nächste Explosion zu hören ist.

Hilfstransporte gestalten sich unter Beschuss deutlich schwieriger

In seiner Klinik seien nach wie vor alle geplanten Operationen verschoben. Viele Patienten kämen zudem aus Angst nicht in die Klinik. Stattdessen betreuen P. und seine Kollegen dort nun einige ältere Menschen, deren Kinder unter anderem an der Front im Einsatz sind, und die ohne Hilfe alleine nicht zurechtkommen, erzählt er.

Die medizinische Versorgung und das entsprechende Material dafür ist in der aktuellen Lage in Charkiw mit zahlreichen Verletzten umso wichtiger. „Hilfstransporte gibt es noch, aber diese sind ist unter dem aktuellen Beschuss natürlich schwieriger geworden. Doch wir sind dankbar für jede Hilfe“, betont der Gefäßchirurg abschließend.

Igor Prudkov

Neben seiner Wut und dem Unverständnis über den eingeschränkten Einsatz der zur Verfügung stehenden Waffen der Ukrainer macht sich Igor Prudkov in diesen Tagen vor allem Sorgen um seine Heimat. Der Psychiater, der am Krankenhaus in Gummersbach als Facharzt arbeitet, ist täglich mit vielen seiner Freunde in der Ukraine in Kontakt. „Es ist ernst“, sagt er.

Aktuell ist Prudkov nicht nur in Gummersbach am Krankenhaus im Einsatz, sondern auch in der Ambulanz in Hückeswagen. Dort habe er derzeit auch mit ukrainischen Landsleuten zu tun, die zu ihm kämen. Dass er deren Sprache spricht, mache die Verständigung einfacher. „Erst letztens saß ein Soldat aus der Ukraine vor mir, der im Krieg verletzt wurde“, berichtet Prudkov.

Viele seelische Verletzungen der Patienten aus der Ukraine

Seine Arbeit als Psychiater bezieht sich vor allem auf die seelischen Verletzungen seiner Patienten. „Manchmal müssen Medikamente verschrieben werden, manchmal helfen auch einfach Gespräche“, berichtet er vom unterschiedlichen Umgang seiner Patienten mit traumatischen Erlebnissen.

Neben seiner Arbeit im Krankenhaus und der Ambulanz plant Prudkov weiterhin Hilfstransporte nach Charkiw. Gemeinsam mit dem Klinikum Oberberg möchte der Facharzt schon bald neue medizinische Mittel in seine Heimat schicken. Mit Dr. Vitaliy P. ist er im Austausch darüber, was vor Ort gerade besonders dringend benötigt wird.

Nach wie vor ist ein Spendenkonto des Klinikums Oberberg für die Finanzierung medizinischer Hilfsmittel vorhanden. Weitere Informationen dazu gibt es auf der Internetseite der Caritas Oberberg. Der Caritasverband nimmt die Spenden in Kooperation mit dem Klinikum auf einem eigens dafür eingerichteten Konto unter dem Verwendungszweck „Ukraine/Krankenhaus“ entgegen.

Dienstag, 26. März 2024

Dr. Vitaliy P.

Nach den zuletzt mehrfach schweren Angriffen der russischen Soldaten auf die Ukraine, ist es an diesem Dienstag in der Klinik in Charkiw, in der Dr. Vitaliy P. als Gefäßchirurg arbeitet, erstaunlich ruhig. Am Nachmittag hat der ukrainische Arzt eine Operation, aber ansonsten sei es eher ruhig. Viele Patienten seien derzeit nicht in der Klinik, berichtet P. während eines Telefonats mit seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov.

Bei den Beschüssen an mehreren aufeinander folgenden Tagen Ende der vergangenen Woche und am Wochenende hätten die Raketen große Teile der Energiewerke in Charkiw getroffen und die Infrastruktur für längere Zeit weitgehend lahmgelegt. Seitdem sei die Heizung außer Betrieb und werde es wohl auch in den nächsten Tagen bleiben, einige müssen stundenlang auf Strom verzichten. In der Klinik laufe mal wieder das Notstromaggregat auf Hochtouren, berichtet P. weiter. Die Patienten bekommen mehr Decken, damit sie nicht frieren.

Geplante Operationen an Klinik in Charkiw wurden abgesagt

„Alle geplanten Operationen wurden abgesagt, damit Kapazität für Notfälle vorhanden sind. Viele Patienten sind aber auch von sich aus gegangen, da sie Angst haben, unter den aktuellen Beschüssen in der Klinik zu bleiben. Sie haben sich auf den Weg in Orte gemacht, die aktuell sicherer sind“, berichtet P. am Telefon. Dass diese Angst berechtigt ist, sei P. an diesem Tag selbst vor Augen geführt worden, als er gegen 10 Uhr während einer OP aus dem Fenster eine Explosion, etwa einen Kilometer von der Klinik entfernt, gesehen habe. Erst in der Nacht zuvor seien zwei Raketen auch über sein privates Haus geflogen, erzählt der Mediziner.

Die Lage ist angespannt. „Es ist der schwerste Angriff auf die Elektrizität und Infrastruktur seit Beginn des Krieges“, bestätigt P. die Nachfrage von Igor Prudkov. Aber: „Es ist nicht der schwerste Angriff, denn im vergangenen Sommer war die russische Artillerie viel näher als jetzt. Damals gab es mehr Tote als in den vergangenen Tagen“, erinnert er sich.

Für mehrere Stunden werde nun am Tag der Strom teilweise geplant ausgestellt, um die Leitungen schnellstmöglich wieder reparieren zu können. Doch der Schaden sei riesig. Gebäude und Mehrfamilienhäuser seien ebenfalls getroffen worden, berichtet der Arzt weiter. Überall in der Stadt seien die Beschüsse sichtbar.

Viele Autounfälle wegen ausgefallenen Ampeln in Charkiw

Bis zu 150 Schutzpunkte gebe es in Charkiw, an denen Menschen sich in Sicherheit bringen können, heißen Tee bekommen oder dank Notstrom einfach ihr Handy aufladen können, um mit ihren Familien in Kontakt zu bleiben. Viele Menschen passen in die aus Beton gebauten Schutzunterkünfte jedoch nicht.

Derweil finde unter der Erde, in den U-Bahnstationen, seit einigen Monaten wieder Unterricht in Präsenz statt – allerdings nur für wenige Schüler der ersten bis dritten Klassen. Denn der Platz ist begrenzt. Der Bürgermeister von Charkiw plane und baue eine erste Grundschule unter Tage. „Aber auch die wird nur Platz für einen kleinen Anteil der Kinder haben, die noch in Charkiw leben. Wie weit der Bau mittlerweile ist, weiß ich nicht“, sagt P.

Kinobesuch inmitten des Krieges

Über der Erde herrsche besonders auf den Straßen Chaos. Wegen der Stromausfälle seien die Ampeln außer Betrieb. „Im Straßenverkehr kommt es aktuell zu so vielen Autounfällen wie nie zuvor. Erst in der vergangenen Woche ist es zu einem sehr schweren Unfall gekommen, bei dem mehrere Menschen gestorben sind“, berichtet P. aus Charkiw.

Doch in all dem Chaos und inmitten der schlimmsten Kriegszustände kann P. auch eine gute Nachricht verkünden. „Da es in der Klinik zurzeit eher ruhig ist, habe ich seit langer Zeit endlich mal wieder neun Stunden am Stück geschlafen. Am Wochenende sind meine Frau und ich in die Stadt gefahren. Im Kino gab es tatsächlich Strom und so haben wir uns seit langer Zeit mal wieder einen Film im Kino angeschaut. Das hat so viel Spaß gemacht“, erzählt der Mediziner mit einem leichten Schmunzeln.

Igor Prudkov

„Am Donnerstagabend habe ich mir mit einem Kumpel aus der Ukraine das Fußball-Länderspiel der Ukraine gegen Bosnien und Herzegowina angeschaut. Wir haben uns so gefreut, als die Ukraine in den letzten Minuten noch 2:1 gewonnen hat und sind glücklich schlafen gegangen“, berichtet Igor Prudkov knapp fünf Tage später. Doch ab 5 Uhr in den frühen Morgenstunden sei an Schlaf nicht mehr zu denken gewesen, als in seiner ukrainischen Heimat in Charkiw die Raketen fielen.

„Mein Kumpel hat Söhne in der Ukraine. Natürlich hat er sich riesige Sorgen gemacht, dass ihnen etwas passiert sein könnte“, erzählt Prukdkov weiter. Zum Glück gehe es ihnen gut, fügt er gleich an. Diese gute Nachricht sei wenig später am Morgen gekommen und noch rechtzeitig vor einer Tages füllenden Fortbildung, an der er teilgenommen habe und sein Handy ausschalten musste. Denn P. arbeitet als Psychiater am Gummersbacher Krankenhaus und ist bei seiner Arbeit als Facharzt sehr gefordert.

Kritische Betrachtung der Anschläge in Moskau und deren Folgen

Neben seiner Arbeit im Krankenhaus hat Prudkov auch in den vergangenen Wochen wieder Hilfstransporte mit medizinischen Hilfsmitteln für die Ukraine organisiert. Diese wurden erneut zu seinem Freund an die Klinik nach Charkiw geschickt, darunter Fixierungsgurte, Fixateure externe, Schläuche für eine Ernährung per Sonde sowie Sterilisierungsmittel. Letztere sind noch auf dem Weg nach Charkiw, die anderen Hilfsmittel sind bereits gut angekommen.

Kritisch verfolgt hat Igor Prudkov in den vergangenen Tagen den Anschlag in einer Konzerthalle in Moskau, bei der laut russischen Informationen mehr als 100 Menschen gestorben sind. Dass Putin für den Anschlag, zu dem sich bereits Anhänger des Islamischen Staates bekannt haben, auch die Ukraine mitverantwortlich macht, wundert Prudkov nicht.

„Es gab zuvor Warnungen für einen Anschlag und dennoch konnten die Täter mit den Waffen einfach so in die Halle gelangen. Das wundert mich schon sehr, dass es in Zeiten des Krieges keine richtigen Kontrollen gab“, so der Psychiater, der dahinter – wie bereits in vergangenen Zeiten – eine Taktik des russischen Präsidenten vermutet, die dieser gezielt für den Krieg gegen die Ukraine einsetzen wolle.

Mittwoch, 21. Februar 2024

Dr. Vitaliy P.

„Zwei Jahre sehen wir uns nun schon regelmäßig am Telefonbildschirm und sprechen über den Krieg“, meint Dr. Vitaliy P. zu seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov beim Videogespräch an diesem Morgen. Der Arzt aus Charkiw, einer Millionenstadt in der Ukraine, lächelt müde. Er wünsche sich nichts sehnlicher, als ein Ende des Krieges zugunsten der Ukraine und Gespräche mit seinem Studienfreund über fröhliche und ganz alltägliche Dinge.

Doch P. zeigt sich in dieser Woche, vor dem bevorstehenden 24. Februar, an dem sich der Beginn des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine zum zweiten Mal jährt, auch dankbar. „Ich bin dankbar für die viele Hilfe, auch aus dem Oberbergischen – für unsere Patienten in unserer Klinik, die Arbeit der Ärzte, aber auch für die Soldaten in den Sanitätsbataillonen. Und natürlich für die Waffenlieferungen. Alle diese Hilfen sind der Grund, warum wir uns überhaupt noch verteidigen können“, sagt der Gefäßchirurg, der an einer Klinik in Charkiw arbeitet.

Erinnerung an den Kriegsbeginn in der Ukraine vor zwei Jahren

Der Mediziner erinnert sich an den Kriegsbeginn vor zwei Jahren: „Ich habe mit Igor in Gummersbach telefoniert und er hat mir gesagt, ich muss vier bis fünf Tage durchhalten, dann komme die erste Hilfe.“ Die Gespräche mit seinem Freund und den anderen Helfern und Unterstützern hätten ihm und seinen Kollegen Kraft in schweren Zeiten gegeben – bis tatsächlich schon kurze Zeit nach Kriegsbeginn der erste Hilfstransport mit medizinischen Gütern aus dem Oberbergischen in Charkiw ankam. „Das macht Mut, nicht aufzugeben. Diese Unterstützung und das Wissen, dass wir nicht alleine sind, sind der Antrieb weiterzumachen“, betont P. am Telefon.

Bereits zwei Wochen nach den ersten Angriffen nahmen P. und seine Kollegen zwei Kisten mit Antibiotika entgegen, die aus dem Gummersbacher Krankenhaus in die Ukraine geschickt worden waren. Viele weitere folgten. Dass nach zwei Jahren Krieg jedoch die Spenden weniger geworden sind und demnach auch weniger Hilfsgüter in die Ukraine gebracht werden können, merke man auch vor Ort, berichtet der Gefäßchirurg weiter.

Mangelnde Ausrüstung der Ukrainer an der Front bereitet große Sorge

Ganz besonders aber merke man die fehlenden Hilfen aus Amerika. „Die merkt man vor allem bei den Kämpfen an der Front“, sagt P. sichtlich besorgt darüber, dass sich die Ukraine schon bald mangels Ausrüstung nicht mehr verteidigten kann wie bisher. „Das bedeutet aber nicht, dass wir aufgeben werden. Hoffnung haben wir nach wie vor, die werden wir nie verlieren“, betont er und spricht damit für viele seiner Landsleute. „Die Soldaten verteidigen an der Frontlinie nicht nur die Ukraine, sondern auch Europa. Wir möchten Teil der EU sein und das möchten wir auch zeigen“, so P. weiter.

Verbessert habe sich dagegen im Vergleich zum vergangenen Jahr die Hilfe der Stadt in Charkiw. Es gebe wieder eine Küche, sodass im Klinikum für Patienten gekocht werden kann. Eine Apotheke mit einigen Medikamenten hat wieder geöffnet. Und auch die Organisation sei wieder einfacher geworden – dank mehr Personal.

Besorgter Blick auf den Tod von Alexei Nawalny

Besorgt schauen derweil auch die Ukrainerinnen und Ukrainer auf den Tod des russischen Regimekritikers und Oppositionspolitikers Alexei Nawalny. Dass er von Putin getötet worden sei, daran bestehe für ihn kein Zweifel, sagt der Gefäßchirurg und erhält von Igor Prudkov an der anderen Leitung des Telefongesprächs ein zustimmendes Nicken. „Ich denke, dass es ein klares Zeichen von Putin ist. Wer gegen ihn redet oder sich gegen ihn wendet, dem droht der Tod. Es ist eine Vorwarnung“, befürchtet der ukrainische Mediziner.

Dass auch er selbst sich öffentlich gegen Putin positioniert, bereite ihm jedoch keine Angst oder Sorge, auf einer roten Liste des russischen Präsidenten zu landen. „Ich mache das verantwortungsvoll, aber vor allem deswegen, weil es wichtig ist. Und ich spreche nicht nur für mich, sondern für viele in der Ukraine. Für die Patienten, für Bekannte, meine Familie, meine Kollegen in der Klinik und auch für die vielen verletzten Soldaten, die von mir behandelt werden.“

Zeit mit der Familie am 24. Februar

Am bevorstehenden Tag, an dem sich der Kriegsbeginn zum zweiten Mal jährt, seien aus Sicherheitsgründen erneut alle öffentlichen großen Veranstaltungen und Versammlungen in der Ukraine abgesagt worden. „Es ist ein Tag, an dem jeder für sich selbst nachdenken muss. Was ist passiert in diesen zwei Jahren? Wo stehen wir? Was hat die Regierung geleistet? Und was habe auch ich ganz persönlich bewegt?“

Privat werde er Zeit mit seinem Neffen verbringen. Dieser habe sich zu Beginn des Krieges den „Kraken“ angeschlossen und kämpft seitdem als freiwilliger Soldat. „Er hat uns eingeladen, denn es ist ihm wichtig, vor allem an diesem Tag, beisammen zu sein und von dem zu berichtet, was er täglich an der Front erlebt“, sagt P. mit Tränen in den Augen.

Igor Prudkov

Ganz aktuell hat Igor Prudkov, mit Unterstützung des Klinikums Oberberg, einen Hilfstransport von Gummersbach nach Charkiw geschickt. Zehn Kisten mit Magensonden hat er auf den Weg gebracht, die sowohl in der Chirurgie des Krankenhauses in Charkiw als auch in einem Lazarett für verletzte Soldaten zum Einsatz kommen sollen. Per Handy erhält er wenig später ein Foto, auf dem die Kisten in Empfang genommen werden. Es ist das Zeichen: Alles ist gut gegangen.

Eine junge Krankenschwester aus der Ukraine steht neben zehn Kisten mit Hilfsmitteln.

Ein Hilfstransport (zehn Kisten mit Magensonden) aus dem Gummersbacher Krankenhaus ist in Charkiw angekommen.

An die Nervosität des ersten Hilfstransportes aus Gummersbach erinnert Prudkov sich noch gut, denn dieser war nicht so reibungslos verlaufen wie der zuletzt. „Es war ein sehr angespannter Moment. Der Bus mit den Hilfsgütern stand viele Tage im Wald und konnte nicht weiter in die Ukraine fahren, da die Beschüsse zu stark waren“, berichtet Prudkov, der als Psychiater am Krankenhaus in Gummersbach arbeitet. „Als die zwei Kisten dann in Charkiw angekommen waren, war die Erleichterung riesig“, ergänzt er.

Gleichzeitig habe dieser Transport gezeigt, was möglich ist. Dass Hilfe aus dem Oberbergischen in die Ukraine zu seinen Freunden geschickt werden kann – wenn auch unter gefährlichsten Bedingungen. Einmal ist Igor Prudkov seit Kriegsbeginn auch selbst in seiner Heimat gefahren und hat Hilfsgüter dorthin gebracht. Ansonsten koordiniert er, in Zusammenarbeit vieler weiterer Helfer, die Transporte so gut es geht von Gummersbach aus.

Auch wenn ihn dies, neben seiner anspruchsvollen Arbeit im Krankenhaus, sehr fordere und er manchmal erschöpft sei: „Aus den Fotos, den Telefonaten und der großen Dankbarkeit aus der Ukraine, ziehe ich immer wieder Kraft. Seelische Kraft gibt mir außerdem die Zeit mit meiner Tochter und meiner Enkelin. Ich werde so lange weitermachen, wie es nötig ist“, betont er.

Mittwoch, 31. Januar 2024

Dr. Vitaliy P.

Drei Raketen des Typs S-300 seien am Dienstag auf Charkiw geschossen worden. „Eine von ihnen ist in dem Gebiet eingeschlagen, in dem ich wohne – nicht weit von meinem Haus entfernt“, berichtet Dr. Vitaliy P. am Mittwochmorgen seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov am Telefon. Nach dem Anschlag habe er zahlreiche Nachrichten von Freunden und Bekannten erhalten, ob sein Haus getroffen worden sei. „Zum Glück gab es keine Verletzten“, berichtet der Gefäßchirurg, der an einer Klinik in Charkiw arbeitet.

Warum die Raketen in dem Gebiet, das am Wald liegt, eingeschlagen sind, kann sich P. nicht erklären. „Dort gibt es laut unseren Berichten gar keinen Militäreinsatz. Aber vermutlich haben die russischen Soldaten das vermutet wegen des Waldes“, meint der Mediziner aus Charkiw. Bei den Drohnenangriffen einen Tag später seien erneut Mehrfamilienhäuser, ein Geschäft, ein Fahrzeug getroffen worden. Auch dieses Mal habe es keine Toten gegeben.

„Wobei sich die Angabe zu den Toten nur auf die Zivilbevölkerung bezieht. Wenn Menschen sterben, dann wird das von den Behörden immer veröffentlicht. Anders sieht das bei den Soldaten aus. Über die verstorbenen Soldaten gibt es keine Statistik“, führt der Arzt weiter aus. Hintergrund, dass keine Militärverluste veröffentlicht werden, seien taktische Gründe, um solche Informationen möglichst vor den russischen Soldaten geheim zu halten. Das bedeute aber nicht, betont P., dass die Familien verletzter, vermisster oder verstorbener Soldaten nicht informiert werden.

Traurige Schicksale an der Front

Schwierig sei sowohl eine Information als auch Bergung Toter in der sogenannten „grauen Zone“ nahe der ukrainischen Stadt Kupjansk, berichtet P. am Telefon. Denn in dieser Zone, unmittelbar vor der Grenze zu Russland, in der auch immer noch Menschen in zerstörten Dörfern leben, gebe es nicht einmal einen Rettungsdienst, der dort im Einsatz ist. „Das wäre viel zu gefährlich. Der Wagen und die Menschen würden sofort bombardiert. Leichen, die dort liegen, können nicht abgeholt werden“, sagt er. Die Information von der Frontlinie zu den Familien der dort eingesetzten Soldaten verlaufe dagegen sehr gut per Telefonketten.

Plötzlich muss P. schlucken und kämpft mit den Tränen. Er erzählt: „Ich kenne einen 19-Jährigen, der sich freiwillig für den Militärdienst an der Front gemeldet hat. Er ist nahe der Stadt Bachmut stationiert gewesen, in einem besonders gefährlichen Bereich. Am 24. Dezember war er verschwunden. Seine Großfamilie war sehr besorgt und die Brüder haben auch mich um Hilfe gebeten, als sie nichts von ihm gehört haben. Später hat sich herausgestellt, dass die Mutter schon vier Tage später, am 28. Dezember, einen Brief erhalten hat, in dem vom Verschwinden ihres Sohnes die Rede ist und in dem wenig Hoffnung gemacht wurde, dass dieser noch am Leben sein könnte. Sie hat niemandem in der Familie von dem Brief erzählt, weil sie es nicht ertragen konnte und sich an die letzte kleine Hoffnung geklammert hat, dass ihr Sohn doch noch lebend auftaucht.“

Nach Kriegsende soll Karneval in Deutschland gefeiert werden

Dass erneut ein möglicher Großangriff Putins auf die Ukraine bevorstehen könne, werde auch in den ukrainischen Medien berichtet, bestätigt Dr. Vitaliy P. derweil. Aber: „Meiner Meinung nach ist das schon jetzt Wahlkampf vor der bevorstehenden Präsidentschaftswahl im März. Denn eigentlich hat Putin doch nichts erreicht, außer kürzlich die Einnahme einiger kleiner Dörfer“, meint der Mediziner kritisch. Sorgen mache er sich dagegen um die langsam ausgehende Ausrüstung an Waffen. „Russland kann viel mehr Soldaten mobilisieren als wir, das kann am Ende den Unterschied machen.“

In diesen Tagen und vor den bevorstehenden Karnevalsfeiertagen in Deutschland schauen auch Igor Prudkov und Dr. Vitaliy P. auf fast zwei Jahre Krieg. „Hätten wir in den ersten Monaten mehr Ausrüstung gehabt, dann wäre der Krieg längst beendet“, ist sich P. sicher. Doch nun müsse man sich wohl auf einen noch lange andauernden Krieg einstellen, befürchtet er. „Der Sieg hängt nicht von uns ab, wir können nur mithilfe von Europa gewinnen.“

Einen Plan hat P. sich vorgenommen, verrät er schmunzelnd wenige Tage vor den jecken Tagen: „Wenn der Krieg vorbei ist und wir gewonnen haben, dann komme ich nach Deutschland, um Karneval zu feiern.“

Igor Prudkov

Auf die jecken Tage freut sich auch Igor Prudkov: „Ich feiere gerne Karneval und werde an diesen Tagen auch mit meiner Enkelin beim Straßenkarneval unterwegs sein, um mir einen Zug anschauen“, sagt er. Bevor er feiern möchte, hat der Facharzt, der als Psychiater am Gummersbacher Krankenhaus arbeitet, jedoch noch alle Hebel in Bewegung gesetzt und gemeinsam mit der Caritas einen erneuten Hilfstransport in seine ukrainische Heimat geschickt.

Von Spendengeldern der Caritas konnte ein Geländewagen gekauft werden. Spenden, die noch immer beim Krankenhaus eingehen, wurden in Medikamente, ein Notfallrucksack und weitere medizinische Hilfsmittel investiert, berichtet Prudkov. Alles zusammen ist nun auf dem Weg in die Ukraine und wird voraussichtlich in den kommenden Tagen in Charkiw ankommen. Die Hilfsmittel sollen verletzten Soldaten eines Militäreinsatzes zugutekommen.

Zwei Männer und eine Frau stehen vor einem Krankenhaus. Hinter ihnen ist ein Geländewagen zu sehen. Sie halten Kartons mit Hilfsmitteln in den Händen.

In Gummersbach ist erneut ein Hilfstransport nach Charkiw gestartet. Die Hilfsmittel haben dank Spenden zusammengepackt: (v.l.) Igor Prudkov, Valentyna Butulay und Lars Lemmer.

In die Ukraine gebracht wird er von einer Krankenpflegerin und Wundheilmanagerin aus der Ukraine, die am Gummersbacher Krankenhaus eine Weiterbildung macht. „Dabei hat sie schon viele Hürden auf sich genommen, denn in einigen Ländern wurden Gesetzte geändert oder Kontrollen verschärft“, berichtet Prudkov. Denn bei den vielen Hilfstransporten zuletzt seien leider auch Transporte für den Verkauf von Medikamenten missbraucht worden.

Trotz all der Hürden kämpft Prudkov weiter für die humanitäre Hilfe. Erst am Mittwochmorgen, kurz vor dem Telefonat mit seinem Freund in Charkiw, hat er wieder ein Foto geschickt bekommen von einem weiteren Freund aus Charkiw. Das Foto zeigt einen Flammenschein, kurz nach einem Drohnenangriff, nahe einem Funkhaus für das Telefon- und Internet-Netz, welches wohl das Ziel der russischen Soldaten sein sollte.

Dienstag, 9. Januar 2024

Dr. Vitaliy P.

Zahlreiche russische Angriffe haben seit den Weihnachtsfeiertagen die Ukraine erschüttert. Von den andauernden Raketenbeschüssen betroffen ist auch die Millionenstadt Charkiw im Nordosten des Landes. Sieben Menschen waren allein in der Region Charkiw ums Leben gekommen, mehr als 60 Menschen wurden so schwer verletzt, dass sie stationär in Krankenhäusern behandelt werden müssen, berichtet Dr. Vitaliy P. am Dienstagmorgen am Telefon seinem Gummersbacher Freund Igor Prudkov.

Viele weitere erlitten Verletzungen durch herumfliegende Glassplitter. „Unter den Toten waren auch zwei ältere Frauen im Alter von 97 und 87 Jahren. Das zeigt erneut, dass der Angriff sich gegen die normale Zivilbevölkerung gerichtet hat“, berichtet P. am Telefon. Von den kürzlichen Angriffen waren auch zwei seiner Kollegen in der Klinik betroffen. Ihre Wohnungen wurden komplett zerstört. „Sie haben nun kein zu Hause mehr und mussten bei Bekannten unterkommen“, berichtet der Mediziner aus Charkiw.

„Putin ist das Wohl seiner eigenen Bevölkerung scheinbar egal“

Dass Putin das Wohl seiner eigenen Bevölkerung scheinbar egal sei, habe erst kürzlich einen Vorfall gezeigt. Als Soldaten eine Rakete auf den Flughafen und auf einen russischen Abschuss-Punkt in Belgorod abschossen, wurden die Raketen von Russlands Abwehrsystem genau über der Stadt Belgorod getroffen. Trümmerteile seien auf die Stadt und die dort lebenden Menschen gefallen. „Dass auch eigene Leute bei dem Krieg sinnlos sterben, das ist Putin ganz egal“, sagt Dr. Vitaliy P. weiter.

In der Klinik, in dem P. als Gefäßchirurg arbeitet, seien die Kapazitäten vor allem vor den Weihnachtsangriffen knapp gewesen. „Über die Feiertage wollten viele Patienten aber natürlich nach Hause. Mittlerweile wird es aber wieder voller. Es sind zurzeit etwa 80 Prozent der Betten belegt und 20 Prozent frei für Notfälle“, berichtet der Arzt weiter.

Getroffen worden war in Charkiw auch ein Hotel, in dem Journalisten, auch aus Deutschland, untergebracht waren. Ein Angriff Putins auf die Pressefreiheit? „Das Hotel ist zumindest dafür bekannt, dass Journalisten dort wohnen“, meint P., ohne mutmaßen zu wollen.

Journalisten sind mit Schutzkleidung an der Front im Reportage-Einsatz

Und wie sieht die Berichterstattung der eigenen Journalisten aus? „Es gibt große Unterschiede, einige recherchieren nur im Internet, andere schreiben nur Porträts über politische Persönlichkeiten und andere gehen raus und sitzen für ihre Reportage selbst mit Schutzausrüstung an der Frontlinie.“ „Die letzten sind mittlerweile sehr bekannt“, berichtet der Mediziner.

Und dann gebe es noch Soldaten, die mit ihrem Handy live von der Front bloggen. Sie filmen sich und die Zustände an der Kriegsfront und berichten somit aus erster Hand. „Offiziere nutzen diese Videos, um die Ereignisse an der Frontlinie zu analysieren“, berichtet der Gefäßchirurg. Gleichzeitig habe aber auch der Geheimdienst ein Auge auf die Veröffentlichungen, denn taktische Informationen sollen nicht über soziale Medien an die russischen Soldaten gelangen.

Algorithmen der sozialen Medien prüfen die Videos zwar auf sinnvolle Inhalte und sperren sie auf einigen Plattformen wie beispielsweise YouTube für Kinder und Jugendliche. Dass diese im Internet jedoch keine schlimmen Bilder zu sehen bekommen, lasse sich nur schwer verhindern, meint P. und gibt gleichzeitig zu bedenken: „Schlimme Bilder sehen viele Kinder in der Ukraine leider jeden Tag.“ Dafür müssen sie nicht ins Internet schauen, sondern nur aus dem Fenster. Dort sehen sie Zerstörung, und im schlimmsten Fall auf den Straßen Leichen.“

Zumindest eine gute Nachricht kann P. berichten: „Bisher sind wir trotz Anschlägen ohne größeren Strom- und Heizungsausfall in Charkiw davongekommen.“ Aktuell ist es in der Ukraine -15 Grad. Für das kommende Wochenende sind bis zum -30 Grad vorhergesagt.

Igor Prudkov

Wenn Igor Prudkov, der als Psychiater am Gummersbacher Kreiskrankenhaus arbeitet, in diesen Tagen die Bilder der Zerstörung in seiner Heimatstadt Charkiw in der Ukraine sieht, dann muss er jedes Mal schwer schlucken. „All die Orte, an denen ich aufgewachsen bin, so zu sehen ist schlimm.“ Einer der jüngsten Einschläge war nur wenige Meter neben der Schule, die ich als Kind besucht habe“, sagt er.

Es sei genauso, wie vor wenigen Wochen befürchtet, Russland habe lange keine Raketen in die Ukraine geschossen, um an den Weihnachtsfeiertagen eine größere Anzahl abzuschießen. „Anfangs haben wir noch eine Großzahl abgewehrt, doch bei so einer Masse sind auch unsere Abwehrsysteme irgendwann erschöpft“, sagt er.

Nach den jüngsten Ereignissen werden in der Ukraine überall Hilfsmittel benötigt, vor allem medizinische Materialien sowie Medikamente für die Versorgung der vielen Verletzten in den Krankenhäusern, weiß Prudkov von vielen seiner Freunde vor Ort, von denen einige als Mediziner tätig sind. Deshalb ist der Gummersbacher schon wieder tatkräftig damit beschäftigt, Mittel für einen weiteren Hilfstransport zu organisieren.