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Gerhard Schröder im Interview„Idioten gibt es überall“

Lesezeit 17 Minuten
Schröder

Der letzte noch lebende Altkanzler: Gerhard Schröder

  1. Er ist der einzige noch lebende Ex-Bundeskanzler – und entdeckt gerade das Podcasten für sich.
  2. Im Interview sprich Gerhard Schröder darüber, was er von Angela Merkels Corona-Politik hält, was er so auf Instagram treibt, und wie er die Lage bei der SPD einschätzt.
  3. Außerdem verrät er, ob er rückblickend in der berühmten Elefantenrunde am Wahlabend 2005 bescheidener aufgetreten wäre.

Herr Schröder, was hätten Sie in der Corona-Krise anders gemacht als Angela Merkel?Gerhard Schröder: Kaum etwas. Ich finde, dass die Regierung einen richtig guten Job gemacht hat. Das betrifft auch die Bundeskanzlerin. Wenn es ein Land gegeben hat, in dem man in einer solchen Situation gerne lebt, dann ist das Deutschland. Südkorea, die Heimat meiner Frau, hat das auch gut gelöst. Wenn ich mir dagegen Vergleiche wie England oder Amerika anschaue – das ist doch eine reine Katastrophe, von Brasilien gar nicht zu reden. Was sich bewährt hat, ist unser zwar teures, aber wirklich gutes Gesundheitssystem. Aber wir müssen gründlich darüber nachdenken, ob die Konzentrationsbewegungen, also das Abschaffen der kleinen Kliniken aus finanziellen Gründen, wirklich das Gelbe vom Ei sind. Das sollte dringend noch einmal überdacht werden angesichts dieser Pandemie. Denn sie muss ja, wenn man den Experten glauben kann, nicht die Letzte gewesen sein.

Es ist ja nicht einfach für die Politik, auf der schmalen Klinge zwischen Panikmache und ernster Aufklärung zu balancieren. Wem gelingt das aus Ihrer Sicht ganz gut? Herrn Söder?

Ja, auch. Der ist ein bisschen vorgeprescht, aber das hatte auch damit zu tun, dass er in Bayern die meisten Infektionen hatte in Deutschland. Deshalb war er ein bisschen autoritärer. Das liegt der CSU ja im Blut. Ich finde auch, dass sich der Föderalismus bewährt hat. Unterschiedliche Entwicklungen in den Ländern mit differenzierten Entscheidungen zu begleiten war ja vernünftig. Auch Herr Spahn hat einen guten Job gemacht, das gilt auch für den sozialen Bereich mit all dem, was die Familienministerin Franziska Giffey für Familien gemacht hat oder Hubertus Heil als Arbeitsminister mit der Kurzarbeit. Mich hat auch die Bereitschaft von Finanzminister Olaf Scholz gefreut, in der Wirtschaftspolitik die “Bazooka” herauszuholen, wie er das genannt hat.

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“Bazooka” und “Wumms” – das sind ja eigentlich Schröder-Vokabeln, oder?

Sicher. Ich finde aber ganz gut, dass er das auch kann. Obwohl die Hanseaten immer ein bisschen feiner und zurückhaltender sind als die Hannoveraner.

Sehen Sie den Föderalismus wirklich so positiv? Es gab dann doch ein ziemlich absurdes Wettbieten zwischen den Ministerpräsidenten um die Lockerungen der Corona-Maßnahmen. Da ging es doch nur um Profilierung, oder?

In der Politik sollte es in erster Linie um die Sache gehen. Aber ich denke – und wer bin ich, dass ich das zu kritisieren hätte? –, dass es auch immer um Profilierung geht, gar keine Frage. In diesem Fall war das die Profilierung von Herrn Söder auf der einen und Herrn Laschet auf der anderen Seite. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil hat dabei ja eher eine beruhigende Rolle gespielt. Und das war auch gut so. Er musste sich daran ja auch nicht beteiligen, weil er keinen Ehrgeiz hat, Kanzlerkandidat zu werden.

Stichwort Profilierung: Der NRW-Ministerpräsident Armin Laschet hat gesagt, die neuen Corona-Fälle in der Fleischverarbeitung hätten mit den Lockerungen nichts zu tun, das Virus sei von Rumänen eingeschleppt worden. Was denken Sie, wenn Sie so etwas hören?

Ich finde, er soll die Verantwortlichkeiten klar machen. Und die liegen eben in dieser bestimmten Struktur mit lauter Sub-Sub-Unternehmen, in der derjenige, der die Arbeit letztlich empfängt und über verschiedene Stationen auch bezahlen muss, sich von der Verantwortung freikauft. Das geht nicht. Derjenige, um dessen Betrieb es geht, muss dafür gerade stehen, wie die Menschen untergebracht und wie sie bezahlt werden. Man kann das nicht an Sub-Sub-Unternehmer weitergeben. Und da kann man auch Herrn Tönnies nicht außen vor lassen.

Die Corona-Krise bringt manches ans Licht, das im Argen liegt. Wie ist Ihre Haltung zu den Corona-Skeptikern und ihren sogenannten Hygienedemonstrationen?

Idioten gibt es überall. Entschuldigung, wenn ich das mal so deutlich sage. Aber diese Verschwörungstheorien, die jetzt zirkulieren – das ist doch wirklich offenkundiger Unsinn. Als wenn jemand im Hintergrund die Fäden zöge, und sei es Bill Gates oder wer auch immer. Aber in einer freien Gesellschaft müssen wir damit leben, dass diese Leute sich äußern dürfen. Wenn sie es denn mit Mundschutz tun in dieser Zeit, dann ist das auch in Ordnung. Wenn sie es nicht tun, dann ist es auch in Ordnung, wenn die Polizei ihre Pflicht tut.

Auf die Frage, wie Sie selbst die Corona-Zeit verbringen, gab es bei Instagram eine Antwort: Da rühren Sie in einer Bratpfanne herum und tragen dazu eine blaue Daunenweste mit nackten Armen. Viele haben sich die Frage gestellt: Was macht der Mann da?

Ich koche inzwischen ganz gern – nicht so sehr gut und auch nicht viel, ich kann Pilze machen in der Pfanne und auch Bratkartoffeln mit Spiegelei und gelegentlich Spaghetti. Aber das ist es dann auch.

Tragen Sie eine Maske beim Einkaufen?

Natürlich. Wir sind schon mit Masken in den Geschäften herumgelaufen, bevor es Pflicht wurde. Für meine Frau, die ja Koreanerin ist, ist es viel selbstverständlicher, Maske zu tragen. Diese Kultur habe ich übernommen, wenn auch am Anfang nicht ganz freiwillig, sondern unter sanftem Druck, das gebe ich zu. Ich habe mich aber schnell überzeugen lassen, dass das vernünftig ist. Mich hat wirklich geärgert, dass sogar Ärztepräsidenten anfangs gesagt haben: Wer eine Maske trägt, glaubt, er sei total geschützt und wäscht sich dann die Hände nicht. Da unterschätzen sie die Intelligenz der Bevölkerung. Das ist unsinnig.

Sind Sie manchmal froh, dass die sozialen Medien in Ihrer Regierungszeit noch nicht so mächtig waren?

Da haben Sie Recht. Ich bin manchmal froh darüber. Und deshalb bin ich auch überzeugter Zeitungs- und Magazinleser und werde das auch bleiben. Ich brauche so ein Ding vor der Nase, um mich zu informieren. Ich liebe Papier. Im Moment dominiert im Netz Diffamierung bis hin zum Hass. Und ich finde es richtig, dass die Bundesregierung diejenigen Firmen, die daran verdienen, verpflichten will, alles, was auf ihren Plattformen gegen deutsches Recht verstößt, zu melden. Die verdienen einen Haufen Geld damit, aber ein bisschen müssen sie auch für die Gesellschaft tun. Ich verstehe diejenigen nicht, die es für undemokratisch halten, wenn solche Unternehmen dem Bundeskriminalamt übelste Vorgänge melden sollen. Undemokratisch ist es eher, wenn Hassreden im Netz ungestraft bleiben. Das hat nichts mit Demokratie zu tun. Diejenigen, die meinen, die Freiheit im Netz müsse grenzenlos sein, sind auf dem verdammt falschen Dampfer.

Es ist jetzt 21 Jahre her, dass Sie sagten, zum Regieren brauche man im Prinzip nur “Bild, Bams und Glotze”. Gilt das heute noch?

Nein. Das reicht schon lange nicht mehr. Wer heute politisch arbeitet, muss in den sozialen Medien präsent sein.

Ist Unterhaltungstalent wichtig in der Politik?

Es wird ja häufiger gesagt, die Zeit sei vorbei, in der Politik auch menschlich erklärt werden muss, und zwar von Menschen, deren Profil über reine Seriosität hinausgeht. Ich bin ja immer mal dafür gescholten worden, ich sei ein Medienkanzler – und zwar von Journalisten! Ich hab mich immer gewundert. Wieso schelten die mich, nur weil ich auch mal Dinge sage, die noch nicht durch drei Referentenstellen gegangen sind? Ich glaube, das wird ein bisschen vermisst in Deutschland.

Olaf Scholz dampft jetzt auch nicht gerade vor Charisma und Chuzpe, oder?

Das stimmt. Aber er war einer der erfolgreichsten Ersten Bürgermeister in Hamburg. Das sollte der SPD auch mal zu denken geben. So ganz falsch ist es ja nicht, wenn man auch mal Wahlen gewinnen kann, finde ich jedenfalls. Er hat ja auch bewiesen, dass seine Fixierung als Finanzminister auf das, was man “schwarze Null” nennt, in der Krise gründlich aufgehört hat. Und es war ja auch seine zurückhaltende Art im Finanzministerium, die dazu geführt hat, dass Deutschland sich die “Bazooka” jetzt überhaupt leisten kann, im Unterschied zu vielen Ländern in Europa, die rechtzeitige Reformen verpasst haben. Ich bin ganz froh, darauf hinweisen zu können, dass wir schneller gewesen sind mit der Agenda 2010. Hätte die SPD begriffen, was darin für eine Chance liegt, würde sie sich heute nicht um 15 Prozent sorgen müssen, sondern eher um 30.

Zur Person

Gerhard Schröder, geboren am 7. April 1944 in Mossenberg-Wöhren, war von 1990 bis 1998 Ministerpräsident von Niedersachsen und von Oktober 1998 bis November 2005 der siebte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Seit dem Ende seiner politischen Karriere arbeitet er als Wirtschaftsanwalt sowie für mehrere Wirtschaftsunternehmen und Vereine. Kürzlich hat er seinen eigenen Podcast “Gerhard Schröder – Die Agenda” gestartet. Beim Berufsnetzwerk Linkedin steht sein Profil auf Platz eins der meistverlinkten Einträge deutscher Politiker. Schröder ist in fünfter Ehe mit der südkoreanische Wirtschaftsexpertin So-yeon Kim verheiratet.

“Die Agenda 2010 sind nicht die zehn Gebote, und niemand, der daran mitgearbeitet hat, sollte sich als Moses begreifen.” Das ist ein Zitat von... ?

… mir. Die Agenda 2010 ist ein Konzept, das auf dem Papier entworfen wurde. Und wenn sich eine theoretische Konstruktion in der Wirklichkeit als partiell nicht zureichend erweist, muss man sie eben verändern. Sie ist nicht in Stein gemeißelt, und ich bin schon gar nicht Moses. Deshalb sage ich: Veränderung ja – aber das Prinzip darf nicht aufgelöst werden. Und das Prinzip heißt schlicht: Jeder muss das tun, was ihm möglich ist. Jeder muss mithelfen. Es sei denn, er ist krank, zu alt oder zu jung. Aber wer etwas leisten kann, muss diese Leistung der Gesellschaft zur Verfügung stellen. Und wenn das nicht genügt, um sein Leben vernünftig führen zu können, muss der Sozialstaat einstehen. Aber dass derjenige sich auf die faule Haut legen und gar nichts machen kann, halte ich für falsch.

Die Reformen führten aber auch zu einer massiven Zunahme prekär beschäftigter Hilfsarbeiter. Sind Sie bei dem Versuch, die Menschen zu aktivieren, zu weit gegangen?

Das glaube ich nicht. Und es ist auch falsch. Wir haben in dieser Phase ja auch in der Sozialpolitik mehr Geld ausgegeben und einen Teil des eingesparten Geldes dafür eingesetzt, um zum Beispiel den Ländern bei der Finanzierung von Gesamtschulen zu helfen oder Kinder zu unterstützen, die nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden. Den Niedriglohnsektor gibt es in anderen Ländern in viel größerem Umfang. Man kann immer über Fehler reden. Aber das Prinzip war richtig. Das zeigt sich auch daran, dass Deutschland im Moment mit Abstand die stärkste Volkswirtschaft Europas ist. Wir waren der kranke Mann, jetzt sind wir die gesunde Frau, obwohl die relativ wenig dafür konnte.

Ist es denn richtig, in der Corona-Krise mit der bisherigen sparsamen Finanzpolitik zu brechen, mehr als 150 Milliarden Euro in die Hand zu nehmen und zu sagen: Was auch passiert – unsere Enkel bezahlen das?

Was wäre denn passiert, wenn wir nichts gemacht hätten? Glauben Sie, dass unsere Kinder und Enkel dann besser leben könnten? Es wären ökonomische Strukturen in diesem Land zerstört worden. Dann hätten die Kinder viel mehr bezahlen müssen, als sie jetzt an Schulden werden abbauen müssen. Es nützt doch keinem Kind und Enkel etwas, diese Strukturen kaputtgehen zu lassen, die sie dann mühsam mit wahrscheinlich sehr viel Geld wieder aufbauen müssten.

Und warum profitiert die SPD in den Umfragen nicht von den doch ziemlich hohen Zustimmungswerten für die große Koalition? Die 15 Prozent scheinen seit Jahren wie in Stein gemeißelt. Welchen Anteil haben Sie daran?

Darauf gibt es eine ganz einfache Antwort: Bei der letzten Bundestagswahl, bei der ich als Kanzler angetreten bin, hatte die SPD 34,2 Prozent – obwohl es auch bei dieser Wahl bereits um die Agenda ging. Danach war ich weg.

Schröder und Soyeon Kim

Altkanzler Schröder mit Ehefrau Soyeon Kim

Vorher gab es aber erst mal eine unvergessene Elefantenrunde. Hätten Sie da im Rückblick etwas bescheidener auftreten sollen?

Ach, das ist inzwischen eine Kultsendung. Wir wussten, dass wir damals die Nachwahl in Dresden nicht würden gewinnen können und dass das wahrscheinlich das Ende unserer rot-grünen Regierung sein würde. Warum soll man sich nicht so verabschieden, wie das zu einem passt?

Sie haben jetzt einen Podcast mit dem lässig-provokanten Titel “Die Agenda” gestartet. Die Kritik fällt durchaus milde aus. Der Deutschlandfunk fühlt sich an Eckermann bei Goethe erinnert, das ist doch aller Ehren wert. Und die “FAZ” hat geschrieben, der Podcast bewege sich “irgendwo zwischen ‘Opa erzählt vom Krieg’ und einem Bewerbungsgespräch für einen Eintrag ins Poesiealbum von Sigmar Gabriel”. Ist das ein gerechtes Urteil?

Nein. Aber die “FAZ” war mit mir ja noch nie gerecht. Aber das hat mich auch nie gestört. Das ist ja ein ganz netter Spruch, aber wie die darauf kommen, dass Sigmar Gabriel ein Poesiealbum geschrieben hätte, weiß ich auch nicht. Das muss er denen mal vertraulich verraten haben.

In Ihrem Podcast sagen Sie: “Nur wer in den Ländern reüssiert, ist noch lange kein König von Berlin.” Was meinen Sie damit? Und vor allem: Wen?

Ich bin überrascht, dass Sie Namen hören wollen (lacht.) Was die Kanzlerkandidatendebatte in der SPD angeht, habe ich mich festgelegt: Ich finde, diesmal sollte die Partei nicht erst eine Person herausstellen, ob Mann oder Frau, sondern sie sollte von Anfang an sagen: Wir haben ein gutes Team mit fünf Menschen, die ganz unterschiedliche Bereiche abdecken. Ich denke dabei natürlich an Olaf Scholz, gar keine Frage, aber auch an Hubertus Heil und den SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Rolf Mützenich, außerdem an Franziska Giffey und an Manuela Schwesig, wenn sie ihre Krankheit überwunden hat, was ja – Gott sei Dank – der Fall zu sein scheint. Ich würde es begrüßen, wenn die SPD dieses Fünferteam benennen würde. Es ist Sache der Parteivorsitzenden, das zu tun. Ich hoffe, sie tun’s. Und dieses Team müsste sich dann auf eine Spitze einigen.

In der vierten Folge des Podcasts geht es um Ihr Verhältnis zu Russland. Wann hatten Sie zuletzt direkten Kontakt zu Wladimir Putin?

Das ist schon länger her. Ein halbes Jahr, glaube ich.

Sind Sie immer noch Freunde?

Ja, doch, das stimmt. Ich würde das nie dementieren. Wir sind wirklich befreundet und zwar auf einer menschlichen Ebene. Wenn wir zusammen sind, reden wir ganz selten über deutsche Politik. Er ist jemand, der die politische Kleiderordnung einzuhalten weiß. Seine Partnerin in politischen Fragen ist die Kanzlerin.

Beim Thema Schröder und Russland schwillt manchem der Kamm. Würden Sie an Ihrem Engagement heute etwas anders machen, um den Lobbyismusvorwürfen den Wind aus den Segeln zu nehmen?

Warum sollte ich? Schauen Sie mal: Kein Mensch in den Medien dieses wunderbaren Landes wirft jemandem wie Friedrich Merz vor, dass er bei Blackrock aktiv ist. Niemand hat anderen vorgeworfen, dass sie nach ihrer politischen Karriere bei anderen amerikanischen Unternehmen gearbeitet haben. Warum ist das nur bei mir der Fall? Das muss doch ideologische Gründe haben.

Am Engagement von Merz bei Blackrock gab es durchaus auch Kritik.

Aber erst, als er CDU-Vorsitzender werden wollte. Und ihm das vorzuwerfen, halte ich im Übrigen für falsch. Das ist sein gutes Recht. Als ich aufhören musste – ich habe ja nicht freiwillig aufgehört –, war ich 60 Jahre alt. Ich besitze keine Latifundien, auf die ich mich hätte zurückziehen können, und das Altenteil ist nicht meine Sache. Also habe ich wieder angefangen, als Anwalt zu arbeiten. Aber es kann ja keiner von mir verlangen, dass ich Schriftsätze zum Landgericht bringe. Was ist daran zu kritisieren?

Zum Beispiel, dass ein ehemaliger Politiker auf einem Gebiet wie der Energiepolitik, das in seinem direkten politischen Einflussbereich lag, sich nun für russische Konzerninteressen engagiert?

Ich bin Aufsichtsratsvorsitzender von Rosneft. Das ist ein in London gelistetes, internationales Unternehmen, an dem unter anderem die Kataris und BP beteiligt sind. Und die Tatsache, dass ich der Meinung bin, dass wir eine Gasversorgung in Europa brauchen, die nicht so teuer ist, wie sie wäre, wenn das die Amerikaner mit Frackinggas machen, finde ich nicht kritikwürdig.

Esken und Walter-Borjans

Saskia Esken und Norbert Walter-borjans, die, Bundesvorsitzenden der SPD

Wie kritikwürdig finden Sie denn die beiden aktuellen SPD-Vorsitzenden Nobert Walter-Borjans und Saskia Esken? Machen die einen guten Job?

Das kann ich nicht wirklich beurteilen. Ich habe da nichts zu kritisieren. Wenn beide inzwischen ihrer Ursprungsposition abgeschworen haben, man müsse über Nacht die große Koalition beenden – das haben sie ja offenkundig –, dann sollte man diese Lernerfahrung respektieren. Das gleiche gilt für Kevin Kühnert, der das ja auch wollte. Man muss jedem zubilligen, dass er auch Fehler korrigieren können darf.

Zuletzt haben sich beide hervorgetan, als sie in den Beratungen zu den Corona-Hilfsmaßnahmen durchgesetzt haben, dass es für Diesel- und Benzinfahrzeuge anders als für Elektrofahrzeuge keine staatliche Prämie geben wird.

Das halte ich für einen Fehler. Es ist zwar richtig, auf E-Mobilität zu setzen – auch wenn diskussionswürdig bleibt, ob Elektroautos in jedem Fall umweltfreundlicher sind. Ich hätte mir gewünscht, dass man in der jetzigen, sehr schwierigen Situation für die deutsche Automobilindustrie entschieden hätte: Wir fördern nicht nur E-Mobilität, wir fördern auch diejenigen, die sauberere Diesel und Benziner bauen. Die SPD hat sich dazu verleiten lassen, grüner zu sein als die Grünen.

Eine Antriebstechnik, die auf fossile Brennstoffe angewiesen ist, hat es politisch schwer.

Aber auch Batterien müssen ja hergestellt werden, und die Umweltbilanz bei der Batterieherstellung wird häufig gern vergessen. Und eine ökonomische Struktur von dieser Bedeutung in Deutschland – jeder siebte Arbeitsplatz hängt an der Automobilindustrie und den Zulieferern – kann einen solchen Prozess ja nicht über Nacht erledigen. Dafür braucht es eine Übergangszeit. Deswegen finde ich, man hätte sagen müssen: Ja, es ist richtig, einen Schwerpunkt bei der E-Mobilität zu setzen, aber den anderen muss auch geholfen werden. Denn daran hängen auch Existenzen.

Den SPD-Umfrageergebnissen nützt alles nichts. Warum bloß?

In einer solchen Konstellation – kommt das Gute eben oben an. Jetzt bei der Kanzlerin, früher beim Kanzler. Darüber haben sich die Grünen damals auch immer geärgert. Die SPD-Minister machen einen verdammt guten Job. Eine Zeit lang ist das verdeckt worden durch innere Streitereien und die unglückliche Art der Auswahl des Spitzenpersonals. Das war nicht nötig, das in dieser Form und über einen so langen Zeitraum zu machen. Jetzt scheint man in der SPD zu begreifen: Die nächste Wahl muss ordentlich laufen. Man darf nicht vergessen: Es ist ja die CDU, die in einer schwierigen Lage steckt. Eine sehr populäre Kanzlerin tritt nicht wieder an, weil sie das nicht will. Also muss die CDU im Wahlkampf sagen: Wählt uns, damit Frau Merkel gehen kann. Na – ich wünsche bei dieser Art von Wahlkampf viel Erfolg. Wer für CDU und CSU antritt, wird sich wohl zwischen Herrn Laschet und Herrn Söder entscheiden. Ich wage zu bezweifeln, dass sich die CDU für Herrn Söder entscheiden wird. Es wird wohl auf den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten hinauslaufen.

Sie sind aber noch nicht davon überzeugt, dass der nächste Kanzler ein CDU-Kanzler ist?

Ich mag nicht davon überzeugt sein. Sagen wir’s mal so.

Ich würde gern das alte Spiel “Bitte vervollständigen Sie folgenden Satz” mit Ihnen spielen. Los geht’s es: Donald Trump ist ...

… ein schwieriger Mensch. Und sicher völlig ungeeignet für das Amt, das er hat.

Joe Biden gewinnt im November die US-Präsidentschaftswahl, weil ...

Das wage ich zu bezweifeln. Ich fürchte: Das wird er nicht.

Vom Brexit-Schock wird sich Europa erholen, weil ...

Europa wird sich erholen, Großbritannien wohl weniger.

Kevin Kühnert sollte in Zukunft …

… ruhig so bleiben, wie er gegenwärtig ist. Er hat noch viel vor. Und ich glaube inzwischen: Er hat auch noch vieles vor sich.

Die SPD wird wieder Wahlergebnisse über 20 Prozent holen, wenn sie ...

… ökonomische Kompetenz mit sozialer und ökologischer Verantwortung wirklich zusammenbringt.

“Kein Abschied auf der Welt fällt schwerer als der Abschied von der Macht”, hat der französische Staatsmann Talleyrand mal gesagt. Sie sind der einzige noch lebende Ex-Bundeskanzler. Fühlt man sich da automatisch als eine Art Vizebundespräsident?

Nein. Das muss ich wirklich mit ganz großem Respekt sagen: Wir haben ein klasse Paar an der Spitze unseres Landes. Das betrifft den Bundespräsidenten, aber auch seine Ehefrau.

Sie sind jetzt 76 Jahre alt. Sind Sie eigentlich eher altersmilde geworden oder eher grantig?

Ich bin nicht grantig. Eher altersmilde.

Herr Schröder, vielen Dank für dieses Gespräch.