Berlin – Manchmal bekommen Zahlen eine Art magischen Glanz. Den Grünen geht das gerade so mit der 26. 26 Prozent Zustimmung ermittelt die Forschungsgruppe Wahlen in ihrer aktuellen Umfrage zur Wahlpräferenz, genauso wie Infratest dimap Emnid. Beim Forsa-Institut sind es 28 Prozent. Es ist nicht nur ein historisches Hoch für die Grünen. Sie haben damit auch die Union überholt und sich den Platz 1 in den Umfragen gesichert. Viereinhalb Monate vor der Bundestagswahl. Wären die Umfragen Wahlergebnisse, hätten die Grünen rund 40 Jahre nach ihrer Gründung zum ersten Mal die Bundestagswahl gewonnen. Parteichefin Annalena Baerbock Bundeskanzlerin – mit 40 Jahren die jüngste in der Geschichte des Landes, die erste Mutter, die erste Grüne. Was würde sich ändern?
Fragt man die Union stünde ein Drama bevor, eine „linke Republik“ nämlich, wie CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak vor kurzem der NZZ gesagt hat, mit „Bremsklötzen und Straßensperren für das gesamte Land“.Fragt man die Grünen, klingen sie mal radikal, mal beschwichtigend.
„Wir wollen nicht alles ändern“, sagt Kanzlerkandidatin Annalena bei einem Auftritt bei der US-Denkfabrik Atlantic Council in der vergangenen Woche. Ihr Co-Parteichef Robert Habeck versichert am Montag, man werde an den Grundpfeilern der Republik nichts ändern: Deutschland bleibe Mitglied in der Nato und Industrieland. Es ist eine Spitze gegen die Linkspartei, die an diesem Tag ihre Spitzenkandidaten kürt. Aber es ist auch eine Selbstvergewisserung der besonderen Art: Nato und Schwerindustrie – das ist nicht immer schon gut zusammengegangen mit den Grünen.
Baerbock kann auch drastisch werden
Aber Baerbock kann auch drastisch werden: Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Wiedervereinigung sei man nun wieder an einer Weggabelung. Das Land müsse klimaneutral, die soziale zur sozialökologischen Marktwirtschaft werden. Systemänderung, so nennt Baerbock das.
Damit der Klima-Plan der Grünen gelingt, muss viel ineinander greifen: Die erneuerbaren Energien müssen ausgebaut, Verkehr anders organisiert werden, der CO2-Preis muss steigen. Die Assoziationen der politischen Gegner sind schnell an der Hand: flackernde Lichter, Autoverbot, höhere Kosten für alle. Wirklich?
Nein, sagt Baerbock. Sie sei selbst auf dem Land aufgewachsen und wisse, dass man da ein Auto brauche, zumindest solange der Nahverkehr nicht vernünftig funktioniere. Also: Autos bleiben, ab 2030 allerdings sollen die Neuwagen keine Dieselmotoren mehr haben. Damit die Autoindustrie das schafft, planen die Grünen staatliche Unterstützungsprogramme.
Auch für die Grundstoffindustrie, die Stahl- und die Zementbranche, in der viel CO2 anfällt, soll es staatliche Unterstützung für den Umbau geben – und zwar möglichst schnell. Die Grünen gehen davon aus, dass die Unternehmen mitmachen – auch weil sie mit klimaneutralen Produkten einen Wettbewerbsvorteil gegenüber etwa Billig-Stahl aus China hätten, mit dem sie preislich schon heute kaum mehr mithalten können.
Mehr Windräder und Schluss mit dem Rasen auf Autobahnen
Mehr Windräder würde es mit einer Kanzlerin Baerbock wohl geben, weil die Grünen die Abstandsregeln zu Siedlungen abschwächen wollen. Und mehr Sonnenkollektoren auf Dächern, die grün-schwarze baden-württembergische Regierung hat das bereits vorgemacht – und damitauch im CSU-regierten Bayern Anklang gefunden.Für den Verbraucher bedeutete ein höherer CO2-Preis höhere Heizkosten – allerdings soll ein staatliches Energiegeld für einen Ausgleich sorgen.
Schluss ist mit dem Rasen auf Autobahnen: Hier gilt in einer grünen Republik Tempo 130. Und das neue Handy kommt künftig mit Pfand – damit es auch nach dem Ausrangieren auch wirklich recycelt wird.
Ein Superministerium aus Wirtschaft, Umwelt und Verkehr böte sich da an, Co-Parteichef Robert Habeck, der in Schleswig-Holstein Umweltminister war, könnte es übernehmen oder der Grünen-Fraktionsvorsitzende und Verkehrsexperte Anton Hofreiter, einer der zentralen Vertreter des linken Parteiflügels.
Die Wirtschaft wartet auf das Startsignal
Bei den Grünen heißt es, man habe bereits viele Kontakte zur Wirtschaft geknüpft, die warte nur auf ein Startsignal. Die Stellungnahme des Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) zum Grünen-Wahlprogramm ist allerdings ein Verriss: „Viel Schatten, wenig Licht“ gebe es und zu viele Verbote und Vorgaben.
Die Grünen versprechen das Ende vom Agenda-2010-Kernprodukt Hartz IV, die neue Garantiesicherung soll keine Sanktionen mehr vorsehen. Die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen könnte schnell geändert werden, auch die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro haben mehrere Parteien im Programm.
Wer sehr gut verdient, bekommt künftig etwas weniger heraus: Es gibt höhere Steuersätze für Jahreseinkommen ab 100.000 und ab 250.000 Euro. Auch eine Vermögenssteuer ist geplant. Die größte Schwierigkeit: Für die Finanzierung der milliardenschweren Investitionsprogramme soll die Schuldenbremse umgebaut werden. Weil diese im Grundgesetz steht, müssten auch die Bundesländer zustimmen – die Union muss also auf jeden Fall überzeugt werden.
In manchen Punkten möchten die Grünen nicht zu radikal wirken
Interessant sind die Punkte, an denen die Grünen versuchen, nicht allzu radikal zu wirken. Dem Wunsch der Grünen Jugend nach einem Mietendeckel ist die Parteispitze bislang nicht nachkommen, sie plädiert für eine etwas verschärfte Mietpreisbremse. Abschiebungen wird es auch mit den Grünen geben. Das Drängen auf eine humanere europäische Flüchtlingspolitik wird in der EU nicht einfacher. Allerdings könnten die Grünen Städten und Ländern erlauben, selbständig Flüchtlinge etwa von den griechischen Inseln aufzunehmen
In der Außenpolitik steht Baerbock für einen strengeren Umgang mit Russland: Sie will den Bau der Gaspipeline North-Stream 2 stoppen, und geht damit auf Kurs der USA und der EU.
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Geld fürs Militär gäbe es auch für den Grünen, aber es soll zielgerichteter eingesetzt werden. Das vor Jahren festgelegte Zwei-Prozent-Steigerungs-Ziel will Baerbock der Nato ausreden. Auslandseinsätze der Bundeswehr gäbe es mit Uno-Mandat weiter.
Baerbock spricht oft vom „Beginn einer neuen Epoche“, von mehr Weitsicht und langfristigen Konzepten. Viel wird dabei auch vom Koalitionspartner und vom Verhandlungsgeschick abhängen. Mit der Union könnte es vor allem in der Finanzpolitik Probleme geben, mit der Linkspartei in der Außenpolitik, FDP und SPD könnten beim Klimaschutz bremsen.
Für alle, die von Umbrüchen nicht so viel halten, hat Baerbock bei einem Parteitag im Dezember einen Bibelspruch ausprobiert: „Fürchtet euch nicht.“