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Lambrecht-NachfolgerBoris Pistorius – der Überraschungs-Minister, der eine Frau sein müsste

Lesezeit 7 Minuten
Boris Pistorius (SPD), bisheriger Innenminister von Niedersachsen und künftiger Bundesverteidigungsminister.

Boris Pistorius (SPD), bisheriger Innenminister von Niedersachsen und künftiger Bundesverteidigungsminister.

Fachlich gibt es wenig Einwände gegen den Niedersachsen. Dass der Kanzler für ihn die Parität opfert, gefällt aber nicht jedem.

Ein bisschen bebt der Mann, der es nun richten soll. Boris Pistorius, noch niedersächsischer Innenminister, 62 Jahre, Jurist, steht in Hannover vor seinem Ministerium. Seit knapp drei Stunden ist da bekannt: Er wird der neue Verteidigungsminister, der Nachfolger von Christine Lambrecht, die am Montag nach etwas mehr als einem Jahr im Amt hingeschmissen hat.

Der Kanzler habe ihn gefragt: „Das mache ich sehr gerne“, sagt Pistorius, spricht von Demut und Respekt und von einer gewaltigen Aufgabe. Und er beantwortet gerne auch ein paar Fragen, die nach seiner Bundeswehr-Erfahrung zum Beispiel: Als Innenminister habe er auch Kontakt zur Truppe gehalten, sagt Pistorius. Er sei bei Gelöbnissen gewesen und regelmäßig auf Bundeswehr-Standorten. Er klingt dabei tatsächlich begeistert und ein wenig ergriffen.

Pistorius' Aufstieg überrascht ihn selbst

Dieser Aufstieg ist eine Überraschung, auch für ihn selbst. Pistorius hat sich schon mal als SPD-Vorsitzender beworben, er war als potenzieller Ersatz-Bundesinnenminister gehandelt worden, aber eben nicht für das Wehrressort. Er sei am Montag gefragt worden und habe nicht lange überlegen müssen, erzählt Pistorius.

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Das heißt auch: So richtig vorbereitet war der Kanzler offenbar nicht. Obwohl es seit Freitag Berichte über einen Rücktritt gab. Lambrecht habe Olaf Scholz sogar schon am 3. Januar ihren Rücktrittswunsch übermittelt, berichtet der Spiegel. Es gibt Hinweise, dass Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt und Arbeitsminister Hubertus Heil intern im Spiel waren. Offenbar haben beide abgewunken. Heil ist gerne Sozialminister und hat kaum Berührungspunkte zur Bundeswehr. Und eigentlich braucht Scholz seinen langjährigen engen Vertrauten Schmidt an seiner Seite.

SPD-Chef Lars Klingbeil in ein Problem-Ministerium zu setzen, hätte dessen Handlungsfähigkeit in der Partei eingeschränkt. Und wer hat schon Lust auf das Ressort, das zwar über einen hohen Etat verfügt, dessen Minister aber häufiger zurücktreten müssen als alle anderen.

Scholz hatte paritätische Kabinettsbesetzung zugesichert

Noch ein Niedersachse also, wie Heil und Klingbeil. Und diesmal keine Frau, obwohl Scholz zu Amtsbeginn die paritätische Besetzung des Kabinetts zugesichert hatte. Ob der Kanzler die Wehrbeauftragte Eva Högl, die die CSU ihm ans Herz gelegt hat, überhaupt gefragt hat, ist offen.

Wenn man Scholz zuhört, ist Pistorius allerdings die naheliegendste, die beste Besetzung überhaupt, eine eigentlich, um die man gar nicht herumkommt. Äußerst erfahren, verwaltungserprobt, kompetent, durchsetzungsfähig – das sind die Vokabeln, mit den ihn Scholz am Vormittag in einer schriftlichen Erklärung bedenkt. Ein „großes Herz“ habe Pistorius auch noch, schreibt Scholz außerdem in seltener Emotionalität.

Als er am frühen Nachmittag in Brandenburg/Havel vor die Mikrofone tritt, ist ihm noch etwas eingefallen: Der künftige Minister besitze „Kraft und Ruhe“, die er ja brauche für die schwierige Arbeit, die vor ihm liege. Er sei „überzeugt, dass das jemand ist, der mit der Truppe kann und den die Soldaten mögen werden“.

Der Kontakt zur Truppe, das ist eines der Dinge, die Lambrecht offenbar nicht so richtig hinbekommen hat. So viele warme Worte. Nur etwas scheint schiefgegangen. Scholz verspätet sich mit seinem Auftritt. Statt vor Pistorius tritt er ein paar Sekunden nach diesem vor die Presse. Die Live-TV-Kameras müssen sich entscheiden. Es ist ein Absprachefehler, diesmal ein offensichtlicher. Scholz wird darüber hinweggehen. Eine schriftliche Erklärung, ein paar Sätze nach – unspektakulärer geht es kaum bei einem Wechsel in einem Kernressort. Aber das ist auch eine Botschaft eines Kanzlers, der wenig hält von Drama. Auch Rücktritte gehören zum normalen Politikgeschäft, ist seine Botschaft. Keine Aufregung. Nächste Akte, bitte.

Für Pistorius geht es jetzt Schlag auf Schlag

Für Pistorius wird es mehrere nächste Akten geben. Am Donnerstag soll er ernannt und im Bundestag vereidigt werden. Gleich im Anschluss trifft er seinen US-Amtskollegen Lloyd Austin. Am Freitag gibt es eine internationale Verteidigungsministerkonferenz in Ramstein. Und dann sind da noch die Auslandseinsätze der Bundeswehr samt der geplanten neuen Sicherheitsstrategie der Regierung. Das Beschaffungsamt müsste dringend reformiert werden, es fehlt an allen Ecken und Enden an Material und Waffen, zumindest an funktionsfähigen. Und die Bundeswehr ist nicht nur ein robuster Haufen, sondern will schon auch ein bisschen gehegt und gelobt werden.

Ministerinnen wie Ursula von der Leyen, die einen sehr robusten Ton wählten, haben schnell ihren Rückhalt verloren. Von Weggefährten wird Pistorius als „umgänglich, kommunikativ, klar und führungsstark“ beschrieben. Das Robuste allerdings ist ihm auch nicht fremd. Er kann schroff werden, wenn sein Gegenüber ihm offen widerspricht. Pistorius ist dann anzusehen, dass er sich schwer beherrschen muss.

Mit Krisen hat Pistorius immerhin Erfahrung. Der einstige Osnabrücker Oberbürgermeister, der vor dem Jurastudium Groß- und Außenhandelskaufmann lernte und ein paar Jahre mit Gerhard Schröders Ex-Frau Doris Schröder-Köpf liiert war, hat eine ungewöhnlich lange Amtszeit als Innenminister hinter sich – fast zehn Jahre. Waldbrände und Hochwasser gab es da zu bewältigen. Die ganze Welt blickte auf Hannover, als im November 2015 wenige Tage nach den Terroranschlägen von Paris das Fußball-Länderspiel gegen die Niederlande in Hannover unter Terrorwarnung abgesagt wurde. Bundesinnenminister Thomas de Maizière machte neben Pistorius eine eher hilflose Figur.

Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern
Boris Pistorius über den Hintergrund der Absage des Fußball-Länderspiels

Unvergessen bleibt der Satz, „ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“, mit dem der CDU-Politiker auf einer Pressekonferenz nähere Auskunft zum Hintergrund der Spielabsage verweigerte.

Größere und kleinere Skandale kennzeichnen Pistorius' Karriere als Innenminister, keine wurde ihm jedoch je wirklich gefährlich: Vertrauensleute von Polizei und Verfassungsschutz, die durch Schlamperei enttarnt und Akten, die gestohlen wurden, Waffen, deren Verbleib bis heute ungeklärt ist. Verfassungsschutzpräsidentin Maren Brandenburger musste 2018 gehen, einige Polizeipräsidenten hat Pistorius ausgetauscht.

Nach dem Anschlag einer salafistischen Jugendlichen auf einen Polizisten in Hannovers Hauptbahnhof musste Pistorius einen Untersuchungsausschuss im Landtag überstehen. Der Angriff gilt als der erste islamistische Anschlag in Deutschland, die Opposition kritisierte seine Polizeistrategie, doch Pistorius hielt sich im Amt. Wenn er von großen „Krisen, Lagen und Veränderungen“ spricht, die er meistern musste, meint Pistorius etwas anderes: Die Corona-Pandemie, die eine große Herausforderung für die Sicherheitsbehörden war, das Jahr 2015, als Hunderttausende Geflüchtete nach Deutschland und Niedersachsen kamen.

Pistorius hat Wehrdienst geleistet, vielleicht ein Pluspunkt in der Truppe

Pistorius zählt zu den Pragmatikern, er ist im klassischen Rechts-Links-Schema der SPD schwer zu verorten, gilt aber als konservativer Innenpolitiker und ist ein scharfer Debattenredner. Gerne wäre er Diplomat geworden, hat er einmal verraten. Pistorius spricht mehrere Sprachen, darunter Englisch, Französisch und auch Russisch. Das kann hilfreich sein als Minister. Dass er Wehrdienst geleistet hat, werden manche in der Truppe als Pluspunkt verbuchen.

B-Besetzung, ätzt nun die Union, aber das gehört irgendwie auch zu ihrer Aufgabenbeschreibung als Oppositionspartei. AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann beschwert sich über Pistorius harte Linie gegenüber seiner Partei. Eklig, schmutzig, undemokratisch, sei dieser Mann. In der Koalition sind sie dagegen einigermaßen zufrieden. FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann hebt Pistorius' kaufmännische Ausbildung hervor: Es helfe im Wehrressort, ‚wenn man eins und eins zusammenzählen kann‘. Nur eines könnte besser sein, finden die Grünen: Pistorius müsse eine Frau sein.

Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge lobte zwar Erfahrung und Kompetenz des künftigen Ministers, bemerkt aber gleichwohl spitz: „Es gibt genug Frauen, die auch Verteidigungsministerin sein können.“ Grünen-Frauenpolitikerin Ulle Schauws wird schärfer. Scholz habe sich der Parität verpflichtet. Es sei „mehr als enttäuschend, wenn der Kanzler bei der ersten Hürde dieses Ziel über Bord wirft“, sagte sie dem RND.

Die Frauenpolitikerinnen der SPD sind da weniger streng: „In Zeiten, in denen wir Krieg in Europa haben, ist eine schnelle Besetzung der Spitze des Verteidigungsministeriums wichtig. Boris Pistorius ist eine gute Wahl. Da ist es im Moment, aber nicht grundsätzlich, zweitrangig, wenn die Parität im Kabinett nicht ganz eingehalten wird“, sagt die frauenpolitische Sprecherin der Fraktion, Leni Breymaier, dem RND.

Seit Montag liest Pistorius nur noch Fachliteratur

Noch in Hannover, aber schon vor seinem bisherigen Ministerium, betont Pistorius, dass er die Soldatinnen und Soldaten mitnehmen wolle. Er werde sich „vom ersten Tag an mit 150 Prozent in diese Aufgabe hereinstürzen“. Seit Montag lese er „nichts anderes mehr“ als militärische Fachliteratur.

Das wird nötig sein: Auf der Verteidigungsministerkonferenz auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein über weitere Militärhilfe für die Ukraine entschieden. Auch die Lieferung von Kampfpanzern wird diskutiert – das wäre eine neue Dimension. Und eine, die in Pistorius Partei, der SPD, bislang eher schwer durchzusetzen war.