Wien/Rhein-Erft-Kreis – „Diese Gebiete werden ab sofort isoliert.“ Der schlanke Satz von Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in einer Pressekonferenz zur Ausbreitung des Coronavirus am 13. März 2020 schlug ein. Viele Touristen in den Tiroler Skiorten Ischgl, Galtür oder St. Anton am Arlberg – diese Gebiete waren gemeint – hörten die Nachricht noch beim Skifahren und wollten durch sofortige Abreise einer möglichen Quarantäne entkommen.
Eineinhalb Jahre später sind vor allem Ischgls Partyszene, seine vielen Après-Skibars und das von Alkohol enthemmte Feiern im Kopf geblieben. Diese Bilder spiegeln nur einen Teil des Skiorts wider – aber sie trugen dazu bei, dass Ischgl zeitweise als Synonym für ein Verdrängen von Corona-Gefahren galt. Der Ort und die Landesregierung haben die Konsequenzen daraus gezogen. Ein Feiern wie früher werde es in diesen Zeiten nicht mehr geben, hieß es mehrfach.
Pulheimer stirbt nach Ski-Urlaub in Ischgl an Corona
In der kommenden Wintersaison sollen nach den Plänen von Tourismusministerin Elisabeth Köstinger strenge Zugangsregeln speziell beim Après-Ski gelten. Davon hat Dörte Sittig aus Pulheim wenig. Ihr Lebensgefährte Rudi Lempik hatte sich im März im Skiurlaub mit Freunden in Ischgl mit dem Coronavirus infiziert. Am 16. April 2020 ist er in der Uniklinik Köln gestorben.
Bis zu seinem letzten Atemzug war Sittig bei ihm. „Meine Hand lag auf seiner Brust“, sagte sie im September 2020 in einem Gespräch mit dieser Zeitung. Sie habe gespürt, wie sein Herz aufgehört habe zu schlagen. „Das war der härteste Weg aller Zeiten.“ Rudi Lempik wurde 52 Jahre alt. Der Betrieb im Ort sei von den Behörden nicht rechtzeitig geschlossen worden. Viele andere Gemeinden hätten hingegen reagiert, sagt Dörte Sittig rückblickend.
Corona-Ausbruch in Ischgl: „Sebastian Kurz ist ein zentraler Zeuge“
Sittig dürfte am kommenden Freitag, 17. September, gebannt nach Österreich schauen, denn dort beginnt im Fall Ischgl der erste Prozess gegen die Republik Österreich. Die Witwe und der Sohn eines österreichischen Journalisten, der vor dem Coronavirus aus Ischgl flüchten wollte und kurz darauf an Covid-19 gestorben ist, verklagen das Land auf 100.000 Euro Schadenersatz.
Es ist das erste von vielen Verfahren auch deutscher Kläger gegen die Republik Österreich. Darunter Dörte Sittig, aber auch der Hürther Jürgen Becker, der mit einer achtköpfigen Reisegruppe zu den letzten Gästen gehörte, die am 9. März im Ischgler „Kitzloch“ gefeiert hatten, bevor das Après-Ski-Lokal von den Behörden geschlossen wurde. Am 11. März kehrte die Gruppe zurück. Vier Skifahrer waren mit dem Coronavirus infiziert, darunter auch Becker. Er schloss sich mit Mitreisenden einer Sammelklage an und lässt sich vom Verbraucherschutzverein vertreten.
Ischgl: Kanzler, Innenminister, Gesundheitsminister und Vizekanzler sollen aussagen
Der VSV hat auch beantragt, den Kanzler, den Innenminister Karl Nehammer, den damaligen Gesundheitsminister Rudolf Anschober sowie Vizekanzler Werner Kogler als Zeugen zu laden. „Kurz ist ein zentraler Zeuge“, sagt Kolba. Er könne darüber aussagen, wie die Absprachen zwischen dem Land Tirol und dem Bund in Wien über die geplante Ausreise gelaufen seien. Aus Sicht des VSV ist Kurz mit seiner Pressekonferenz vorgeprescht, bevor die Vorbereitungen in Ischgl für eine geordnete Abreise abgeschlossen waren. „Mehr als 10.000 Menschen haben das Tal verlassen, aber nur in 2600 Fällen erfolgte ein Kontakt-Tracing mit Hilfe von Gäste-Ausreiseformularen“, so Kolba.
„Hätte den Skibetrieb eine Woche früher schließen müssen“
Der Bericht einer unabhängigen Expertenkommission hält dazu fest: „Diese Ankündigung (Anm.: des Kanzlers) führte bei den Gästen und Mitarbeitern zu Panikreaktionen, die nach den Angaben der Auskunftspersonen, die bei der überstürzten Abreise gegenwärtig waren, von ihnen so noch nie erlebt worden sind.“ Die Chance, das gesamte Wochenende gestaffelt für die Abreise zu nutzen, sei nicht wahrgenommen worden. In Ischgl seien Fehler gemacht worden, aber es sei kein generelles Versagen festzustellen, hieß es in dem vor einem Jahr präsentierten Bericht.
Die österreichische Finanzprokuratur, die die rechtlichen Interessen des Staates vor Gericht vertritt, hat stets betont, alles sei richtig gemacht worden. Bei der Debatte über Fehler der Behörden spielt auch der Hinweis eine Rolle, dass das Wissen über das Virus am Beginn der ersten europaweiten Welle lange nicht so gründlich war wie heute. Das lässt Kolba nicht gelten. „Unser stärkstes Argument ist, dass man eine Woche früher den Skibetrieb hätte schließen müssen“, sagt er mit Verweis auf damals erste Infektionsfälle unter Ischgl-Touristen Anfang März. (ve mit dpa)