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Kiesgrube BlessemHochwasserschutz soll von Beginn an nicht ausreichend gewesen sein

Lesezeit 6 Minuten
Kiesgrube Blessem Februar 2022

Nach der Katastrophe im Sommer 2021 hatte sich die Kiesgrube in einen großen See verwandelt.

  1. Von Anfang an soll an der Kiesgrube Blessem kein ausreichender Hochwasserschutz vorgesehen gewesen sein.
  2. Das war 1996.
  3. Warum der Mangel eines Schutzwalls weder den Kontrolleuren der RWE noch jenen der Bezirksregierung Arnsberg auffiel, ist für die Polizei rätselhaft.
  4. Ein Zwischenbericht stellt jetzt den Stand der Ermittlungen dar.

Erftstadt-Blessem – Das Flutdrama in der Radmacherstraße nahe der Kiesgrube in Erftstadt-Blessem nimmt am Abend des 14. Juli 2021 seinen Lauf. Gegen Mitternacht wird die Lage brenzlig. Das Wasser steht bereits knöchelhoch. Peter Müllers Keller läuft voll (Name geändert).

Zunächst versucht der Polizeibeamte, die gelagerten Sachen hoch zu räumen, lässt dann aber davon ab, weil der Pegel ständig steigt. Am frühen Morgen erreicht das Wasser schon das Erdgeschoss. Der Geruch von Heizöl steigt Müller, seiner Frau und dem kleinen Sohn, penetrant in die Nase. Verzweifelt wählt er den Notruf der Feuerwehr, damit diese zumindest seine Familie rausholt. Ohne Erfolg. Müller handelt. Nur in Badehose läuft er hinaus, um sein Auto startklar zu machen. Doch da geht nichts mehr.

Erst zwölf Tage nach der Flut wieder nach Hause

Müller ruft seinen Vater an. Der macht sich umgehend auf den Weg, parkt in der Nähe, wo man gerade noch heranfahren kann, um die Eingeschlossenen zu evakuieren. Müller trägt seinen Sohn huckepack durch das Wasser zum Wagen, seine Frau ist bei ihm, auch den Hund rettet er ins Fahrzeug. Eigentlich will er im Haus ausharren, bis das Hochwasser wieder absinkt. Per Nina-Warn-App erfährt der Polizist dann aber, dass der gesamte Ortsteil Blessem wegen eines Dammbruchs an der Kiesgrube geräumt werden solle.

Erst zwölf Tage später dürfen die Müllers wieder zurück zu ihrem Haus. Was sie sehen, ist niederschmetternd: Ihr Zuhause ist so stark beschädigt, dass es abgerissen werden muss. Auch bei den Nachbarn steht auch kein Stein mehr auf dem anderen.

Bericht des Polizisten Teil aktueller Ermittlungen der Kölner Staatsanwaltschaft zur Kiesgrube Erftstadt-Blessem

Der dramatische Bericht ist nach Recherchen dieser Zeitung Teil der Ermittlungen der Kölner Staatsanwaltschaft. Die Vorwürfe reichen vom Verdacht des fahrlässigen Herbeiführens einer Überschwemmung durch Unterlassen, der Baugefährdung bis hin zum Verstoß gegen das Bundesberggesetz im Zusammenhang mit der Havarie der Kiesgrube. Die Strafverfolger ermitteln gegen zehn Beschuldigte, darunter etwa gegen den technischen Geschäftsführer des Grubenbetreibers Rheinische Baustoffwerke GmbH (RBS) sowie vier weitere Kollegen der RWE-Power-Tochtergesellschaft.

Die Abbruchkante an der Kiesgrube in Erftstadt-Blessem

Die Tatverdächtigen bekundeten, dass sie häufig die Grubenanlagen besichtigt hätten. Warum dabei der fehlende Flut-Wall an der Südseite nicht aufgefallen ist, bleibt laut der Ermittlungskommission der Polizei bisher rätselhaft. Laut einem Zwischenbericht gehen die Strafverfolger davon aus, dass sich bereits seit der ersten Antragsstellung eines Rahmenbetriebsplanes im Jahr 1996 kein ausreichender „Hochwasserschutzwall an der südlichen Grenze des Tagebaus befand“. Dieser Missstand änderte sich demnach auch nicht in den nächsten Jahrzehnten.

Bezirksregierung Arnsberg war zuständig für Sicherheitschecks an der Kiesgrube

Auch vier teils pensionierte Kontrolleure der Bezirksregierung (BZR) Arnsberg werden in den Akten genannt. Seit 2010 waren die Mitarbeiter der Bergbehörde zuständig für die Sicherheitschecks der Kiesgrube. Vermerke und Vernehmungen deuten darauf hin, dass die behördlichen Prüfer bei Begehungen zwischen dem 24. Juni 2015 und dem 20. April 2021 übersahen, dass der Hochwasserschutzwall im südlichen Bereich keinen ausreichenden Schutz bot.

Auch fiel den Experten nicht auf, dass in jenem Sektor bereits in den 90er Jahren Erdrutsche die Barriere „über seine gesamte Länge“ zerstört haben, heißt es in dem Polizeireport. Warum die Bergbau-Experten der Bezirksregierung im Zuge weiterer Genehmigungsverfahren nicht auf einen besseren Hochwasserschutz gedrängt hatten, bleibt demnach bisher ungeklärt.

Grubenbesitzer soll Tagebaugrenze über genehmigte Fläche hinausgeschoben haben

Nicht nur blieb wohl der mangelnde Schutz vor Hochwasser unentdeckt, auch sei niemandem aufgefallen, dass der ebenfalls tatverdächtige Grubenbesitzer, der die Anlage Ende Juli 2016 an die RWE-Tochter verpachtete, die Tagebaugrenze weit über die genehmigte Fläche hinausgeschoben haben soll. Insofern besteht der Verdacht, dass die Kiesgrubenbetreiber sich jahrelang nicht an den Betriebsplan hielten, den die Prüfer der Bezirksregierung Arnsberg vorgegeben hatten.

Den staatlichen Behörden aber fiel das Problem nicht auf. Sie gaben bei jeder Besichtigung grünes Licht. Und wenn sie doch Mängel feststellten, verließen sie sich auf die Zusicherungen der Gruben-Manager, dass man das Problem bald beheben werde. So bestätigte die Aufsicht der BZR am 21. Juni 2017, dass der Schutzwall „den Anforderungen an einen umlaufenden Hochwasserschutz entspricht“. Das Gegenteil soll laut den Ermittlern der Fall gewesen sein. Demnach schützte zum Zeitpunkt der Flutkatastrophe auch Mitte Juli 2021 am südlichen Rand kein Damm, welcher „den anerkannten Regeln der Technik und den Vorgaben der Zulassung“ entsprochen hätte. Eine Verfüllung der Schwachstelle fand den Erkenntnissen zufolge nicht statt.

Kiesgruben-Tragödie weder für Regierung noch für Opposition Thema für Schuldzuweisungen

Die Kiesgruben-Tragödie taugt weder für die SPD-Opposition noch für die schwarz-grüne Landesregierung dazu, im parlamentarischen Flutuntersuchungsausschuss Schuldzuweisungen zu erheben. Sei es unter SPD- oder unter CDU-Regierungspräsidenten – stets handelte es sich weitgehend um dieselben behördlichen Kontrolleure, die nicht richtig hingesehen hatten. Die Bergbehörde in Arnsberg, so legen die Nachforschungen nahe, agierte über Jahre hinweg wie im Blindflug.

Und mit ihnen auch der Erftverband sowie der Rhein-Erft-Kreis, die inzwischen massive Kritik an den fehlenden Schutzmaßnahmen üben. Am entscheidenden Ortstermin im Juni 2015, an dem die Kiesgrube mit neuem Betriebsplan abgesegnet wurde, nahmen auch eine Vertreterin des Erftverbands sowie zwei Protagonisten aus dem Landkreis teil. Die Anwesenden erhoben damals keine Einwände.

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Nach der Betriebsübernahme durch die Firmen-Tochter im Juni 2016 ließ der Mutterkonzern RWE Power AG nach eigenen Angaben jährlich einmal seine Experten aus der Abteilung Geobasisdaten/Marktscheidewesen die Kiesgrube überfliegen. Ergänzt durch weitere Vermessungen bei RBS wurden die Luftaufnahmen alle zwei Jahre auf Fehlstellungen untersucht.

Acht Tage nach der Flutkatastrophe beteuerte die Firmen-Tochter RBS gegenüber der Bezirksregierung Arnsberg, dass „beide Vermessungsmethoden keine Veränderungen an der Hochwasserschutzanlagen gezeigt“ hätten. Die Ermittler hegten ihre Zweifel an der Darstellung. Und so durchsuchten die Beamten im Zuge einer Razzia im Januar 2022 nicht nur die Firmenräume der RBS, sondern auch das Justiziariat und die Abteilung Marktscheidewesen des Energie-Multis, der im rheinischen Revier auf 20 Quadratkilometern Braunkohle abbaut.

Kölner Ermittler: Verantwortliche sollen versucht haben, „Zweifel an der Bergaufsicht nicht aufkommen zu lassen“

Neben zahlreichen Vermessungs- und Gutachterfirmen standen bei der Durchsuchung vor allem die Räume der Bergaufsicht der BZR Arnsberg (Abteilung 6) im Fokus. Von Anfang an sollen die Verantwortlichen versucht haben, die Untersuchung des Kiesgrubenunglücks im Zuge eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens in Eigenregie zu führen. Offenbar, so der Verdacht der Kölner Ermittler, suchten die Prüfer der BZR „Zweifel an der Bergaufsicht nicht aufkommen zu lassen“.

Der zuständige Kölner Oberstaatsanwalt Christoph Nießen ließ sich allerdings nicht beirren und zog die Ermittlungen an sich. Zumal die betreffende BZR-Abteilung in Arnsberg den rheinischen Anklägern laut Nießen nur unvollständige Akten zu dem Fall übermittelt hatte. Auf Anfrage bekundete ein Pressesprecher der BZR Arnsberg stellvertretend für die Beschuldigten im Hause, dass man die Staatsanwaltschaft Köln bei ihren Ermittlungen unterstütze und konstruktiv zusammenarbeite.

Ferner erfolge keine Stellungnahme zu den „ursprünglichen Ermittlungshypothesen“, da die Sachverständigen der Strafverfolger bisher kein Gutachten „zum Hergang und zu den Hochwasserereignissen“ vorgelegt hätten. Anfragen beim Anwalt der RBS und anderen Verteidigern der Beschuldigten blieben unbeantwortet.