Bonn – Im Dezember 1993 regnete wochenlang in Strömen. Die Böden in den westlichen Mittelgebirgen und im Rheinland wurden so feucht, dass sie noch mehr Wasser nicht mehr aufnehmen konnten. Als die Niederschläge endlich aufgehört hatten, verkündeten die Meteorologen weitere Hiobsbotschaften: „Eine ausgeprägte Südwestströmung“ schicke neue „regenintensive Atlantiktiefs nach Mitteleuropa“.
Von 7. bis 20. Dezember 1993 war doppelt so viel Regen gefallen wie im langfristigen Dezember-Mittel, wiesen später Wetterstatistiken aus. Die Nebenflüsse des Rheins schwollen an und drückten ihm ihre Fluten ins Bett, zuerst der Neckar, dann die Nahe, schließlich die Mosel. Am ersten Weihnachtstag zeigte der Pegel Beuel 10,13 Meter an, den höchsten Pegelstand im 20. Jahrhundert.
An Weihnachten 1993 stand der Schürmann-Bau unter Wasser
Vater Rhein überschwemmte Straßen und Keller, aber auch eines der teuersten Bauvorhaben der Bonner Republik, den Schürmann-Bau. In der Folge musste das Landgericht den wahrscheinlich längsten Prozess seiner Geschichte verhandeln.
Anfang der 80er Jahre hatte der Bundestag beschlossen, für die Abgeordneten ein neues Bürohaus zu bauen. Kein Hochhaus wie den zu eng gewordenen Langen Eugen, sondern ein viergeschossiges horizontales Band aus weißem Beton. Der Kölner Architekt Joachim Schürmann gewann den Wettbewerb. Die Bauarbeiten auf einem ehemaligen Sportplatz in Flussnähe, dem „Gronaustadion“, begannen 1989.
Doch am 20. Juni 1991 beschloss der Bundestag, seinen Sitz nach Berlin zu verlegen. Der 300 Meter lange und 120 Meter breite Neubau am Rhein war also nicht mehr nötig. Doch beschlossen ist beschlossen, und mit dem Umzug an die Spree werde es eh noch dauern, hieß es – also wurde weiter gebaut.
Um den Schürmann-Bau bei Hochwasser trocken zu halten, war er für 300 Millionen Mark – fast die Hälfte der veranschlagten Bausumme von 700 Millionen Mark – in eine „Wanne“ gesetzt worden, für die bis in eine Tiefe von 25 Metern 80 Zentimeter dicke Schlitzwände aus Beton in die wasserundurchlässige Tonschicht getrieben wurden. In diese Umrandung wurden vier Untergeschosse gemauert, und dann auf einen Teil davon das viergeschossige Bürohaus.
Auf 38 Metern fehlte die Gummidichtung
Auf den nicht überbauten Teil des Kellers kam ein Deckel. Damit kein Wasser eindrang, wurde die Spalte zwischen den Schlitzwänden und der „Wanne“ mit einer Dichtung aus Beton und Gummi verschlossen. Doch auf einer Länge von 38 Metern fehlte die Abdichtung – das Rohbau-Unternehmen hatte sie entfernt und nicht ersetzt. Warum, weiß man bis heute nicht.
Dieser Schwachpunkt im Hochwasserschutz war indes bekannt, denn als der Rhein in den Vorweihnachtstagen bedenklich anschwoll, soll der verantwortliche Bauleiter der Bundesbaudirektion verkündet haben: „Dat machen wir bei!“ Eiligst wurden Erdwälle aufgeschüttet und die Baustelle rundum mit Magerbeton abgedichtet.
Aber die rheinische Lösung funktionierte nicht, „dat“ ließ sich nicht mehr „beimachen“. Am 22. Dezember schwappte das Wasser durch die undichte Stelle in die Untergeschosse des Schürmann-Baus, die schließlich vollliefen. Am Abend hörten die Bauleute ein Knacken, das große Haus schwamm auf wie ein Brötchen in einer Schüssel Milch.
Jetzt hätte man das Gebäude fluten können, damit es sich wieder setzt, doch kurz vor Weihnachten waren Lüftungsanlagen geliefert worden, die im Keller lagerten, und niemand wollte offenbar die Verantwortung dafür übernehmen, die teuren Technikaggregate zu vernichten. Der Bau hob sich bis zu 70 Zentimeter und verkantete sich dann, das Fundament legte sich schief, aus dem Rohbau war fast eine Ruine geworden. Am 3. Januar 1994 wurde die Baustelle stillgelegt.
Der Bund verklagte 14 gegnerische Parteien
Wer war schuld? Der Bund als Bauherr? Die Bauunternehmen? Oder die für die Bauaufsicht zuständigen Architekten? (Das war nicht das namengebende Büro Schürmann.) Diese Fragen sollte die 1. Zivilkammer des Bonner Landgerichts klären.
Am 12. Januar 1994, gut drei Wochen nach dem Desaster, reichte ein Bauunternehmer bei Gericht einen Beweissicherungsantrag ein, um Ursache und Ausmaß des Schadens feststellen zu lassen. Der Bund wiederum verklagte im Gegenzug 14 gegnerische Parteien.
Am 31. Januar 1994 fasste die Kammer einen ersten Beschluss über 60 Beweisfragen, die von zwei Gutachtern geklärt werden sollten. Taucher stiegen in die überfluteten Tiefgeschosse und fotografierten die Schäden, ehe im Sommer 1994 der Bund die Keller leerpumpen ließ. Im Oktober legten die Gutachter ihre Schadensbilanz vor, im Juli 1995 folgten die Sanierungsvorschläge mit vier Alternativen, die 20, 35, 80 oder aber 200 Millionen Mark kosten sollten.
Die Baustelle wurde als „teuerstes Feuchtbiotop der Welt“ verspottet
Das Gericht forderte die Beteiligten zu Stellungnahmen auf, die wiederum zu einem Beweisbeschluss der Kammer mit 160 Beweisfragen führten. Das Verfahren weitete sich also aus.Während Gutachter und Juristen über Akten saßen, stapfte Bauminister Klaus Töpfer mehrmals, jeweils begleitet von einem Pulk von Presseleuten, über die als „teuerstes Feuchtbiotop der Welt“ verspottete Baustelle und verbreitete Zuversicht mit einem Satz, den Jahre später in einem anderen Zusammenhang auch Kanzlerin Angela Merkel aussprach: „Wir schaffen das!“
Denn der Schürmann-Bau sollte auf Betreiben von Bundeskanzler Helmut Kohl, der „in Bonn keine Ruinen“ hinterlassen wollte, wiederhergestellt werden, statt des Bundestages mit der Deutschen Welle als neuem Mieter, die ihr asbestverseuchtes Hochhaus am Raderberggürtel in Köln räumen musste.
Der Sender zog 2002 von Köln nach Bonn
Die Deutsche Welle zog 2002 von Köln in den sanierten Schürmann-Bau. Der Umzug kostete 15 Millionen Euro. Von Bonn aus werden heute ausschließlich die Hörfunkprogramme des deutschen Auslandssenders übertragen, das Fernsehprogramm kommt aus Berlin. Die Online-Dienste werden an beiden Standorten produziert.
Insgesamt soll der Bund in den Schürmann-Bau 300 Millionen Euro investiert haben, davon 75 Millionen Euro für die Sanierung. (dbr)
1997 begann unter dem Aktenzeichen 1 O 376/97 und unter dem Vorsitz von Richter Heinz Sonnenberger der Schadenersatzprozess. Und der dauerte. Erst am 14. März 2000, der Bundestag war inzwischen schon nach Berlin gezogen, erging ein 155 Seiten langes Urteil: Das Gericht erkannte die vom Bund erhobene Schadensersatzklage über 286 Millionen Mark gegen zwei Baufirmen und vier bauüberwachende Architekten dem Grunde nach an. Begründung: Die Lücke im Hochwasserschutz habe zu der Überschwemmung geführt.
Die Verklagten wollten den Bonner Spruch nicht hinnehmen und riefen die nächste Instanz an. Das Oberlandesgericht Köln gab der Klage nur zur Hälfte statt. Dagegen legten der Bund und die Rohbauunternehmer Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) ein.
Der VII. Senat entschied, nicht nur die Bauunternehmer, auch der Bund trage Verantwortung für die Überflutung des Schürmann-Baus. Den Schaden müssten sie je zur Hälfte tragen. Man schrieb das Jahr 2003, doch das war nicht das Ende des Verfahrens.
Von März 2006 an ging es weiter vor der Staatshaftungskammer des Landgerichts, nun ausschließlich um die Schadenssumme. Beklagte waren nur noch die Baufirmen, mit den Architekten war zwischenzeitlich eine außergerichtliche, öffentlich nicht bezifferte Einigung gelungen. Im Juli 2007 schlugen die Richter vor, der Bund solle sich mit 55 Millionen Euro Entschädigung zufriedengeben. Man bat um Bedenkzeit.
Die Entschädigung wurde 14 Jahre nach dem Hochwasser festgelegt
Am 16. November 2007, 14 Jahre nach der Flut und zehn Jahre nach der ersten Schadensersatzklage, kam die Einigung: Die Baufirmen folgten dem Vergleichsvorschlag des Gerichts und verpflichteten sich, dem Bund 55 Millionen Euro zu überweisen. Alle gegenseitigen Ansprüche wurden damit für erledigt erklärt.
„Jetzt haben wir eine historische Sache beschlossen“, freute sich Heinz Sonnenberger, der Vorsitzende Richter. Auch Wolfgang Lorenzen, der Anwalt des Bundes, war erleichtert: „Wir hätten das Verfahren noch 15 Jahre weiterführen können“. Das wäre dann 2022 geworden.
Als Sonnenberger im Februar 2014 in Pension ging, überreichte ihm Lorenzen als Abschiedsgeschenk eine Flasche „1993er Weihnachtshochwasser“. Der damalige Bauleiter der Bundesbaudirektion hatte zwölf davon in den Katakomben des Schürmann-Baus abgefüllt und den Korken mit Wachs versiegelt. „Zur Erinnerung und Mahnung“, wie auf dem Etikett der schlanken Flasche zu lesen war.
Und weiter: „Während oben die Wellen immer höherschlugen, hatte das Rheinwasser hier unten Zeit, zu Reife und inneren Klärung zu gelangen. Immerhin ist es mittlerweile zum teuersten Wasser der Republik geworden.“