Frau Ministerin, wird sich durch die wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine die Kinderarmut in Deutschland verschärfen?
Die Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln sind drastisch. Die Gefahr, dass die Kinderarmut zunimmt, ist groß. Deshalb müssen wir mit weiteren Entlastungen gegensteuern. Sie müssen auch zielgenau diejenigen erreichen, die sie am meisten brauchen. Es geht inzwischen um die Existenz. Viele Menschen, darunter gerade Familien mit Kindern, stehen finanziell mit dem Rücken zur Wand.
Was ist das Wichtigste, was jetzt geschehen muss, um Familien zu helfen?
In der Corona-Zeit haben Einmalzahlungen sehr gut gewirkt. Jetzt sind wir in einer Situation, in der das nicht mehr ausreicht. Wir brauchen dringend eine Kindergelderhöhung. Die erreicht alle Familien. Mit angepassten höheren Leistungen in der Grundsicherung müssen wir zudem besonders den Ärmsten im Land helfen.
Kindergelderhöhung unzureichend
Finanzminister Christian Lindner hat eine Kindergelderhöhung bereits angekündigt – mit einem Plus von acht Euro jeweils für die ersten beiden Kinder und von zwei Euro für das dritte Kind. Reicht das?
Nein. Die Kindergelderhöhung, die der Bundesfinanzminister bislang in Aussicht stellt, reicht nicht, um die allgemeine Inflation auszugleichen. Da müssen wir nachbessern. Zusätzlich muss die Kindergelderhöhung in ein Gesamtkonzept eingebettet sein, durch das Familien auch an anderer Stelle Unterstützung erfahren. Sie sind es, die von höheren Heizkosten, höheren Preisen für Mobilität und steigenden Lebensmittelpreisen besonders hart getroffen werden.
Was hat jetzt Vorrang: den Ärmsten zu helfen oder auch den Menschen mit mittleren Einkommen Entlastung zu verschaffen?
Menschen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben, werden von der Inflation dreimal stärker getroffen als andere. Sie geben einen großen Teil ihres Geldes allein schon für Lebensmittel aus. Deshalb müssen wir das tatsächliche Existenzminimum sichern. Der Regelsatz in der Grundsicherung reicht wegen der steigenden Inflation nicht mehr aus. An einer Erhöhung führt kein Weg vorbei. Aber auch Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen werden nicht allein gelassen. Der Staat kann nicht jeden Nachtteil ausgleichen. Aber wir werden die Menschen nicht in der Kälte stehen lassen.
Grundsicherung nicht für „dynamische Situation“ geeignet
Muss der Regelsatz künftig anderes berechnet werden als jetzt?
Ich teile die Auffassung des Bundesarbeitsministers, dass wir eine andere Berechnungsgrundlage für die Grundsicherung brauchen. So, wie der Regelsatz für Hartz IV bisher berechnet wird, gibt es einen Ausgleich für die Inflation nur mit erheblicher Verzögerung. Dadurch können jetzt Menschen in echte Not gestürzt werden. Für eine dynamische Situation, wie wir sie derzeit haben, ist das bisherige Berechnungssystem nicht geeignet. Daran müssen wir arbeiten. Mir ist dabei wichtig: Nicht nur die Regelsätze für Erwachsene, auch die für Kinder müssen stark steigen.
Können wir uns beides leisten: eine höhere Grundsicherung und spürbare Entlastungen für Menschen mit unteren und mittleren Einkommen?
Wir müssen uns beides leisten.
Sollten wir also die Schuldenbremse für das kommende Jahr noch einmal aussetzen?
Diese Regierung hat sich in dieser Krise dadurch ausgezeichnet, dass sie das, was notwendig ist, auch ermöglicht – denken Sie nur an die Grundgesetzänderung für das Sondervermögen für die Bundeswehr. Deswegen bin ich sicher, dass wir auch bei der weiteren Finanzierung von Entlastungen auf der Höhe der Zeit sein werden.
Das ist schön, es beantwortet die Frage aber nicht.
Die Bundesregierung hat im Licht der ökonomischen Situation im Frühjahr einen Haushalt für das kommende Jahr vorgelegt, der die Schuldenbremse einhält. Wir befinden uns, mit Krieg in Europa und der Pandemie, hoher Inflation und steigenden Energiekosten in einer Ausnahmesituation. Die momentane Dynamik spricht nicht dafür, dass 2023 ein einfaches Jahr sein wird. Wir werden darüber reden müssen, ob es mit Blick auf das Grundgesetz gute Argumente dafür gibt, die Schuldenbremse für das Jahr 2023 noch einmal auszusetzen.
Entlastungen für Menschen in finanzieller Schieflage
Braucht es – gerade mit Blick auf die Gasumlage – auch zusätzliche Entlastungen, die schon in diesem Jahr wirken?
Bei den Menschen, die jetzt in finanzielle Schieflage geraten, kann die zusätzliche Hilfe nicht bis zum nächsten Jahr warten. Ein Teil des nächsten Entlastungspakets muss in diesem Jahr bei denen ankommen, die Unterstützung brauchen.
Das zentrale Vorhaben der Ampel-Koalition im Kampf gegen Kinderarmut ist die Kindergrundsicherung. Dennoch ist ein langer Vorlauf geplant. Was ist so kompliziert an dem Projekt?
Ich freue mich über die Ungeduld. Das ist ein dickes Brett, das wir bohren wollen und müssen. Viele Ministerien sind beteiligt. Es sollen sehr unterschiedliche Leistungen – vom Kindergeld über den Kinderzuschlag bis zur Grundsicherung für Kinder – zusammengeführt werden, für deren Auszahlung bislang verschiedene Stellen zuständig sind. Am Ende soll eine Kindergrundsicherung stehen, bei der es für jedes Kind einen Grundbetrag gibt und dann, nach Einkommen gestaffelt, Zusatzbeträge hinzukommen. Damit sorgen wir für Gerechtigkeit. Und wir sorgen dafür, dass das Geld bei den Kindern und Familien ankommt, die es dringend brauchen.
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Paus will Kindergrundsicherung bis 2025
Wann kommt die Kindergrundsicherung also?
Ich will bis Herbst kommenden Jahres ein Gesetz zur Kindergrundsicherung vorlegen. Dieses Gesetz muss dann noch durch Bundestag und Bundesrat. Auch für die technische Umsetzung brauchen wir noch Vorbereitungszeit. Erstmals ausgezahlt werden soll die Kindergrundsicherung 2025.
Müssen Schulen und Kitas – im Fall der Energieknappheit – im Herbst und im Winter auf jeden Fall bevorzugt mit Gas versorgt werden?
Auf jeden Fall. Schulen und Kitas sind zu hundert Prozent kritische Infrastruktur und müssen bevorzugt mit Gas versorgt werden. Der Corona-Lockdown hat Schäden genug hinterlassen. Wir dürfen den jungen Menschen nicht den Eindruck vermitteln, dass sie eine Generation sind, deren Belange immer hinter anderem zurücksteht.
Greift das künftige Infektionsschutzgesetz weit genug? Kann es verhindern, dass faktisch vielerorts die Schule ausfällt – einfach, weil zu viele Lehrerinnen und Lehrer krank sind?
Das neue Infektionsschutzgesetz gibt den Ländern die Möglichkeit, in den Schulen von der Maskenpflicht Gebrauch zu machen. Mein Appell an die Länder ist: Nutzt diese Möglichkeit in den Schulen, wenn es nötig ist! Das ist besser, als wenn wegen zu vieler kranker Lehrkräfte der Unterricht ausfällt.Das Familienministerium kümmert sich auch um Demokratieförderung. Was würde es für unsere Demokratie bedeuten, wenn die Politik es nicht schafft, den Menschen mit ausreichenden Entlastungen über den Winter zu helfen?
Das darf nicht passieren. Menschen in diesem Winter ohne hinreichende Hilfe in existenzbedrohenden Situationen allein zu lassen, ist gesellschaftlicher Sprengstoff. Der russische Präsident Wladimir Putin will unsere Demokratie destabilisieren, indem er die Gaszufuhr drosselt. Wir dürfen, ihm da nicht auch noch zur Hand zu gehen. Gerade jetzt müssen wir den Zusammenhalt im Land stärken.